Wenn der Vorhang aufgeht, stehen sie da, in voller Schönheit, mit Stolz und Freude in den Gesichtern – und jenem Funkeln in den Augen, das nur Tänzerinnen und Tänzer haben. Es ist die Lust zu tanzen, die sich da spiegelt! Beim Staatsballett Berlin beginnt der dreiteilige Abend „Balanchine / Forsythe / Siegal“ mit dem festlichen Neoklassiker „Theme and Variations“ von George Balanchine in der Staatsoper Unter den Linen, und am gestrigen Sonntagnachmittag debütierte darin Startänzer Dinu Tamazlacaru, mit Ksenia Ovsyanick an seiner Seite als Hauptpaar. Spritzig und dennoch mit Noblesse, freundlich, aber auch mit höchster Majestät interpretiert Tamazlacaru diesen unausgesprochenen Prinzenpart. Allerdings ist er weltweit seit Jahren mit Iana Salenko als maßgeschneidertes Bühnenpaar auf Galas zu sehen – nur in Berlinnicht mehr, wo Salenko neuerdings anscheinend für Daniil Simkin reserviert wird, mit dem sie auch dieses Balanchine-Stück tanzt. Dabei würde man Simkin gern mal mit einer größeren Ballerina sehen! Die immer etwas kühle Ksenia Ovsyanick würde ganz hervorragend zu seinem brillanzbetonten Stil passen. Aber auch beim Stuttgarter Ballett locken Debüts in die Vorstellungen, wie mit Ciro Ernesto Mansilla als Carabosse in „Dornröschen“: ein ganz junger Mann also tanzt jene böse Fee, die in der Version von Marcia Haydée so viele Fäden in der Hand hat.
Doch zuerst blicken wir nach Berlin.
Der Wahl-New-Yorker George Balanchine hatte eine klare Vision vor Augen, als er nach dem letzten Satz der Suite für Orchester Nr. 3 in G-Dur op. 55 von Peter I. Tschaikowsky sein erhebend-erhabenes Kurzballett „Theme and Variations“ schuf. Er tat es, wie er es in eigenen Worten sagte, „um die große Ära des klassischen Tanzes zu erwecken, als das russische Ballett durch Tschaikowskys Musik erblühte.“
Das Stück ist also eine Hommage an jene Zeit, als der klassische Tanz im Stil von Marius Petipa mit der temperamentvoll-sehnsüchtigen Spätromantik eine neue Verbindung einging.
Aber natürlich will Balanchine viel mehr als nur vordergründig an diese Epoche erinnern.
Er beschwört in seiner Choreografie den Geist jener Kunst, die damals über der Gesellschaft stand und die dennoch auf die Gesellschaft Bezug nahm und sie indirekt beeinflusste.
Für Balanchine, der als Zögling der heutigen Waganowa-Ballettakademie in Sankt Petersburg noch den Odem der Blütezeit der Petipa‘schen russischen Klassik erhaschen konnte, ging es stets um die Essenz des Tanzes.
In New York half ihm seine Ausbildung in Russland, eine eigene „Marke“ im Ballett zu prägen. Balanchines starke Stilistik wäre nicht denkbar ohne sein im Grunde russisches Verständnis des klassischen Trainings.
In „Theme and Variations“ – der Titel bezieht sich vor allem auf die Musik, die in schnellen wie auch elegischen Passagen mit melodiös verbundenen Akkorden spielt – zeigt sich die Virtuosität als nachgerade natürlicher Bestandteil des Balletts.
Das ballettöse Thema ist das Miteinander von Mann und Frau – und Dinu Tamazlacaru und Ksenia Ovsyanick sind bereits ein geübtes Bühnenpaar, das auch hier den tänzerischen Flirt mit Vergnügen praktiziert.
Exakt synchron bis ins letzte Detail, schwerelos und virtuos tanzen sie die mal verblüffend einfach erscheinenden, dann wieder offenkundig komplizierten Schrittkombinationen.
Tamazlacaru besticht dabei mit eleganten Ports de bras, mit hohen, schön getimeten Sprüngen, feinen Pirouetten und exakten Drehhebungen. Vor allem aber liebt man bei ihm den Ausdruck, den er auch dieser Figur verleiht: markant und leidenschaftlich, nie egoman, aber immer mit allen Sinnen präsent.
