Richtig tolle Ballette kann man bekanntlich nicht oft genug ansehen. Man entdeckt immer wieder etwas Neues daran, zumal, wenn die Besetzungen sich ändern. Das Stuttgarter Ballett und somit sein Intendant Tamas Detrich punkten diese Saison mit einer Neubesetzung der „Kameliendame“ von John Neumeier, die es so noch nie gab und die einen wirklich umwerfenden Schmelz hat. Das Flair des neuen Paares, das aus der reifen Miriam Kacerova in der Titelpartie und aus dem blutjungen Martí Fernández Paixà als ihrem Geliebten Armand besteht, bricht mit allen Konventionen – und verleiht dem Stück die Anmutung einer südländischen oder lateinamerikanischen Schmonzette. Fehlen eigentlich nur noch die Rumbarasseln… aber die harten Rhythmen der Nocturnes und Walzer von Frédéric Chopin tun ein übriges und wirken bei diesen Tänzern auf einmal weltenfern und sphärisch zugleich. Kein Synthesizer kann so modern wirken wie diese dramatische Orchestrierung, keine Bongotrommel kann den Herzschlag der Liebe trefflicher wiedergeben als hier das große Piano auf der Bühne. Unter dem Dirigat von James Tuggle kommt diese romantisch-cineastische Musik einmal mehr zur Geltung.
Und: Von Beginn an fesselt die stürmische Jugend dieses neuen Armand.
Martí Fernández Paixà ist gebürtiger Spanier, begann mit vier Jahren mit dem Ballett, wurde in Katalonien weiterhin unterrichtet und gewann 2011 bei dem Tanzolymp in Berlin sein Stipendium für die John Cranko Schule in Stuttgart.
Er gewann sofort einige Preise und wurde 2014/15 Eleve im Corps der Stuttgarter. Bereits zwei Jahre später avancierte er zum Halbsolisten, seit 2018 ist er Solist.
Er fiel schon – in sogar zwei Rollen – in „Dances at a Gathering“ von Jerome Robbins positiv auf, und jetzt tanzt er vielleicht die Rolle seines Lebens. Er ist ein Armand neuen Zuschnitts, impulsiv und gar nicht tänzerisch eloquent im Sinne routinierter Eleganz, dafür spontan wie ein Irrwisch wirkend und stürmisch wie ein Wirbelwind von den Kanaren.
Wenn er im Theater weilt, das auf der Bühne aufgebaut ist, und dort die „Kameliendame“ vis à vis vornehm und zerstreut zugleich auf ihrem roten Plüschsessel sitzen sieht, scheint ihn der Schlag zu treffen. Er erstarrt, beginnt von diesem Moment an ein neues Leben – und wird von dem Zauber dieser Femme fatale im viel zu aufgedonnerten Rüschenkleid nie wieder loskommen.
Er hat mit Miriam Kacerova als Marguerite Gautier, nach ihrem Blumengesteck am Dekolleté „Die Kameliendame“ genannt, seine Traumfrau gefunden. Nein, sie ist kein niedliches Mädchen und auch kein unschuldiges Fräulein. Sie ist eine Grande Dame der Liebeskünste, eine Kurtisane mit Erfahrung, und jede Geste ihrer feinen Finger, ihrer schönen Füße, ihres eleganten Halses, ihrer nackten Schultern signalisiert ihm, dass es eine Lust wäre, sie zu berühren, zu küssen und in eine Welt der Gefühle zu entführen.
Und erst ihr Mund! Die Rundungen ihrer Wangen! Und die tiefen, tiefen Blicke…
Armand kann sich ihr nicht entziehen, und sie spielt damit. Zunächst. Bis aus dem Spiel Ernst wird.
Allerdings legt Kacerova diese Rolle so an, dass sie von Anfang an zu ahnen scheint, dass diese Liebe großen Kummer mit sich bringen wird. Sie spürt das Unheil, das fortan über ihr schwebt.
