Was für ein Erlebnis: Standing Ovations für Dinu Tamazlacaru! Der Berliner Starballerino Nummer Eins ist wieder da! Das Publikum in der Deutschen Oper Berlin applaudierte nach der Vorstellung am letzten Sonntag im Stehen, dankbar hingerissen zu Begeisterungsstürmen und ergriffen von der Tiefe der „Schwanensee“-Geschichte. Aber nicht nur die Inszenierung von Patrice Bart ließ die Zuschauer erbeben, sondern vor allem die lang ersehnte Rückkehr auf die Bühne von Dinu Tamazlacaru. Der gebürtige Moldawier, der 2002 seine Karriere in Berlin begann und seit 2012 Erster Solist beim Staatsballett Berlin ist, musste eine Verletzung auskurieren – aber er nutzte die monatelange Pausierung, um weiterhin an sich zu arbeiten. Das Feinjustieren, das Tuning von Körper, Geist und Seele erlaubt es ja gerade einem mit sich erfahrenen Tänzer, auch ohne sonst übliches Leistungstraining immer noch dazu zu lernen. Das Ergebnis bei Dinu: womöglich noch schönere, superhohe, federleichte Sprünge; vielfache Pirouetten wie aus dem Bilderbuch; schier endlose, wie gemalte Balancen; allerfeinste Linien bis in die Fingerspitzen – und ein mimisches Schauspiel, das schon allein den Vorstellungsbesuch zu einem Fest machte. Mit der Gastpartnerin Liudmila Konovalova, die am Bolschoi ausgebildet wurde und früher auch fest in Berlin tanzte, seit 2010 aber beim Wiener Staatsballett angestellt ist, kehrte zudem noch ein Star zurück auf die Berliner Ballettbühne. Und so geriet der Schlussapplaus zu einem Jubel, wie man ihn seit dem Weggang von Vladimir Malakhov als Ballettchef in Berlin nicht mehr erlebt hat.
Gezielter Auftrittsapplaus und höchste Konzentration, fasziniertes Mitgehen trotz der ersten hörbaren Herbsterkältungen kennzeichneten das Verhalten des Publikums während dieser außergewöhnlichen Vorstellung.
Der Leistungsdruck, unter dem die Tänzerinnen und Tänzer vom Staatsballett Berlin stehen, ist nicht eben gering zu nennen. Aber man merkt den Solisten und dem Corps de ballet an, dass es sich gerne anstrengt, sich gerne den Rollen und der Musik hingibt – und dass über diesen starken freudigen Eifer all die Mühsalen und Qualen, auch all der Stress und Druck an Bedeutung verlieren. Es gibt nicht viele Branchen, in denen man so deutlich wie im Ballett hinsichtlich des künstlerischen Ergebnisses sagen kann: Die Mühe lohnt sich!
Doch in dieser Aufführung, die mit 18 Uhr übrigens eine sehr schöne Anfangszeit für eine Sonntagsvorstellung hatte, war es vor allem unmöglich, die außergewöhnlichen Leistungen des Dinu Tamazlacaru zu übersehen. Was für ein Glück für Berlin, ihn, der auch im internationalen Gala-Business heißt begehrt ist, weiterhin zu haben!
In Barts „Schwanensee“ erscheint Prinz Siegfried – also Dinu Tamazlacaru – tänzerisch erstmals brillierend, als seine Mutter, die Königin, ihm zum 21. Geburtstag ein Gewehr überreicht und er sich mit einem ausführlichen, zugleich intimen und repräsentativen Pas de deux bedankt.
Elena Pris ist als Königin so hoheitsvoll und doch seelisch gequält, wie es in dieser Inszenierung Sinn macht. In bildschönen Ports de bras und Cambrés erlaubt sie sich den Ausdruck ihrer Macht, zugleich aber giert sie nach mehr – und vermag es nicht, ihre Herrschsucht im Zaun zu halten.
Die noch junge verwitwete Monarchin, die Spaß an der Machtausübung hat und sich doch als Frau solistisch in einer Männerwelt bewegen muss, will ihren herangewachsenen Sohn kontrollieren und beherrschen. Er ist die Zukunft des Landes, er ist der Thronfolger – und er soll ihre politische Richtung fortführen. Eine eigene Entwicklung gesteht sie ihm nicht zu; dafür aber liebt sie ihn als jenen Nachfahren, der ihr Werk vollenden soll.
