„Jede Geste war Handlung“ Tom Schilling war das Thema bei der „Ballett-Universität“ im Foyer de la Danse beim Staatsballett Berlin

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Tom Schilling, der Choreograf: Ihm war ein Abend der Ballett-Universität mit Bildvorführungen im Foyer de la Danse in der Deutschen Oper Berlin gewidmet. Foto: Gisela Sonnenburg

Für Ballettfreunde ist Tom Schilling kein junger, aufstrebender Filmschauspieler (wie für die meisten Google-Nutzer). Sondern ein 1928 in Thüringen geborener Choreograf, und zwar der mit Abstand bedeutendste, den die DDR hervor gebracht hat. Christiane Theobald, Berlins stellvertretende Ballettintendantin, die Schilling und sein Werk gut kennt, nennt ihn sogar den „Erfinder des Tanztheaters in der DDR“ – und damit liegt sie ziemlich richtig. Denn obwohl Schilling eindeutig Ballettchoreograf und keine Pina Bausch des Ostens ist, liegt der Focus bei ihm immer auf Handlung: auf Aktion, auf einem Thema und auf Inhalten – und nie auf purer Stilistik um ihrer selbst willen und nie auf Abstrahierung. Sondern es geht immer um Konkretisierung. Ein Termin im Rahmen der „Ballett-Universität“ gestern abend im Foyer de la Danse im Ballettzentrum in der Deutschen Oper Berlin würdigte Schillings Spezifika, unter dem Titel: „Nur durch den Tanz – das Tanztheater Tom Schillings“.

Der Raum im Foyer de la Danse wird von munteren Leinen durchzogen, an denen Wäscheklammern Papierblätter mit fotokopierten Bildern halten. Unter anderen sind Tom Schilling und seine Tänzer darauf zu sehen, ein Foto zeigt Schilling mit John Cranko. Schilling hatte Crankos „Jeu de Cartes“ an die Komische Oper in Berlin geholt, von West nach Ost – ein phänomenaler Brückenschlag zur Zeit der deutschen Teilung.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Papiere mit Botschaften: Der Raum des Foyer de la Danse in der Deutschen Oper Berlin war passend geschmückt. Foto: Gisela Sonnenburg

Die tanzbewanderte Podiumsrunde bestand aus drei Damen: aus der resoluten Barbara Voß-Kindt, die Ballettmeisterin von Tom Schilling an der Komischen Oper Berlin war und die ein wunderbare, dunkles Lachen hat; aus der zarten, brünetten Angela Reinhardt, die Primaballerina bei Schilling war und immer noch ein heißblütiges Flair verströmt; sowie aus der sachkompetenten und ideenreichen Christiane Theobald, die mal als Ballettdramaturgin im Ballett anfing und heute, als Stellvertretende Intendantin, als Moderatorin durch den Abend führt.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Drei Damen besorgten den Tom Schilling würdigenden Abend: Christiane Theobald (lihnks), Barbara Voß-Kindt (mittig) und Angela Reinhardt (rechts). Foto: Gisela Sonnenburg

Vorfreude liegt in der Luft, denn Tom Schilling hatte ein großes Potenzial, Menschen zu begeistern und in seinen Bann zu ziehen, und viele, die seine Arbeit kennen, bedauern es zutiefst, dass man seit über zwanzig Jahren praktisch nichts mehr live von ihm zu sehen bekommt.

Warum ist das eigentlich so? Christiane Theobald weiß es: Tom Schilling gibt die Lizenzen nicht frei. Wieder und wieder, so Theobald, fragte sie ihn schon, sie trifft ihn regelmäßig auf ein gepflegtes Mittagessen, sie hält den Kontakt. Aber wieder und wieder gab Schilling ihr einen Korb, was die Rechte an seinen Stücken angeht: „Ich gebe meine Stücke nicht mehr frei.“

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Christiane Theobald erklärt die Dramaturgie des Abends… im Foyer de la Danse bei der Ballett-Universität. Foto. Gisela Sonnenburg

Es selten, dass sich ein Choreograf so rar macht, andere können vom Verkauf ihrer Rechte in alle Welt gar nicht genug bekommen und freuen sich, wenn renommierte Companies ihre Ballette tanzen.