Aber was hat sie schon zu verlieren? Die Kameliendame ist schwindsüchtig, todkrank, und es ist eine Frage der Zeit, wann ihre Schönheit und ihr Leben rapide dahinwelken werden. Armand weiß das. Sie hustet so stark, doch lautlos, und er folgt ihr in ein geheimes Zimmer, wo sie sich von einer nächtlichen geselligen Runde erschöpft etwas ausruht.
Es kommt zum ersten großen Pas de deux, das sie im violetten oder auch blauen Kleid tanzt.
Im Roman von Alexandre Dumas jun., der dem Ballett und Libretto von John Neumeier zugrunde liegt, entspinnt sich hier folgender Dialog:
„Sie würden also für meine Gesundheit sorgen wollen?“ fragte Marguerite lächelnd. „Ja.“ „Und Sie würden alle Tage bei mir bleiben?“ „Ja.“ „Und auch alle Nächte?“ „So lange, wie ich Ihnen nicht lästig wäre.“ „Aber wie nennen Sie das?“ „Ich nenne es Ergebenheit.“
Dass er sie liebt, werde er ihr vielleicht ein anderes Mal sagen, lässt Armand noch verlauten. Und mit seiner zugleich einfachen und kapriziösen Art gewinnt er ihr Herz.
Sie war zunächst sehr zurückhaltend zu diesem jungen, über alle Maße drängenden, ach so verliebten Mann. Fast arrogant war sie. Doch je eifriger er um sie wirbt, desto mehr erstirbt ihr Widerstand.
Als sie sich füreinander entscheiden, wissen beide nicht, was sie da eigentlich tun. Er ist nicht reich genug, um sie auszuhalten, und sie muss Equipagen und Pelze verkaufen, um mit ihm auf dem Land in Frieden zu leben.
Aber ihr Pas de deux – sie trägt dazu ein mehrlagiges weißes Kleid – in dieser ländlichen sommerlichen Umgebung umfasst alles Glück, das man sich als Liebesleute nur schenken kann.
Martí tanzt den Armand hier kaum noch drängend. Er fühlt sich jetzt als Sieger, ist zufrieden, ist voller Zärtlichkeit für seine Eroberung.
Und sie? Früher zeigte sie Stimmungsschwankungen, war mal hysterisch, dann wieder kühl. Jetzt ist alle Melancholie von ihr gewichen, sie ist einfach nur noch eine von Liebe erfüllte Frau, die das Leben genießen will, solange dieses noch möglich ist. Man könnte sagen, dass sie vor lauter Liebe nicht nur gelöst, sondern völlig aufgelöst ist.
Dann kommt das Unheil, das heimlich längst befürchtete.
Es nähert sich in Gestalt des Vaters von Armand. Sein Sohn ist außer Haus, als er ankommt – und er ist überrascht, in Marguerite eine wahre, vornehme Dame mit viel Herzlichkeit anzutreffen. Sie ist ja wirklich keine typische Klischeeprostituierte.
Roman Novitzky , im wahren Leben der Gatte von Miriam Kacerova , tanzt in dieser Besetzung den Monsieur Duval. Er ist schwächer als andere, die aus dieser Partie einen Glanzauftritt machen, aber seine Schwäche passt hier vorzüglich ins Bild. Denn Miriam ist eine sehr starke, sehr dominante Kameliendame.
So soft und sanft und beinahe einschmeichelnd er ihr gestisch klarmacht, dass es für Armand besser sei, wenn die Verbindung zwischen dem ungleichen Liebespaar aufgegeben wird, so souverän und stark weiß sie dagegen anzusprechen, mit tänzerischen, wortlosen, dennoch beredten Mitteln.
Dieser ungewöhnliche Pas de deux hat es in sich, bricht einem das Herz, wenn man für das Paar, für die Liebe, empfindet.
Marguerite kniet vor dem Mann, der ihr Glück zerstören will, sie will seine Achtung, seine Sympathie sogar. Sie hat damit kaum eine Chance. Schließlich beugt sie sich… und beugt sich und beugt sich. Aber nicht seinem Diktat. Etwas anderes beginnt in ihr zu ticken und rät ihr, Armand zu verlassen.
