Fangen wir mit dem vorläufigen Ende an: Der Grand Pas de deux des Hochzeitspaares krönt traditionell das Märchenballett „Dornröschen“ zu den Klängen von Peter I. Tschaikowsky (der übrigens davon überzeugt war, dass dieses Stück seine beste Ballettmusik sei), auch in der Version von Marcia Haydée beim Stuttgarter Ballett. Dieser famose Paartanz mit hochgestylten Soli-Einlagen ist ein Sinnbild und ein tänzerisches Loblied auf die Kraft der erotischen Liebe, auf die innige Partnerschaft als Lebensprinzip. Verlässlichkeit, Vertrauen, Vornehmheit: Friedemann Vogel als Prinz Desiré entzückt nicht nur seine Partnerin an diesem 3. Januar 2020, die souverän-süße Hyo-Jung Kang. Alle Welt ist hingerissen von diesem Paar, aber die Standing ovations nach dreieinhalb Stunden Vorstellung sind nicht nur diesem elegant anrührenden Pärchen zu verdanken. Dutzende Soloparts sowie das Corps de ballet, aber auch die Kinder von der John Cranko Schule und natürlich das Staatsorchester Stuttgart unter Wolfgang Heinz sorgen für ein Feuerwerk aus so virtuosen wie liebenswerten Darbietungen. Einzige Ausnahme: Jason Reilly als böse Fee Carabosse. Er gibt die Rolle mit soviel existenziell-dämonischem Charme, dass das Wort „liebenswert“ nur noch nach der kleinen Schwester von „nett“ klingt. Aber ach, es ist doch gut, dass das Gute, dass die Liebe obsiegt… vorläufig jedenfalls.
Hyo-Jung Kang ist als Titelfigur eine Erbauung. Sie ist niedlich, aber nicht zuckrig übersüß. Ihr Aplomb ist sprichwörtlich, ihre eleganten Glissades sind so leicht wie eine Blume im Sommerwind, und ihre Spagatsprünge scheinen direkt von den Engeln zu kommen. Was für ein Mädchen!
Kein Wunder, dass ihr Prinz Desiré – vorzüglich und mit allem Können des weltberühmten Stars von Friedemann Vogel getanzt, gewalzert, gesprungen, gespielt – ganz närrisch nach ihr ist. Und, um sie zu erringen, sein Leben riskiert.
Dabei lernte er sie im Traum kennen, in einer Vision, die ihm die Fliederfee ermöglichte, welche wiederum von Miriam Kacerova anmutig und endlich vollauf glaubhaft als Mittlerin zwischen den Welten getänzelt und getrippelt wird (nachdem sie zwei Vorstellungen scheins nur mit halber Kraft tanzte).
Die Fliederfee hat allerdings eine Rivalin, die ihr am liebsten alle Seelen abspenstig und ins Unglück stürzen möchte: Carabosse, die dunkle Frau mit der finsteren Seele.
Jason Reilly ist bereits eine wandelnde Legende in dieser Partie, im schwarz-silbernen Look einer Drag spielt er ganz realistisch die böse femme fatale, die gierig nach Macht und dem Leiden der anderen ist.
Ansonsten aber tobt und wirbelt hier das pralle Leben auf der Bühne, schließlich sieht das Libretto auch ein Fest nach dem anderen vor.
So pastös, doch bunt und vital die Kostüme und Kulissen von Jürgen Rose dafür anmuten, so spritzig und knackig ist die Choreografie, die Marcia Haydée, die Grande Dame des Stuttgarter Balletts, 1987 in ihrer dortigen Direktionszeit – unter Einbeziehung der Originalchoreografie von Marius Petipa von 1890 – schuf.
Ihr ehemaliger Lebensgefährte, der Megaballerino und Charaktervirtuose Richard Cragun, erhielt darin die Travestiepartie der bösen Fee, und anders als in anderen „Dornröschen“-Fassungen unterliegt diese rabenschwarze Carabosse nicht den lauteren, hellen Zauberkünsten der positiven Welten.
Im Gegenteil: Ganz am Ende hat sie noch einen bedenkenswerten Auftritt, und so wunderschön auch die Hochzeitsfeierlichkeiten für die Tänzer und das Publikum sind, so drastisch verkehrt sich dann die Moral der Geschichte. Denn Carabosse, das wird klar, lauert nur auf die nächste Gelegenheit…
Wie zu Beginn der „Dornröschen“-Geschichte nach dem französischen Dichter Charles Perrault wird Prinzessin Aurora nach langer Wartezeit einem liebenden Königspaar geboren. Aber anlässlich ihrer Taufe widerfährt dem Wiegenkind ein schreckliches Schicksal: Die beleidigte böse Fee Carabosse, die ohne Einladung zur Feier kommt, stößt einen Fluch aus, und demnach muss das zarte Mädchen sterben, ohne das Erwachsenenalter zu erreichen.
Glück im Unglück bringt die Gegenspielerin von Carabosse, die gute Fee in Lila, die Fliederfee. Sie wandelt den Fluch zum Tode in einen zum hundertjährigen Schlaf, wenn das Mädchen 16 Jahre alt sein wird.
Sweet sixteen… Die niedliche Aurora darf ihren 16. Geburtstag mit einem großen Fest begehen, und weil im Märchen früh geheiratet wird, sind vier absolut gut aussehende Prinzen angereist, um sie zu freien.