Allein seinem hohen Alter – Schilling ist heute 87 Jahre alt – ist seine Entscheidung nicht zuzuschreiben. Schilling ist nämlich davon überzeugt, dass es heute nicht mehr funktionieren würde, so zu arbeiten wie früher. Der Fokus liegt ihm heute zu sehr auf der tänzerischen Technik statt auf dem Ausdruck, und die übliche Arbeitszeit für Proben ist ihm heute zu knapp bemessen. Vielleicht steckt auch noch etwas anderes dahinter, etwas, über das man nur spekulieren kann.

Das Credo seiner Arbeit ist jedenfalls ehrbar, und es kristallisiert sich während des rundum informativen Abends immer wieder heraus. „Jede Geste war Handlung“, benennt es die Tänzerin Angela Reinhardt: „Jede Geste hatte Handlung zu sein, sonst war Schilling nicht zufrieden.“

Inwieweit Schilling, der 1965 als Ballettchef an der Komischen Oper anfing und dort 1993 seinen Abschied nahm, sich auch aus politischen Gründen heute verweigert, ist unklar. Klar jedoch ist, dass ihm die Zeit von etwa sechs Wochen, um ein Stück bei einer Compagnie einzustudieren, schon in der Theorie nicht ausreicht. Er ließ schon allein für besondere Besetzungen monatelang probieren.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Tom Schilling inspiriert – auch zu der Frage, ob sein Verbot seiner Stücke wohl richtig sei… Christiane Theobald beim Moderieren in der Ballett-Universität. Foto: Gisela Sonnenburg

Ein eben nicht von ökonomischem Druck bestimmter, rein sachorientierter Umgang mit Probenzeit war typisch für die DDR – mit der heutigen Versessenheit auf Effizienz und möglichst fehlerfreie Ausnutzung jedweder Ressourcen hat ein wahrhaft künstlerischer Ansatz ja auch in der Tat nicht mehr viel zu tun. Die Unterstützung, die die künstlerische Sorgfalt von staatlicher Seite erhielt, kam dem Ballett in der DDR zu Gute, keine Frage.

Insofern ist Tom Schilling, der gelegentlich auch im Publikum bei Vorstellungen des Berliner Staatsballetts zu sehen ist, zu verstehen. Andererseits kann man ihm sicher auch vorhalten, egozentrisch zu agieren. Weil er seine Stücke nicht mehr hergibt, obwohl sowohl die Tänzer als auch die Zuschauer diese nach internationalen Maßstäben wirklich wollen. Wird Kunst nicht fürs Publikum gemacht? Und muss man Werke nicht, wie Kinder, irgendwann auch mal ihren Weg gehen lassen?

Hat Schilling gar Angst, dass seine Werke unter den heutigen Bedingungen nicht mehr bestehen könnten, nicht mehr verstanden würden? Befürchtet er, „angestaubt“ zu wirken?

Immerhin waren seine Stücke nicht selten eindeutig für das Publikum seiner Zeit in der DDR kreiert, sie steckten voller Anspielungen auf eine Gesellschaft, die zwar kein tödliches Jeder-gegen-jeden auffuhr, die aber dennoch ihre einzelnen Mitglieder nicht nur glücklich machte.

Dass er mit dem Verbot seiner Stücke eine Mauer zwischen seiner Kunst und der Kunst von heute errichtet, scheint den betagten „Meister“, wie er sich von seinen Mitarbeitern auch wörtlich nennen ließ, nicht zu stören.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Mit „Match“ begegnete der „Meister“ Tom Schilling zweierlei: der Mode, Tennis zu spielen, und dem Ballett „Jeux“ von Waslaw Nijinsky, in dem dieser bereits bei den Ballets Russes in Paris Tennis zu einem erotisch konnotierten Ballett machte. Foto von der Ballett-Universität: Gisela Sonnenburg

Genießt Tom Schilling womöglich die raunende Bewunderung, die ihm seine sture Haltung von mancher Seite sicher einzutragen weiß?

