Es gibt ja keine Zufälle. Dass der Ballettdirektor des Bayerischen Staatsballetts, Ivan Liška, anlässlich seines 65. Geburtstags ausgerechnet den Pascha in „Le Corsaire“ tanzte, muss doch etwas zu bedeuten haben. Haben ein Ballettdirektor und ein Pascha vielleicht mehr gemeinsam, als man so denkt? Bei näherem Hinsehen entpuppen sich, allerdings nur im scherzhaften Sinn, ungeahnte Parallelen… Denn beide, Pascha und Ballettdirektor, haben von Berufs wegen viel mit jungen schönen Damen zu tun, die in der Hierarchie deutlich unter ihnen stehen. Mehr noch: Pascha wie Ballettchef entscheiden nahezu allein über die Werdegänge ihrer tollen Mädchen. Ihre Favoritinnen erhalten Soloauftritte, und wer ihrer Meinung nach nicht mehr ins Ensemble passt, bekommt die Kündigung. Weiter sollten die Ähnlichkeiten der beiden „Fürsten“ allerdings nicht gehen – darum ist „Le Corsaire“ ja auch ein heiteres Märchen, über das man sich amüsieren darf, ohne über die Grausamkeit des Sujets betrübt zu sein.
Dennoch erinnern Begriffe wie „Sklavenhändler“ und „Harem“, die im Libretto von „Le Corsaire“ traditionell vorkommen, durchaus an traurige Verhältnisse der ganz realen Gegenwart. Die Rechte von Kindern beispielsweise werden viel öfter verletzt, als man als Unbeteiligter eingreifen kann. Kinder sind in unserer Gesellschaft in gewisser Weise die Sklaven oder auch „Laborratten“ ihrer Erziehungsberechtigten, und ihre Rechte können Kinder allein überhaupt nicht geltend machen. Das gilt für ihre Unversehrtheit ebenso wie für die Förderung ihrer Talente. Noch nicht mal auf eine demokratisch angemessene, pädagogisch sinnvolle, gute Erziehung können Kinder immer hoffen. Geschweige denn auf so viel Liebe, wie sie brauchen!
Die Kinder in „Le Corsaire“ wissen davon nichts. Denn sie tanzen als glückliche Blumenkinder im Reigen eines Paradieses, das „Jardin animé“, lebender Garten, genannt wird. Die Erwachsenen, die mit ihnen tanzen, sind liebevoll und als Vorbilder durchaus tauglich.
Ballett ist eine Momentaufnahme des Glücks, könnte man sagen. Das Schöne daran: So eine Momentaufnahme kann auch mal drei Stunden an einem Abend dauern.
Doch zurück zur düsteren Seite der Wirklichkeit. Man spricht international wieder von „Haussklaven“ – und meint damit die sehr schlecht bezahlten Domestiken der Reichen und Neureichen. Es gibt Länder, in denen werden Kindermädchen so schlecht bezahlt, dass sie fast nur für Kost und Logis arbeiten. Dafür müssen sie sich praktisch rund um die Uhr zur Verfügung halten und schlafen in einem schlecht ausgestatteten Zimmer neben den Räumen der Kinder, um auch nachts alle eigentlich elterlichen Pflichten zu erledigen. Raum für ein eigenes Leben mit Privatheit oder auch nur das Recht auf eine gute Versorgung gibt es für diese Domestiken nicht. Mit dem Aupair-Modell hat das nichts mehr zu tun.
Dass es außerdem Zwangsprostitution gibt und der Begriff „Sexsklavinnen“ in diesem Kontext gar nicht mehr frivol klingt, muss ich hier wohl nicht weiter ausführen. Aber auch ganz alltägliche Beziehungen können aus Frauensicht viel weniger freiwillig sein, als es den Anschein hat. Und die Zwangsehe ist auch in Europa nicht so selten, wie man glauben möchte.
Im Märchenballett „Le Corsaire“ ist hingegen alles sehr freundlich gefärbt. Da hat sogar das Sklavinnendasein sein Gutes…
Mitglied im Harem des Paschas zu werden, beginnt in „Le Corsaire“ mit dem Vortanzen. In der Version von Ivan Liška, die er übrigens 2007 zusammen mit dem Rekonstrukteur Doug Fullington erstellte, findet das ballettöse Casting der jungen Frauen auf einem sonnigen Marktplatz statt.
Dort sucht der Said Pascha, Herrscher über eine liebliche südländische Kulisse namens Adrinopel, vielversprechende Frauen, die ihn als Odalisken beglücken könnten. Natürlich mischt sich der orientalische Fürst nicht allein unters Handel treibende Volk.
Sondern mit einer Eskorte, die aus einem Muphti und zwei Eunuchen besteht. Schließlich will der potenzbewusste Patriarch bei seinen Einkäufen beraten werden. Sein Imam und die beiden Kastraten sind geeignet, seinen guten Geschmack zu unterstützen, ohne ihm seine Neuerwerbungen streitig zu machen.
Ein Tanz von locker gefesselten Sklavinnen in luftigen blauen Pumphosen und passendem Oberteil (die dem Auge schmeichelnde Ausstattung stammt von Roger Kirk) lockt zwar das Publikum, nicht aber den Pascha aus der Reserve. Das schafft erst die Hauptfigur Medora, die Pflegetochter eines Mädchenhändlers, die eigentlich gar nicht zum Verkauf steht.
Ein Ballettdirektor darf sich hingegen nicht so gehen lassen wie der Pascha im Stück. Als Ballettboss hat Ivan Liška die Verantwortung, ein Ensemble zu formen und zu erhalten, es weiter zu entwickeln und zu formen. Das hat er seit der Spielzeit 1989/99 kontinuierlich gemacht. Dafür lieben ihn seine Mitarbeiter wie sein Publikum.
Die Anwärterinnen für seine Truppe versuchen, beim Vortanzen im Ballettsaal eine gute Figur zu machen und möglichst positiv aufzufallen – mitunter geht dem ein Video voraus, das auch die künstlerische Wirkung einer Tänzerin auf der Bühne zeigen soll.
Allerdings ist so ein Casting richtig harte Arbeit für alle Beteiligten. Und leicht fallen die Entscheidungen, wer engagiert wird und wer nicht, sicher niemals. Da hatte es das Publikum von „Le Corsaire“ am Sonntag wesentlich einfacher: dem Ballettdirektor und seinem Ensemble frenetisch zu danken und dadurch Ivan Liška zum Geburtstag zu gratulieren, war ihm ein Vergnügen.
Gisela Sonnenburg
Mehr über „Le Corsaire“ in München bitte hier:
www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-le-corsaire/
Weiteres bitte auch hier:
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