Das Rosenadagio absolvieren die fünf – vier Jungs und die liebliche Aurora – mit repräsentativer, angemessener Würde: nacheinander dürfen die Herren die junge Dame auf dem Platz im Kreis drehen, während sie sich in ihrer Arabeske so wohl zu fühlen scheint, als wäre es ein Kinderspiel, sich solchermaßen auf den eigenen Zehenspitzen drehen zu lassen.
Zum Beweis steht Aurora jeweils im Anschluss an diese Drehung noch ganz ohne haltende Hand in ihrer „Lieblingspose“ – und streckt sich dann glücklich voran, beseelt und zuversichtlich.
Doch bevor sie ihre Wahl treffen und womöglich doch einen der jungen Freier erhören kann, fällt sie in den bekannten 100-jährigen Schlaf.
Wie gut, dass die Fliederfee selbst dafür sorgt, dass ihre Prophezeiung, die Wandlung des Fluchs, wahr wird… und so stirbt Aurora nicht, sondern wird vom Kuss des Traumprinzen geweckt. Was für ein gefühlvoller Moment!
Damit wird es aber auch schon Zeit fürs nächste Fest, nach Taufe und Geburtstag wird zügig die Hochzeit anberaumt.
Und es ist ein Augenschmaus, der zugleich die Weltenordnung in diesem puppigen Universum aus Tuschmusik und Trompetenheil, aus Brokatglanz und Rosenblüten verdeutlicht.
Wer da nicht alles auftanzt!
Eine komplette Märchengesellschaft ist herangehüpft und herbeigelaufen, um nun höchst graziös ein Arsenal an putzmunteren, bekannten Märchen vorzustellen.
Der Froschkönig ist dabei und Aschenputtel ist es, Hänsel und Gretel machen sogar den Anfang, um dann Figuren wie Scheherazade, Ritter Blaubart, die Prinzessin auf der Erbse und Schneewittchen mit den sieben Zwergen Platz zu machen.
Als Ali Baba brilliert Ciro Ernesto Mansilla, als Rubin die Ballerina Ami Morita und als Saphir (in klassischem Blau) Rocio Aleman. Diese junge Mexikanerin, die auch schon mit großem Erfolg die „Fliederfee“ tanzte, wird zudem das nächste neue Stuttgarter „Dornröschen“ sein, für den 18. Januar 2020 ist ihr Debüt in der Titelrolle angesagt. Nach den sehr mitreißenden Besetzungen mit Elisa Badenes, Anna Osadcenko und eben Hyo-Jung Kang wird die Messlatte recht hoch hängen.
Aber man ist es beim Stuttgarter Ballett gewohnt, höchste Maßstäbe anzulegen und dennoch nicht enttäuscht zu werden, soweit es die großen Partien in den Klassikern und Cranko-Stücken sowie in den modernen Hochkarätern angeht.
Aber nach dem Auftritt des gestiefelten Katers und seines Kätzchens gibt es dennoch eine Überraschung, einen unerhört begeisternden, unerwarteten Moment:
Christian Pforr ist als blitzschnell battierender, schräg in die Luft springender, regelrecht fliegender blauer Vogel derart berückend, dass man das Gefühl hat, der Geburt eines großen Stars beizuwohnen. Pforr stammt aus den USA, aber seine Mutter ist russischer Abstammung. Er wurde in New York, in Hamburg bei John Neumeier und in Boston ausgebildet.
Hui! Seit 2018 tanzt Pforr in Stuttgart im Corps de ballet, und natürlich ist es theoretisch möglich, dass er mit dem blauen Vogel auch schon den besten Auftritt seiner Karriere hat. Aber ebenso ist es möglich, dass hier ein Supertalent heranwächst, bei dem man es kaum erwarten kann, ihn in tragenden Rollen etwa von Cranko oder Neumeier zu sehen.
Da nun gerade in Stuttgart – aber nicht nur dort – an talentiertem Nachwuchs kein Mangel herrscht, wird man sich wohl noch einige Zeit gedulden müssen. Aber der Bogen ist gespannt – und der Pfeil wird wohl weit, weit fliegen!
Als Prinzessin Florine reüssiert adrett und zierlich Agnes Su an Pforrs Seite, ohne allerdings an seine Aura des jugendlichen Virtuosen heranzukommen.
Ein weiteres Highlight besorgt allerdings Diana Ionescu als Rotkäppchen, und sollte jemand glauben, so eine Nummer sei eine kindische Angelegenheit, dem wird wärmstens empfohlen, sich das „Dornröschen“ von Marcia Haydée anzusehen.
Entweder in Stuttgart, wo es sozusagen geboren wurde – oder ab Oktober 2020 beim Staatsballett Berlin, wo Marcia bereits Besetzungen getätigt und einige Proben geleitet hat.
Echte Kenner bevorzugen es allerdings, beide Ballettcompagnien mit dem Glanzstück zu erleben, und warum eigentlich nicht auch in möglichst vielen verschiedenen Interpretationen?!
Vorerst aber schwebt Dornröschens Traumflitter noch über Stuttgart, und bei all den glamourösen Alt- und Neubesetzungen gewinnt man den Eindruck, dass so ein Märchen mit seinen knalligen Figuren und prägnanten Handlungsvorgängen der bestmögliche Weg ist, um die Geschicke der Welt auf die Bühne zu bringen. Mit Feenhand sozusagen…
Boris Medvedski / Gisela Sonnenburg