Um sich solchen Fragen nicht stellen zu müssen, verweigerte Tom Schilling auch den Besuch der ihm gewidmeten Veranstaltung – er wird vielleicht ja sowieso als der große Verweigerer in die Geschichte der Choreografie eingehen. Es sei denn, seine Erben werden dereinst die Lizenzen so oft verkaufen, dass man die Spanne unserer Zeit vergisst.

Der Höhepunkt der Veranstaltung bezeugte jedenfalls, dass es gerade jetzt sinnvoll wäre, Werke von Tom Schilling irgendwo in der Ballettwelt – das muss ja nicht zwangsläufig in Berlin sein – wieder einzustudieren. Denn noch leben die ZeitzeugInnen, die Schillings Stücke in seinem Sinn einstudieren könnten.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Angela Reinhardt, einst Primaballerina bei Tom Schilling an der Komischen Oper Berlin, beherrscht die Choreografien noch heute. Foto: Gisela Sonnenburg

Angela Reinhardt tanzte, wie als Beweislegung dessen, eine rührende Passage aus Schillings modern überformtem „Schwanensee“. Der hat mit Marius Petipas und Lew Iwanows klassisch-russischer Version nur noch das Libretto gemeinsam.

Die Schwäne tragen sexy weiße Flatterkleidchen statt Tellertutus mit Federn, denn, so Angela Reinhardt, Schilling war der Meinung, es sei ein „Denkfehler von Iwanow“ gewesen, die Mädchen nachts am See als Schwäne zu kostümieren. Denn nachts sind die Schwanenmädchen ja gerade entzaubert, also junge Frauen; sonst könnten der Prinz und die Schwanenprinzessin Odette ja auch nie zusammen finden. Theater kann indes symbolisieren, wann immer es das möchte – da darf jeder Choreograf seine eigene Logik durchsetzen. Im klassischen „Schwanensee“ ist die Mädchenschar nie ganz frei vom Zauber, bei Schilling hingegen dürfen sie nachts wie normale Jungfrauen aussehen.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Gestische Deutlichkeit ist sehr wichtig bei Tom Schilling: Angela Reinhardt bei der Demonstration dessen. Foto: Gisela Sonnenburg

Odettes Klagelied, also ihre Bitte an den bösen Zauberer Rotbart, sie und ihre Gefährtinnen frei zu lassen, ist eine ganz typische Schilling-Szene und wirkte auf der kleinen aufgebauten Tanzfläche so perfekt und hoch dramatisch, dass man sofort Feuer fing und am liebsten das ganze Ballett umgehend gesehen hätte. Großartig, wie die Reinhardt, die sich außerordentlich fit gehalten hat, die tänzerische Gestik vorzustellen und dann auch zu erklären wusste!

Da ist der „Herzschmerz“, wenn sich die Tänzerin vorbeugt, da ist das Bitten um Freiheit, wenn sie sich umdreht, da ist das Zeigen von Machtlosigkeit, wenn sie die Arme lang und wie „tatenlos“ ausstreckt. In Ausfallschritten und am Boden setzt sich dieses fort, teils noch an Petipas „Schwanen-Gestik“ sanft erinnernd, immer aber in der menschlichen Psychologie stark verankert.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Odette bittet um Gnade bei Rotbart, dem bösen Zauberer – Angela Reinhardt vermittelte viel von Schillings Werk. Foto: Gisela Sonnenburg

„Ohne inneren Text ging gar nichts bei Tom Schilling“, sagt Angela Reinhardt, „jeder Tänzer musste seinen inneren Text zur Choreografie haben“ – sonst wurde der „Meister“ böse.