Dass ihr Fremdbild von Siegfried als reibungslos funktionierendem Sohnemann nicht wirklich passt, zeigt sich bereits während dieser festlichen Szene. Und so ist der grandiose Pas de deux mit vielen Hebungen und auch mit Synchrontanz zwischen ihrem Sohn und der Königin im Grunde ein einziges – wenn auch wunderschönes – Missverständnis. Tamazlacaru und Pris zeigen:
Hier tanzen zwei miteinander, die sich nahe sind und doch mental ganz weit voneinander entfernt – und es sind zwei innerlich Zerrissene, die hier die Spitze der Gesellschaft bilden.
Denn auch Siegfried hat sein Päckchen zu tragen: Er hat es nicht leicht mit seinem melancholischen Naturell und ist keineswegs wie geschaffen für all die demonstrativ zu erledigenden Aufgaben der Vorherrschaft in einem intriganten Machtapparat.
Er heißt nicht umsonst in ironischer Anspielung nach dem altgermanischen Helden, den man im Russland des 19. Jahrhunderts selbstverständlich bestens kannte (schon wegen der Wagner-Opern). Der Siegfried hier ist aber gerade kein germanischer Recke, kein robuster Held, kein Kämpfer oder Ehrverteidiger. Er ist genau das Gegenteil: ein romantisch verträumter Melancholiker, der nicht so genau weiß, was er will, dafür aber umso deutlicher vor Augen hat, was er nicht will. Die höfische Etikette etwa ist nicht so ganz seine Sache.
Die herrschsüchtige Art seiner Mutter unterdrückt diesen Prinzen; andererseits ist er trotzig und selbstbewusst genug, um sich nicht jeden Freiraum nehmen zu lassen. Dass er seine Frau Mama – die ihn nach dem Helden der germanischen Sagen seinen Vornamen gab – dennoch liebt und ihr großen Respekt entgegen bringt, erkennt man in diesem Paartanz von Mutter und Sohn fraglos, und als er in einen eleganten Handkuss mündet, ist man fast geneigt zu glauben, dass da doch Hoffnung auf eine langfristig versöhnte Harmonie zwischen den beiden keimt.
Doch die Spannungen zwischen ihnen lauern wie Raubtiere – und wann immer eine dritte Person hinzu tritt, wird das offenbar.
Der Dritte im Spiel ist hier der Premierminister von Rotbart, den Alexej Orlenco fantastisch ambivalent gestaltet: einerseits ist er cool, überlegen, kalt, wirkt beherrscht und militärisch streng. Andererseits hat er ein Temperament und eine Lust an der Macht, die ihm Kraft zu vielen bösen Taten verleiht.
Er ist ein schwarzer Magier, in der Welt am Hof ebenso wie in der Gegenwelt, der nächtlichen Szenerie am Schwanensee.
Hier taucht Rotbart erneut auf, dieses Mal mit mächtigen schwarzen Schwingen an den Armen bewehrt. Er ist der böse Zauberer, der unschuldige Mädchen in seine Gewalt bringt und in Schwanengestalt gefangen hält.
Die Schwäne am See – es sind junge Frauen, denen ihr Recht auf ein eigenständiges menschliches Dasein genommen wurde.
Ihre einzige Hoffnung: die Liebe. Denn nur die starke Liebe eines Mannes zur Anführerin der Schwäne, also zur Prinzessin Odette, kann den verzauberten See erlösen und die Schwäninnen aus ihrem Bann befreien. Sie könnten wieder Menschen werden – und die Rotbart’sche Zaubersphäre in Freiheit verlassen.
Das Motiv der Liebe erinnert hier an eine in Kulturkreisen bekannte mittelalterliche Geschichte, in der ein Ritter ebenfalls eine gefühlige Aufgabe erhält, um zum Erwachsenen zu reifen. Die Liebe hier erinnert in der Tat an Parzivals Aufgabe, so viel Mitleid zu empfinden, dass der an einer nicht heilenden Wunde leidende Fortinbras von seinen Qualen erlöst werden kann. Parzival versagt, er stellt die Mitleidsfrage nicht, er ist zu sehr auf sich und sein eigenes jugendliches Ego fixiert, um für andere mitzudenken.
Siegfried steht zunächst viel besser da, menschlich und moralisch gesehen. Siegfried verliebt sich sofort in die verzauberte Schwänin Odette – und dass er reif für die Liebe ist, zeigt er unmittelbar vor der Begegnung mit ihr in einem Solo.
Er ist an den See geflohen, um dem verlogenen Hofstaat und den Machenschaften seiner Mutter zu entkommen. Endlich kann Siegfried frei atmen!