So, wie Miriam Kacerova es tanzt, ist es eine Entscheidung mit Mystik, die sie trifft. Es ist nicht ganz klar, ob sie wirklich Armands Ansehen retten möchte oder gar seiner Schwester, die sie nicht mal kennt, das Leben nicht verbauen will. Sie ist keine ehrbare Frau in dieser Gesellschaft, und das weiß sie.
Vielleicht will sie vor allem ihre eigene Seele retten.
Sie trennt sich von Armand in der festen Überzeugung, damit Gutes zu tun.
Sie schickt ihm einen Trennungsbrief. Scheidungsbriefe haben eine lange Tradition – im Mittelalter ersetzten sie den formalen Akt einer Scheidung.
Viele berühmte Tänzer des Armand rasten in der Rolle sozusagen aus, wenn sie den Brief lesen.
Anders Martí Fernández Paixà . Er steht da, ratlos, wie vom Schlag getroffen, und fast ähnelt er jenem Moment zu Beginn des Stücks, als er sich in Marguerite verliebte.
Dieser Armand wird nicht wütend. Dieser Armand ist schockerstarrt. Alles Leben scheint aus ihm gewichen. Er wirkt schier emotionslos. Doch in ihm tobt die Hölle des Verlusts.
Sein Solo ist nicht trotzig-wütend-brennend, sondern wirkt somnambul, wie ferngesteuert. Dabei sind seine vielfachen Pirouetten weiterhin absolute Sehenswürdigkeiten: sauber, gerade, wohl getaktet.
Der Herzschlag der Liebe aber, er pulst nur noch im Verborgenen in dieser Szene… und als Armand später über die Bühne läuft, von rechts nach links, von links nach rechts, von rechts nach links – da läuft er seiner Utopie von Leben nach, umsonst, denn die Frau, die sein Ein und Alles wurde, hat ihn scheinbar für ein luxuriöses Lotterleben aufgegeben. Sie gab ihm den Laufpass – und jetzt rennt und rennt und rennt er, als sei dieses die einzige Möglichkeit, sie zurückzugewinnen.
In der Oper ist „La Traviata“ manchmal mit einer etwa 60-jährigen Sängerin besetzt, und es funktioniert. Auch Marcia Haydée, die „Ur-Kameliendame“, war nicht mehr jung, als das Stück premierte: Sie war 41 bei der Uraufführung 1978 in Stuttgart, und bei der Hamburger Premiere zu Beginn des Jahres 1981 war sie weitere zwei Jahre älter. Ihr Partner in Hamburg war – auf ihren eigenen Wunsch – der junge Kevin Haigen, der ihr mit ähnlicher Vehemenz begegnete wie jetzt Martí Fernández Paixà seiner Kameliendame Miriam Kacerova.
Allerdings war die Nuance des Leidens, der Passion, bei Haigen deutlich stärker ausgeprägt als bei Fernández Paixà . Letzterer tanzt die Partie mit ungebrochener Liebesneigung: weniger ambivalent, weniger düster in ihrer Konsequenz, dafür stetig hoffend und vom Licht der Liebe wie erleuchtet.
Er leuchtet wie von innen, sogar noch, als er Marguerite aus der kleingeistigen Rache des Verschmähten heraus quält und demütigt. Armand nimmt sich – wie zum Hohn – eine käufliche Geliebte, poussiert mit dieser öffentlich und vor allem vor den Augen Marguerites herum, doch als er seiner großen Liebe auf einem winterlichen Ball begegnet, auf dem alle Schwarz und Brokat zur Schau tragen, betrinkt er sich – und übergibt Marguerite eine große Menge an Geldscheinen.
Ganz so, als habe er die letzten Rechnungen für ihre Liebesdienste noch nicht bezahlt.
Marguerite wirft das Geld entsetzt von sich. Sie dachte, der Briefumschlag enthalte ein paar zärtliche Zeilen. Statt dessen Geld, um sie herabzusetzen und als Nutte zu kennzeichnen. Als würden ihre Hände schmutzig davon, putzt sie sich die Finger ab. Entsetzt starrt sie weiterhin auf die am Boden liegenden Geldscheine. War das mal Liebe?