„Er war sehr fordernd“, berichtet auch Barbara Voß-Kindt, die als Trainingsmeistern und als choreografische Assistentin so ziemlich jeden Job für Schilling machte, den der Meister kompetent zu besetzen hatte: „Er wollte Brillanz, aber auch Ausdruck.“ – „Manchmal überforderte er die Tänzer auch“, so Voß-Kindt weiter, und wenn sie bei einer Wiedereinstudierung ihren Boss mal korrigieren durfte, dann genoss sie diese Momente sehr. Denn ansonsten machte der „sensible Künstler“ auch ihr jede Menge Arbeit, etwa, indem er alles „auf links“ kreierte, was seine Assistentin (in der DDR hieß es „Assistent“, ohne die weibliche Endung) dann „auf rechts“ übertragen durfte.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Gerade Linien, viel starker Ausdruck: typisch für Tom Schillings Choreografie. Angela Reinhardt als Odette in der Ballett-Universität. Foto: Gisela Sonnenburg

Dennoch konnte auch mal was schief gehen. Für ihre erste Show als Odette im „Schwanensee“ etwa hatte Angela Reinhardt keine Bühnenprobe und auch keine mit Orchester. Ballettmeisterin Voß-Kindt ging vor der Vorstellung das Wichtigste mit ihr nochmal durch. Aber: Als der Vorhang aufging, fehlte Odette auf der Bühne. Huch? Der Darsteller des Rotbart gab wüste Gesten von sich. Was wollte er damit sagen? Die Ballettmeisterin befürchtete schon eine Katastrophe. Doch dann stellte sich heraus, dass „Geli“, also die Reinhardt, einfach nur die Musik überhört und somit ihr Zeichen, sich für den Auftritt zu positionieren, nicht wahrgenommen hatte. Rotbart hatte sie mit seinen Fingerzeigen aus den Kulissen locken wollen… Solche Theateranekdoten täuschen aber nicht darüber hinweg, dass normalerweise die einstudierten Vorgänge klappen – und falls etwas Unvorhergesehenes passiert, können die Profis auch adäquat reagieren. Insofern ist der Ballettsaal überall, auch auf der Bühne.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Tom Schillings „Schwanensee“ imagniert keine Schwäne, sondern junge Frauen am See. Foto von der Ballett-Universität: Gisela Sonnenburg

Zurück zur Teamarbeit. Es ist ja oft so, dass große Künstler wie Tom Schilling ohne ein entsprechendes Team an ihrer Seite nur halb so toll wären. Bei Schilling waren die Hierarchien indes klar. Barbara Voß-Kindt siezte ihren Chef viele Jahre, wiewohl ihre Zusammenarbeit sehr eng war. Als sie ihn schließlich duzen durfte, fiel ihr das nachgerade schwer; ein ganz natürlicher Effekt, wenn man mit dem „Sie“ eine gewisse Respektsbezeugung verbindet. Der Boss Tom Schillling duzte hingegen alle – noch heute ist diese Rollenverteilung mancherorts im Ballett nicht unüblich.

Angela Reinhardt siezt Schilling noch heute und tat das auch in ihrem Gratulationsbrief, den sie ihm zu seinem 80. Geburtstag schickte. Sie verlas ihn mit schöner, heller Stimme, und durch die Zeilen ihrer Erinnerungen blitzten all die Gefühle auf, die sie für ihren früheren Mentor hegt. Verehrung mischt sich da mit Spieltrieb; Vergnügen mit Respekt.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Die Szene erinnert ein bisschen an den Beginn vom Black Pas de deux in John Neumeiers „Kameliendame“: Siegfried und Odette in Tom Schillings „Schwanensee“. Foto von der Ballett-Universität: Gisela Sonnenburg

Respekt gebührt aber auch Angela Reinhardt, die noch ein zweites Stück aus „Schwanensee“, nämlich die „Rückverwandlung in den Schwan“ vortanzte. Rückwärts trippeln, die Arme zu flatternden Schwingen werden lassen, dann so etwas „wie einen Stich in den Rücken“ fühlen – Angela Reinhardt macht das alles sichtbar, es ist erschütternd. Und kein sterbender Schwan ist zu sehen, sondern eine Schwänin, die hilflos gegen den bösen Zauber antanzt, der ihr die Identität raubt.