Dinu Tamazlacaru spielt und tanzt diesen Stürmer und Dränger, der Siegfried unzweifelhaft ist, mit soviel Charme und doch Einfachheit, dass es einen zu Tränen rührt.
Wie in einer Geisterbeschwörung gibt sich Tamazlacaru dem naturhaften Umfeld am Ufer des Sees hin.
Mensch und Nacht verschmelzen zu einer unikaten spirituellen Macht, die von einem starken Eros, aber auch einer kaum bezähmbaren romantischen Sehnsucht getragen wird.
Es ist, als wittere Siegfried hier, dass eine neue Liebe in sein Leben kommen und es grundlegend verändern wird.
Doch zunächst taucht Rotbart mit seinen furchterregenden Schwingen auf, hinten am Bühnenhorizont fuchtelt der böse Mann mit den langen Schattenflügeln herum.
Siegfried erschrickt. Aber er lässt sich nicht davon abbringen, weiter der Spur zu folgen, die nach Liebe duftet…
Im zweiten Teil seines nächtlichen Solos wird er dynamischer, fast aggressiver, jedenfalls aktiver. Er fischt Träume und Wunschvorstellungen aus seinem Spiegelbild am Wasser, er träumt von sich selbst als befreiter, neuer Mensch.
Denn nicht nur das verzauberte Mädchen, das er lieben wird, kann durch die Liebe befreit und wieder es selbst werden – auch der Prinz kann durch die Liebe ein anderer, ein besserer Mensch werden.
Dinu Tamazlacaru tanzt all dies so plastisch, so sinnlich, dass man mitfühlen und sich mit ihm der Musik hingeben kann.
Er hat zudem eine erotische Ausstrahlung, die auch den kleinen Bewegungen hier Sinn und Stärke verleiht. Es ist unmöglich, sich dem Bann seines Tanzspiels zu entziehen!
Alevtina Ioffe dirigiert das Orchester der Deutschen Oper Berlin aber auch sehr einfühlsam für die Tänzer. Die manchmal mitreißend-pompöse, manchmal lyrisch-sentimentale Musik von Peter I. Tschaikowsky ist ja wie gemacht, um sie mit Schauspiel aufzuladen und nicht nur als abstrakte akustische Illustration zu benutzen.
Als Odette erscheint, erhält die Träumerei des Prinzen substanziellen Grund. Für diesen Anblick lohnt es sich zu leben!
Wie der Prinz das Schwanenmädchen anschaut, sofort begreifend, dass hier ein außergewöhnliches Schicksal vor ihm steht, ist so ergreifend!
Dagegen hatte der Prinzenfreund Benno, von Murilo de Oliveira mit exorbitant schönen Sprüngen und Bewegungen getanzt, keinerlei Zugriff auf die Herzenswelt von Siegfried. Benno trug ihm ja sogar das Gewehr an den See hinterher – aber der Prinz sieht in ihm nicht mehr als einen Gefährten, der ihm langsam, aber sicher lästig wird.
Vergessen die neckischen Tänze, die die beiden in der Geburtstagsszene noch mit dem Corps de ballet absolvierten. Für Siegfried existiert bald nur noch diese nächtliche Fluchtwelt: Der Zauber des Schwanensees hat ihn im Innersten berührt. Seine Aufgabe, die Prinzessin zu lieben, umspannt jede Faser dieses bisher so unentschlossenen Mannes.
Liudmila Konovalova hat anderen „Schwanensee“-Prinzessinnen gegenüber einen großen Vorteil: Sie bringt vom Wiener Staatsballett jenes dort gepflegte Flair von Rudolf Nurejew mit, das Strenge, Raffinesse und Präzision mit äußerster meditativer Hingabe verbindet.
Sie wirkt fast somnambul, wenn sie auf die Bühne trippelt, die Arme wie zitternde Flügel ausbreitend.
Ihr Tanz mit Siegfried ist zunächst scheu, dennoch stark; ohne Gefallsucht, aber lieblich wie eine Feder im Wind.
Und Dinu Tamazlacaru als Siegfried lässt sich davon begeistern!
Alle Alarmglocken scheinen in ihm zu jubilieren – hat er nicht im Grunde schon seit Jahren auf solch eine Frau gewartet?!
Aber es ist nicht leicht, sie von seiner Liebe zu überzeugen. Ihre Erfahrungen mit Menschen, mit Männern insbesondere, sind nicht gerade die besten.
Sanft hebt er sie, dreht sie, geht wieder auf Abstand, bestaunt sie, bewundert sie, fühlt ihr pochendes Herz, beruhigt sie mit wiegenden Umarmungen.