Allein die Blicke, die Dinu Tamazlacaru auf seine Partnerin, auf seine Mittänzer und ins Publikum wirft, erzählen schon Bände von der Kunst des Tanzens, mit Herz und Wachheit.
So ein Prinz wird ja nicht durch sein glitzerndes Kostüm zum Adligen, sondern durch seine Haltung, sein Augenspiel, sein Lächeln – und durch seine vornehme Linienführung, die ihn in jedem Bruchteil einer Sekunde und aus jeder Perspektive körperlich bildschön erscheinen lässt.
Geschmeidigkeit ist dabei der Faktor, der alles miteinander verbindet, und es ist keine nur smarte Art, sondern ein viriles Gefühl, ein Lebensgefühl, das sich damit auch vermittelt.
Ksenia Ovsyanick wiederum ist eine vor allem elegante Ballerina, sie hat allerdings eine etwas unterkühlte Ausstrahlung und neigt dazu, zu wenig auf ihren Partner zu achten. Aplomb und Grazie bilden ihre zweite Natur, und ihre Attitüden sind von großer, stolzer Schönheit. Aber wenn sie immer nur ins Publikum oder an ihrem Galan vorbeisieht, wirkt sie weniger professionell, als sie es sollte.
Ihre Chainés sur la pointe sind dennoch eine Augenweide, zumal Ovsyanick sie blitzschnell und sauber, ja fließend und wie geölt präsentiert.
Doch es ist seltsam, dass die Ballettintendanten Johannes Öhman und Sasha Waltz ein seit vielen Jahren von Berlin aus gemeinsam bekannt gewordenes Bühnenpaar, nämlich Dinu Tamazlacaru und Iana Salenko, auseinanderreißen. Und das, obwohl sich die beiden in Berlin wie in der internationalen Ballettwelt in vielen Auftritten als überragend poetisch-berückendes Team bewährt haben. Es gibt kein Ballett der Klassik, der Romantik, der klassischen Moderne, das die zwei nicht mit exquisitem Flair zusammen tanzen können.
Aber mittlerweile sieht man sie in Berlin gar nicht mehr zusammen besetzt.
Was soll das?
Seit Salenko aus der Babypause zurück ist, wartet die Fangemeinde auf die früher übliche Besetzung von Iana Salenko mit Dinu Tamazlacaru. Bisher wurde diese Erwartung von der Ballettintendanz nicht erfüllt. Künstlerische Gründe dafür gibt es nicht. Irgendwie grenzt es an Mobbing, ein erwiesenes Weltklassepaar solchermaßen dauerhaft zu separieren.
Nun hofft man auf die „Schwanensee“-Vorstellungen ab dem 14. März 2020, denn es wäre eine wunderbare Sensation, hier Salenko und Tamazlacaru endlich wieder vereint zu sehen.
Oder muss man dafür wirklich zu Gala-Auftritten in andere Städte reisen?
Natürlich darf es auf der Ballettbühne auch Partnerwechsel geben. Man sieht das gern als Abwechslung. Aber generell sollte man ein derart gut zusammen passendes Bühnenpaar auch gemeinsam zeigen lassen, was es kann.
Tamazlacaru nun immer nur mit Ksenia Ovsyanick zu „paaren“, zeugt indes von wenig Fantasie bei der Intendanz.
Außer ihnen sind es in „Theme and Variations“ dreizehn weitere Paare aus Solisten und Corps de ballet, die mit dem Schmelz der Klassik, aber auch der typischen Raffinesse von Balanchines Stil auftanzen.
Besonders die Damen des Pas de quatre erfreuen, auch in dieser Besetzung: mit Iana Balova, Yuria Isaka, Cécile Kaltenbach und Yuka Matsumoto.
Sie tanzen und atmen gemeinsam, bilden eine verschworene Gemeinschaft, verlieren aber nie die Contenance oder Selbständigkeit. Prima!
Und auch der Pas de cinq der Herren mit Olaf Kollmannsperger, Nikolay Korypaev, Konstantin Lorenz und Murilo de Oliveira, den Dinu Tamazlacaru mit megaschönen Sprüngen anführt, berückt: mit Akkuratesse und weit ausholenden Seitwärtsbewegungen.