Schillings Ballette sind modern und ausdrucksstark, kein Zweifel. Voß-Kindt weiß analysierend zu ergänzen: „Schilling beherrschte viele Stile und Tanzrichtungen, und statt einen Krieg zwischen Klassik und Moderne auszufechten, vermochte er es, sie zu verschmelzen.“

Mit John Cranko, dem Macher des „Stuttgarter Ballettwunders“, verband Tom Schilling eine Seelenverwandtschaft; Cranko war ja überhaupt eine Muse für andere Choreografen, so für Kenneth MacMillan, für John Neumeier, sogar für William Forsythe. Die gegenseitigen Anregungen damaliger Choreografen in den 70er Jahren waren sowieso international gegeben, und wenn man Auszüge aus Schillings Werken auf Video sieht, dann zeigt sich das umso deutlicher.

Aus dem privaten Bestand von Angela Reinhardt konnten einige Videos als Leinwandprojektion gezeigt werden.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Die Choreografen inspirierten sich in den 70er Jahren oftmals gegenseitig. Tom Schilling, Maurice Béjart, John Neumeier, John Cranko, Kenneth MacMillan, auch Juri Grigorovich lernten voneinaner und zitierten sich gegenseitig. Hier eine Aufnahme aus dem Bestand von Angela Reinhardt, die bei der Ballett-Universität zu sehen war. Foto: Gisela Sonnenburg

„La Mer“, nach der bekannten impressionistischen Musik von Claude Debussy, erinnert an die choreografischen Visionen von Maurice Béjart. Im Nacktheit simulierenden Ganzkörperanzug („Leotard“ sagen wir heute) tänzelt Angela Reinhardt auf der Leinwand wie eine unbeschwerte Eva im Paradies vor sich hin, an einen fiktiven Strand.

Dort liegt bereits ein appetitlicher junger Mann schlafend bereit. Er döst in der Sonne, den rechten Unterarm schützend über die Augen gelegt. Das Motiv des – vorübergehend – erblindeten Mannes symbolisiert, dass er sexuell keine Gefahr für eine Frau darstellt und sie sich ihm darum umso sorgloser nähern kann.

Und das tut sie auch hier: Neugierig begutachtet sie ihn, befindet ihn für attraktiv, und als er aufwacht und sie bemerkt, setzt er sich sofort passend hin, und zwar so, dass die beiden ad hoc ein hübsches Paar ergeben. Das gegenseitige Interesse bestimmt den weiteren Verlauf des Tanzes – Tom Schilling vermochte die verschiedenen Liebesspiel-Varianten hervorragend in „Duette“, wie man in der DDR die Pas de deux oft nannte, umzusetzen.

Auch von seinem „Aschenbrödel“, das er in drei verschiedenen Fassungen choreografierte, schwärmen die anwesenden Damen. „Voll Poesie und Komik“ sei es gewesen – auch Schillings Ballettdramaturgin Karin Schmidt-Feister, die im Publikum sitzt, gibt gern über ihre Arbeit mit Schilling Auskunft.

„Es wurde damals immer sehr vielschichtig gedacht“, sagt sie – und erzählt von dem Plakatmotiv einer „Landschaft aus zwei nackten Menschen“ vor einer Wand mit Einschusslöchern.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

1983 sorgte dieses Plakat für Aufruhr: „Romeo und Julia“ von Tom Schilling mahnten somit an Kriegssituationen, denn im Hintergrund sind Einschusslöcher zu sehen… Foto von der Ballett-Werkstatt: Gisela Sonnenburg

Dieses fast pathetische Schwarz-weiß-Plakat für Schillings „Romeo und Julia“ war brisant – und nicht einfach bei der Intendanz der Komischen Oper durchzukriegen. Aber die Einschusslöcher als Kriegsemblem (die im übrigen beim Pergamon-Museum abfotografiert waren) hatten einen auch für die Obrigkeiten der DDR sinnstiftenden politischen Hintergrund: Man schrieb 1983, und die Westmächte hatten soeben den Nato-Doppelbeschluss gefasst. Für die DDR war das im Kalten Krieg eine Bedrohung, die Befürchtungen, dass der Krieg „heiß“ werden, also ausbrechen könnte, stiegen.

Solche Details sind natürlich zeitgebunden und müssen erklärt werden. Das affektive Moment des Plakats übermittelt sich jedoch auch ohne Hintergrundwissen: Die intime und dennoch nicht befriedigende Ansicht der nur stückweise zu sehenden Körper wühlt einen auf, deutet auf einen tödlich-tragischen Charakter von Erotik hin.