Es sind diese Momente, in denen Odette ihre Fremdheit verliert und sich in Siegfried verliebt.
In dieser Besetzung ist das klar und wunderschön zu erkennen und mitzuerleben – die Zärtlichkeit zwischen den frisch Verliebten äußert sich in der stilvollen Choreografie, die Lew Iwanow nach den Vorgaben von Marius Petipa 1895 schuf, als langsam wachsend; das Vertrauen der Frau in den Mann muss tänzerisch erfochten und gehegt werden.
Rotbart gefällt das ganz und gar nicht.
Siegfried muss viel Kraft und Zutrauen in seine Umarmungen von hinten legen, um die Prinzessin zu besänftigen.
Was für ein Paar! Zwei Welten, die doch so grundverschieden sind, verschmelzen mit ihnen vor unseren Augen: Dinu Siegfried Tamazlacaru und Liudmila Odette Konovalova verkörpern die höfische und die verzauberte Welt; ihre Liebe gleicht einem Weltensprung, in dem Lebensentwürfe neu entstehen.
Die Schwänin wird Mensch, und der Prinz wird Mann.
Es muss die große Liebe sein…
Nach der Pause hat uns das psychologische Spiel der Königin wieder.
Elena Pris tanzt das Solo dieser im Grunde unbefriedigten Frau, die Pläne schmiedet, um ihre Macht auszubauen.
Sie lässt sich ein Collier und ein Diadem bringen: funkelnd wie diese soll ihre Regentschaft erstrahlen.
Mit Premierminister von Rotbart eröffnet die Königin den folgenden Ball, der ihren Plänen, die sie mit Siegfried hat, nützlich sein soll.
Siegfried fürchtet und verachtet von Rotbart. Er erkennt in ihm eine böse Macht, wenn er ihn auch noch nicht mit jenem Magnaten vom Schwanensee in Verbindung bringt. Aber er sieht, wie von Rotbart die Königin betört und betont männliches Auftreten einsetzt, um selbst an Einfluss zu gewinnen.
Widerwillig nimmt der Sohn die Handschuhe der Mutter in Empfang, damit diese ihre nackten Hände dem Macho Rotbart beim Tanz reichen kann.
Die Tänze der angereisten Prinzessinnen interessieren Siegfried nicht. Er soll sich eine Braut erwählen – und hat doch längst gewählt. Doch seine Odette vom See ist nicht unter den Gästen. Siegfried sehnt das Ende des Festes herbei… doch da führt Rotbart eine aufregende Schönheit in einem schwarz glitzernden Tutu herein. Zwei-, drei Mal tauchen die beiden auf und verschwinden wieder im Getümmel des Fests. Ist das nicht Odette?
Siegfried ist verwirrt. Er hat getrunken, und die majestätische Schönheit im schwarzen Tutu scheint ihm große Ähnlichkeit mit seiner scheuen verzauberten Schwänin zu haben.
Rotbart macht sich die Unsicherheit Siegfrieds zunutze. Der junge Mann weiß nicht, dass seine eigene Mutter Rotbart anheuerte, um ihm eine fremde Prinzessin als Hirngespinst der Liebe vorzuführen.
Die Ähnlichkeit von Odette und Odile, der schwarzen Schwänin auf dem Ball, ist zu groß. Siegfried unterliegt seinen Gefühlen…
Er hofiert sie, lässt sich necken, fällt auf ihr kokettes Gehabe, auf ihren demonstrativen Stolz herein. Siegfried glaubt, sein Glück gefunden zu haben – und nimmt die Chance, seine Liebe der Hofgesellschaft zu zeigen, dankbar an.
Der Grand Pas de deux von Dinu Tamazlacaru und Liudmila Konovalova strotzt nur so vor Grandezza!
Tamazlacaru hat sich nicht nur regeneriert, er sprengt auch alle Vorgaben, die seine früheren Leistungen machten.
Er springt – ob hier oder gen Ende (das Stück steigert sich in der letzten Szene nochmals) – scheinbar bis in den Bühnenhimmel.
Was für bildschöne Weltensprünge vollführt Tamazlacaru!
Seine schwebenden, wie im Luftritt diagonal nach vorn ausgelegten Grand jetés, seine luftig hingepfefferten Cabrioles, seine präzise pointierten Tours en l’air versetzen einen in einen schier überirdischen Zustand. Oh!