Balanchine – respektvoll, aber auch mit etwas Schalk in New York intern Mister B genannt –war ja ein Meister der Raumbeherrschung, und das zeigt sich hier im Großen wie im Kleinen.
Die Formationen der insgesamt 26 Tänzerinnen und Tänzer bilden geometrische Harmonien, und organisch gehen sie ineinander über.
So kommt es zur finalen Polonaise, die hier so feierlich und doch frohgemut ist, dass man meinen könnte, sie sei extra für diese Tage kurz nach dem Jahreswechsel eingerichtet worden. Aber natürlich tanzen die Staatsballett-Berliner sie immer so gelungen.
Die wunderhübschen Kostüme von Elsie Lindström sind dazu in einem romantisch-modern anmutenden Blau gehalten, mit Farbverläufen und in feiner Abstimmung zur Hintergrundkulisse und dem Licht von Perry Silvey (das Georgi Krüger umsetzte). Ein rundum passendes Ambiente!
Zu tadeln ist allerdings, dass das Dirigat an Ido Arad ging, der erstens mit Ballett kaum etwas zu tun hat und zweitens einen Komponisten wie Tschaikowsky offenkundig nicht begreift.
Fakt ist: Ich habe Tschaikowsky noch nie so schlecht dirigiert gehört.
Zu Beginn hat man sogar den Eindruck, etwas von Strawinsky zu hören, vielleicht eine bislang verborgene Etüde für „Petruschka“, denn es schrammelt und geht durcheinander, als solle demonstrative Jahrmarktsmusik gespielt werden.
Faktisch kann Arad sich wohl nicht entscheiden, wo er die Akzente setzen sollte, und das Ergebnis ist dann entsprechend chaotisch. Man muss bei Tschaikowsky schon zwischen Hauptphrasierung und Begleitakkorden unterscheiden können.
Nun ist die Staatskapelle Berlin ein ganz hervorragendes Orchester und für diese merkwürdige Nicht-Interpretation nicht verantwortlich. Aber wenn zeitweise die betörende Melodie der Querflöte in den als Begleitung gedachten anderen Klanggruppen regelrecht untergeht, dann fragt man sich doch, ob der Dirigent die Partitur überhaupt genügend kennt.
Immerhin hat er den Rhythmus des Stücks nicht verzerrt, was vor allem für die Tänzer wichtig ist. Aber das Melodische trug hier nur in der Stückmitte, während des großen Pas de deux, der in kleiner Instrumentierung und von einer eleganten Solo-Violine gespielt wird.
Da funktionierte die Staatskapelle wie ein Kammerorchester, praktisch ohne Orchesterleitung – und das war in dieser Vorstellung besser als mit Dirigent, der vor allem für Wirrungen sorgte.
In der Berliner Premiere des Stücks im Mai 2019 sowie auch in noch kommenden Vorstellungen dirigiert zum Glück der Meistermusiker Paul Connelly die Tschaikowsky-Klänge: mit großer Hingabe und mit viel mehr Kompetenz als nur Taktgefühl.
Wenden wir uns nach Südwesten…
Beim Stuttgarter Ballett hat man, zumal wenn der dortige versierte Musikdirektor James Tuggle dirigiert, diesbezüglich viel Freude. Auch die Musik zu „Dornröschen“ stammt von Peter I. Tschaikowsky, und Tuggle hat zwar nicht den außergewöhnlichen Märchen-Sound von Dirigent Robert Reimer zu bieten, den dieser dem Ballettpublikum in Berlin und München angedeihen lässt, aber Tuggle vermag es durchaus, die komplexe Tschaikowsky-Welt in voller Brillanz und Tiefenschärfe zu präsentieren.
Die wechselnden Stuttgarter Besetzungen der Haupt- und Nebenrollen in Marcia Haydées Version von „Dornröschen“ zeigen zudem, wieviele Möglichkeiten es gibt, das Märchen lebendig zu erhalten.
Elisa Badenes mit Friedemann Vogel, Hyo-Jung Kang mit Friedemann Vogel und Anna Osadcenko mit David Moore bildeten bereits magische Paare, wahre Prinzessinnen und Prinzen, und Adhonay Soares da Silva, der erkrankt ist und darum derzeit kein weiterer Prinz Desiré sein kann, wäre vermutlich ebenfalls ein glaubhafter, tapferer und virtuoser Kämpfer fürs eigene Glück.