Miriam Kacerova tanzt die Marguerite bis zur totalen Erschütterung. Man erkennt jede Nuance von Gefühl und Gedanke, alles, was in dieser Frau vor sich geht.
Sie hatte sich mit der Prostitution eine Existenz aufgebaut, aber sie war bereit, auf alles zu verzichten, der Liebe wegen. Auf einmal war ein Kuss wieder mehr als ein halbes Goldstück, nämlich etwas Unbezahlbares. Sie hat ihr eigenes Glück geopfert, und jetzt ist es, als müsse sie wieder und wieder dafür bezahlen, dass sie nicht glücklich sein darf. Sie bricht unter dieser Spannung fast zusammen. Noch einmal sucht sie Armand auf. Will ihn um Schonung bitten. Will eigentlich nur sagen, dass sie es nicht mehr aushält, wenn er sie so quält…
Es kommt zum großen Schwarzen Pas de deux, und jeder, der in der Vorstellung am 26. Januar 2019 war, hört noch immer das Rascheln des schwarzen Seidenkleids.
Die beiden verkrachten Liebenden sehen sich in die Augen – und die Magie der Liebe überkommt sie erneut. Der Herzschlag der Liebe fasst sie zusammen, und sie tanzen eine sexuelle Aussöhnung, einen akrobatisch-verwegenen, höchst delikaten Liebestanz.
Sie, die einst so starke, dominante Frau, ist jetzt zart und weich wie ein junges Ding. Sie gesteht ihre Schwäche ein, und sie tut es mit Würde. Aber auch mit dem Wissen um die eigene Vergänglichkeit.
Er ist jetzt sehr gefühlvoll. Er liebt sie, er sieht, wie sehr er ihr zugesetzt hat, er erkennt in ihrem Blick die Liebe, die sie mit Worten abstreitet.
Er verführt sie, ohne zu zögern. Danach schlafen beide, eng beieinander, bis Manon Lescaut erscheint. Sie ist die Vorläuferin der Kameliendame, zugleich ihr Todesengel. Marguerite tritt zu ihr, in ihrer Fantasie sind sie wie Schwestern.
Ami Morita tanzt die Manon. Zart und lyrisch, weltentrückt und ätherisch. Die beiden Frauen sind ein Gespann wie Brokat und Spitze.
Ihr Bühnenpartner als Des Grieux ist Clemens Fröhlich. Der junge Deutsche machte 2010 seinen Abschluss an der John Cranko Schule, tanzt derzeit im Corps de ballet. Es ist eine große Ehre für ihn, Ami Morita zu partnern, die wie Miriam Kacerova längst Erste Solistin ist. Vielleicht erdrückt ihn diese Aufgabe ein wenig. Oder er war einfach mal nicht ganz so in Form, was es auch geben darf im Ballett. Jedenfalls wirkte er ein wenig steif, und wer ihn als Ballerino kennt, weiß, dass er mehr kann. Es wird spannend sein zu sehen, wie er sich entwickelt und weiter vorwärts kommt.
Das Gespann Manon – Des Grieux, der Literaturgeschichte entstiegen, begleitet Marguerite in ihrer Fantasie und auf der Bühne bis zum Schluss. Kurz bevor das Leben der Kurtisane endet, tanzt sie einen ergreifenden Pas de trois mit den beiden Gestalten, und es ist unmöglich, sich dem Eindruck des nahenden Todes zu entziehen.
John Neumeierist ein Genie, fraglos, und „Die Kameliendame“ ist eines seiner besten Stücke. Auch nach gefühlten Hunderten von gesehenen Vorstellungen und zahllosen Ansichten per Video bzw. DVD scheint einem aus diesem Ballett der Odem des Lebens selbst immer wieder zuzuraunen, welchen hohen Stellenwert die Liebe hat. Und der Tod, dieses gesichtslose unsichtbare Monster, muss stumm dazu nicken – kein Einspruch, Euer Ehren.
Boris Medvedski/ Gisela Sonnenburg
Weitere Texte zur „Kameliendame“ hier im Ballett-Journal – bitte googeln oder auch im Spielplan ganz oben nachschauen!