Dagegen hat es Konovalova nicht ganz leicht. Aber sie konzentriert sich sauber auf das Wesentliche, gewinnt mit exakten Fouettés und schönen Arabesken die Herzen der Zuschauer – und ihre Moskowiter Strenge passt vorzüglich zu dieser Partie!
Doch als der Prinz die schwarz gekleidete Ballschönheit in den Armen wiegen will, sie von hinten fassend und im Retiré auf den Zehenspitzen stehen lassend – ganz wie Odette am nächtlichen See – da reagiert Odile schroff und abweisend.
Siegfried wird stutzig. Das wäre seine Chance zu erkennen, dass er sich gerade den falschen Vogel geangelt hat!
Tamazlacaru zeigt diese Momente wunderbar deutlich, und es ist, als hätte man diese Szene noch nie zuvor gesehen, auch wenn man sie eigentlich innerlich schon mittanzen kann.
Man bangt ums Seelenheil des Prinzen. Wird er die Geschichte umschreiben und Odile ablehnen? Wird er treu sein können, weil er die Falschheit erkennt?
Aber leider ist Odile zu entzückend, sie ist eine zu gute Fälschung, um ihr nun einfach einen Korb zu geben. Siegfried ist halt auch nur ein Mensch, ein verführbarer Mann noch dazu.
Man versteht, dass Siegfried sich weiter um den Finger wickeln lässt – Frauen wollen ja nun mal nicht immer kuscheln, und dass es zwischen Odettes warmherziger Liebe und der kalt glitzernden Schönheit von Odile einen großen Unterschied gibt, vergisst der verknallte Junge unter dem Eindruck des Ballambientes nur allzu rasch.
So schwört er jetzt der Falschen Liebe, er will Odile heiraten, in der Meinung, sie sei Odette. Seine Mutter bekräftigt ihn darin – alles scheint perfekt.
Und erst, als Rotbart ihm sadistisch die leidende Odette als Fernsicht-Vision zeigt, erkennt Siegfried seinen Fehler. Er hat soeben mit dem irre geleiteten Liebesschwur den Eid zur Rettung Odettes gebrochen… er hat alles verspielt.
Noch einmal stürmt Siegfried an den nächtlichen See, noch einmal findet er dort Odette und ihre Gefährtinnen vor. Noch einmal erlebt er den Zauber der schönen Schwanenmädchen, noch einmal lässt er sich in den Strudel der weißen Schönheiten reißen.
Noch einmal hält er Odette in den Armen, noch einmal darf er vor ihr knien, noch einmal verströmt sie ihre Süße während des anmutigen Trippeltanzes.
Und Dinu Tamazlacaru scheint vor Hoffnung zu fliegen, wenn er am Schwanensee leichthin in die Luft springt, so hoch, wie es eigentlich kein Mensch kann; wenn er dann sehnsuchtsvoll durch die Reihen der Schwanenmädchen läuft – und mit all seiner männlichen Kraft seine Liebe zu retten versucht.
Ah! Er muss der Macht Rotbarts entkommen und versuchen, eine zweite Chance zur Erlösung der Schwäne zu erhalten.
Doch es ist zu spät. Der See wird wie von Zauberhand geflutet, die Schwäne verschwinden im Nebel, aus dem sie kamen, und der allein gelassene Siegfried begegnet im nächtlichen blauen Licht des Mondes dem Premierminister Rotbart.
Im Kampf hebt dieser ihn hoch, wirbelt ihn umher – doch Siegfried kann sich befreien und er bekommt Rotbarts Kehle zwischen die Finger, er drückt zu, der Premierminister stirbt.
Ist das jetzt der Sieg des Guten über das Böse?
Nein, in dieser Inszenierung ist es Totschlag, und Siegfried überfallen Gewissensbisse. Er hatte Liebe geschworen und endete mit Mord.
Odette ist für ihn für alle Zeit verloren…
Siegfried sieht keinen Sinn mehr in seinem Dasein, er überlässt sich den steigenden Fluten des Sees.
Seine Mutter kann ihn nur noch tot finden. Einsam steht sie da, durch ihr Intrigenspiel hat sie alle Zukunft verdorben – sie ist eine Kriemhild nach dem letzten Gefecht, eine vereinsamte böse, bald alternde Frau.
Die Erinnerung an die wahre Liebe aber, die Siegfried und Odette im Tanz füreinander empfanden, überlebt und ist das, was die Zuschauer im Herzen mit nachhause nehmen. Was für ein unbeschreiblich schönes Gefühl…
Gisela Sonnenburg
Nur noch am 26. Oktober 2018 in dieser Spielzeit – in dieser Besetzung!