Das ist ja, wenn man so will, der Nachteil an diesen Märchenadligen: Sie glauben nur an die eigene Zukunft, bestenfalls noch an die ihrer Familie oder ihrer großen Liebe. Aber fürs Gemeinwohl sind Prinzen und Prinzessinnen im Ballett nur selten zuständig – schade eigentlich, zumal sie den leibhaftig Regierenden ja durchaus auch Vorbild sein könnten.
Umso interessanter sind die bösen Gegenfiguren gestaltet, die abschreckende Negativbeispiele darstellen und darüber hinaus mit dämonischem Charme beste Unterhaltung bieten.
Gestern abend reüssierte mit Ciro Ernesto Mansilla einer der vielseitigsten Tänzer in Stuttgart im Debüt in der Partie der Carabosse, der bösen Fee. Und verlieh ihr mit Rasanz und Koketterie eine ganz neuartige Position.
Mansilla tanzt diese Partie nämlich nicht wie eine typische Travestie-Rolle, sondern mit der arroganten Haltung einer Salondame. Diese Carabosse flirtet und genießt die Blicke, die auf ihr ruhen, sie fühlt sich als schöne Frau, als anbetungswürdige Domina, die mit sexy Fingernägeln und eleganten Beinwürfen zu gefallen weiß.
Mit ihrer animalischen Entourage spielt sie wie eine Diva mit ihren Kätzchen.
Die hohen Sprünge mit leiser Landung sind dazu nur das hexenartige Beiwerk.
Dass Carabosse – im Gegensatz zu den guten Feen – nicht zur Taufe von Aurora eingeladen wurde, stachelt sie diesbezüglich nachgerade an; Beleidigtsein ist ihr immer ein guter Grund für eine furiose Gemeinheit.
Und so schaukelt sich das Märchen von der zu hundertjährigem Schlaf verfluchten Prinzessin zu einem Machtspiel zwischen zwei Feen hoch. Zwei Prinzipien regieren: die Sanftheit und Vitalität der guten Fee gegen das Dämonische und Dekadente der bösen.
Die Gegenspielerin des Bösen, die Fliederfee, ist mit Ami Morita aber auch ausgezeichnet besetzt. Zart, filigran, dennoch stark und klug erscheint sie als die das Paar verkuppelnde gute Fee, der Marcia Haydée ohnehin den Beinamen „Weisheit“ verlieh.
Kein Wunder, dass man dann das Hochzeitsfest mit dem Extra-Auftritt von Carabosse am Ende besonders genießt!
In der kommenden Saison, im Oktober 2020, wird dieses bombastisch vergnügliche, aber auch hintergründige „Dornröschen“ von Haydée auch beim Staatsballett Berlin premieren. Und obwohl man hier die vornehm-liebliche Version von Nacho Duato noch in sehr guter Erinnerung (und auch als handelsübliche DVD griffbereit) hat, so ist man schier maßlos neugierig auf dieses Fest aller Feste.
Die Wunschbesetzung steht schon fest: Iana Salenko mit Dinu Tamazlacaru – und als Carabosse fällt einem natürlich wieder Rishat Yulbarisov ein, der in Duatos Version wahre Triumphe als klassische Drag-Figur gefeiert hat und derzeit als Gast mit dem Staatsballett Berlin auftritt.
Ob es Gastauftritte von Stuttgarter Größen in Berlin geben wird, bleibt abzuwarten.
Aber der als Carabosse bewährte Jason Reilly, alternierend mit Ciro Ernesto Mansilla, könnten mit ihren Carabosse-Interpretationen ganz sicher auch einer Aufführung beim Staatsballett Berlin einen besonderen Geschmack verleihen.
Das ist, was klassisches, neoklassisches und klassisch-modernes Ballett so großartig macht:
Rollengestaltung im Verein mit raffinierter Technik; Ausdrucksstärke bei makelloser Geschmeidigkeit; die Übermittlung von menschlichen Gedanken bei virtuos ausgeprägter Körperlichkeit.
Gisela Sonnenburg / Boris Medvedski