Bildaufnahmen von Schillings „Romeo und Julia“ belegen denn auch, dass seine Choreografie durchdacht und durchgefeilt war – und die politisch unmögliche Liebe zweier junger Menschen passend für jedes Zeitalter zeigte. Ballettmeisterin Barbara Voß-Kindt, die auch die „Romeo“-Version von John Cranko sehr bewundert, legt Wert auf die Feststellung, dass Schilling ihrer Meinung nach in seiner „Balkon-Szene“ Cranko an Raffinesse und Vielschichtigkeit noch übertroffen habe. Es wäre schön, wenn man da mitreden könnte, indem man den „Romeo“ von Schilling zu sehen bekäme.

Zumal er vermutlich im Reigen der bedeutendsten Choreografien aus dem 20. Jahrhundert, die es von „Romeo und Julia“ zur Musik von Sergei Prokofjew gibt, mithalten könnte. Zur Fassung des Stücks von Kenneth MacMillan gesellen sich die von John Cranko, von John Neumeier und von Juri Grigorovich. Schade, dass Schilling seinem Werk da keine Chance gibt, sich international zu bewähren.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Barbara Voß-Kindt wusste etliche Anekdoten zu erzählen… bei der Ballett-Universität am 10. November 2015 in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Voß-Kindt allerdings trägt leidvoll vor, dass sie mal ein Stück von Schilling in wenigen Wochen in Finnland einstudierte – und Schilling, als er das Ergebnis sah, völlig konsterniert nur feststellte: „Das ist nicht mein Stück.“

Wir alle wissen: Das kann prinzipiell immer mal passieren… und manchmal ist ein Choreograf vielleicht auch zu narzisstisch, um die ihm zuvor unbekannte Qualität der Arbeit von anderen anzuerkennen.

Wenn ein Künstler aber so streng auf der Selbstinterpretation beharrt wie Schilling, dann macht das nachdenklich. Schilling ist, das darf man wohl sagen, ein verwöhnter Künstler, der nach lehrreichen Jahren als Tänzer in Dresden und in Leipzig schon 1953 in Weimar als Choreograf begann und sich nahezu reibungslos in den 60er Jahren über Dresden bis Berlin hoch arbeitete. Will er jedweder Kritik heute aus dem Weg gehen? Gerade damit macht er sich aber heute so anfechtbar!

Seine Ballette „Impulse“, „Abraxas“, „Schwarze Vögel“ und vor allem „Die Wahlverwandtschaften“ (nach Wolfgang von Goethes Roman) fanden in der DDR und auch international großen Anklang – in mehr als 30 Länder führten Gastauftritte Schillings Truppe.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Angela Reinhardt als Ottilie aus Tom Schillings „Wahlverwandtschaften“: herzergreifend. hoch moralisch, dennoch bildschön. Foto von der Ballett-Universität: Gisela Sonnenburg

Einen Ausschnitt aus „Die Wahlverwandtschaften“ gab es denn auch auf Video zu sehen: Hinreißend, mitreißend, ergreifend tanzt Angela Reinhardt da im gelben Biedermeierkleidchen das „Sterbesolo“ der Ottilie. Diese entschließt sich aus einem Schuldgefühl heraus zu sterben, und das in einem Moment, in dem der Weg zu einem neuen Leben mit dem geliebten Mann frei wäre. Er reichte ihr gerade noch die Hand, aber sie erinnert sich an ihr Kind, das durch ihre Nachlässigkeit beim Ehebruch-Date im See ertrank. Gestisch ist das voll auszudeuten: Sie den Säugling aus einem Wasserbad zu ziehen und in die Arme zu schließen, doch sie verliert ihn wieder. Eine virtuose Reihe von Chainés wird umschlossen von gestischen Bewegungen, die die Trauer und das Abwägen der Schuld bedeuten. Die Tänzerin schlägt sich, mit dem Rücken zum Publikum, auf den Bauch, dreht sich um, fasst sich an die Kehle, als wolle sie sich selbst erwürgen. Erst geht nur eine Hand hoch und verschließt den Mund beim Tanzen, später wiederholt sich die Geste mit beiden Händen.

DAS „KNOCHENLOSE SINKEN“ VON GRET PALUCCA FINDET SICH AN UNGEAHNTER STELLE

Am Ende steht das „knochenlose Sinken“, das Gret Palucca einst erfand, also das Zu-Boden-Gehen im höchst tragischen, absterbenden, eben wie knochenlos dargebotenen Impetus. Die Tradition der Palucca, die Schilling des öfteren aufgriff, wie Christiane Theobald betonte, konnte Schilling ebenso in sein Werk einflechten wie Anklänge an Mary Wigman oder Kurt Joos. Er war ein Allesmacher insofern, als er zugleich Ballett und Ausdruckstanz veranstaltete – darum ist die Bezeichnung „Tanztheater“ auch dann richtig, wenn er nicht auf das Mittel der laut gesprochenen Sprache zurückgriff.

Man spricht von Schilling als Choreograf in der Vergangenheit, weil er mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr neu kreieren wird. Aber früher war ihm das Schöpfen von Szenen eine Lust, sogar dann, wenn er es nicht ganz freiwillig tun musste. Angela Reinhardt erinnert sich, dass sie bei einer Wiederaufnahme einen Teil einer Choreografie vergessen hatte. Videoaufzeichnungen oder Notationen gab es für die Arbeit im Ballettsaal nicht, sondern nur das Gedächtnis aller Beteiligten. Und die Tänzer fühlen sich ebenso verantwortlich dafür wie die Ballettmeister, sogar stärker als der Choreograf selbst. „Ich hab’ hier die Runden vergessen“, gestand Reinhardt kleinlaut ein – und Schilling war gnädig und stieß ein „Na, für dich mach ich sie neu!“ hervor.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Angela Reinhardt und Barbara Voß-Kindt auf der Probe… damals, in der Komischen Oper, für Tom Schilling. Foto von der Ballett-Universität: Gisela Sonnenburg

Es wurde eben nicht akribisch-technisch vorgegangen, sondern am lebenden Menschen gearbeitet. Insofern ist das damalige Kreieren ganz sicher ein sehr lebendiger Vorgang gewesen. Umso spannender wäre es zu sehen, wie Interpreten wie etwa Iana Salenko, die beim Staatsballett Berlin und beim Royal Ballet in London tanzt, die Ottilie gestalten würde. Passen würde sie ganz sicher exzellent für diese Partie!

Auch, um jüngere aufstrebende Choreografen zu prägen, sollte Tom Schilling seine Entscheidung, seine Ballette zu sperren, überdenken. Die Zeit vergeht so rasch, und wer wüsste das besser als die Menschen in der Ballettwelt! Schillings Werke sind einfach zu gut, als dass sie eine Marginalie der Geschichte werden sollten.
Gisela Sonnenburg

Angela Reinhardt hat ein sehr nützliches, außerdem angenehm persönliches Buch über Spitzenschuhe geschrieben, mehr darüber bitte hier:

www.ballett-journal.de/diverse-compagnien-spitzenschuhe/ 

Ihr Mann hat außerdem kürzlich eine neuartige Konstruktion für Spitzenschuhsohlen entwickelt – und sucht dafür einen Hersteller! (Kontakt über info@ballett-journal.de)

Der nächste Termin der Ballett-Universität in Berlin: am 8. Dezember um 19 Uhr, mit Prof. Martin Puttke und Reinhild Hoffmann.

Tom Schilling war der bedeutendste Choreograf der DDR.

Er war ein prominenter Gast beim Tom Schilling gewidmeteten Abend der Ballett-Universität – und wird am 8. Dezember 2015 selbst dort auf dem Podium sitzen: Martin Puttke, Ballettpädagoge und umtriebiger Mentor vieler berühmter Tänzer. Dass er 2013 seinen 70. Geburtstag feierte, sieht man ihm übrigens überhaupt nicht an. Aber die entsprechende Lebens- und Berufserfahrung, die hat er! Toll. Foto: Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

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