Ein Klassiker der Herzenswelt „Romeo und Julia“ von John Cranko beim Staatsballett Berlin mit Dinu Tamazlacaru und Yolanda Correa in den Titelpartien

"Romeo und Julia" - immer wieder ein Knüller

Ein Paar, süß wie ein Eis im Hochsommer, beim Schlussapplaus nach „Romeo und Julia“ auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin: Yolanda Correa als Julia und Dinu Tamazlacaru als Romeo. Bravo! Foto: Gisela Sonnenburg

Dieser Romeo ist ja so ein Filou! Gern scherzt und flirtet er, den schönsten Mädels macht er noch schönere Augen. Aber er ist kein kalter Playboy-Typ, sondern er brennt für die Liebe! Wenn Dinu Tamazlacaru beim Staatsballett Berlin in „Romeo und Julia“ als Titelheld gleich zu Beginn die Bühne betritt, weiß man sofort: Hier kommt die Leidenschaft in Person. Und tatsächlich schmachtet er – nein, noch nicht seine Julia – die holde Rosalinde an, die von der edlen Sarah Mestrovic mit viel verlockendem Charme verkörpert wird. Oben auf der Galerie steht sie, und als sie dem flehenden Verliebten ihren Fächer herunterwirft, stürzt er sich darauf wie ein Ertrinkender aufs kühle Nass. Choreograf John Cranko wusste, was er tat, als er das Stück nach Shakespeares Liebesdrama mit dieser Szene beginnen ließ. Wir sollen uns da nämlich keinen Illusionen hingegen: Romeo ist ein fleißiger Schürzenjäger, bevor ihm die Sache mit der jungen Julia passiert. Tja, und dann verändert die große Liebe alles… Yolanda Correa ist aber auch eine niedliche, dennoch elegante, keineswegs hysterisch-überdrehte, wohl aber unverstellt authentische Julia. Kein Wunder, dass Romeo, als er mit seinen Freunden auf dem Ball seiner Feinde herumstromert, ihr in die Arme läuft und sozusagen nie mehr von ihr loskommt. Ach, hätten sie doch die Chance gehabt, zusammen alt zu werden!

So aber haben wir und noch unsere Nachkommen und deren Nachkommen den Urtyp der romantisch-tragischen Lovestory vor uns. Im Ballett handelt es sich gar um den Urtyp des modernen Handlungsballetts: ein Klassiker der Herzenswelt.

Das Klima im Verona der frühen Renaissance ist rau. Immer wieder flammen Kämpfe im Stadtgebiet auf: Die Montagues gegen die Capulets, heißt es da. Julia ist eine Capulet. Romeo, na klar, ein Montague.

Der Herzog (Artur Lill spielt ihn wie einen erbitterten Märchenkönig) will endlich Frieden unter seinen Untertanen. Aber wenn Tybalt (stets schön schlechte Laune verbreitend: Arshak Ghalumyan) zum Degen greift, ist alles zu spät.

Mercutio, von Olaf Kollmannsperger schlicht, aber wirkungsvoll getanzt und dargestellt, traut sich mit ihm weit vor. Zu weit. Er läuft ihm in die gezückte Waffe, tänzelt und spottet noch ein paar Runden, stirbt dann qualvoll.

Romeo kann es nicht fassen. Sein bester Freund – erstochen. Dinu Tamazlacaru greift fast unwillkürlich zum Degen, den auf dem Boden findet. Es ist Vorsatz, keine Frage, als er auf Tybalt losgeht – und Mercutio rächt. Doch auch Tybalt stirbt nicht Knall auf Fall. Auch er darf sich kunstvoll auf den Boden rollen, über die Bühne wälzen, zuckend und krampfend nochmal aufstehen, bis der Todesengel ein Einsehen hat.

"Romeo und Julia" - immer wieder ein Knüller

Jubel beim Schlussapplaus nach „Romeo und Julia“ am 23. Juni 2019 in der Deutschen Oper Berlin: mittig die Dirigentin Alevtina Ioffe, rechts neben ihr das Titelpaar Yolanda Correa und Dinu Tamazlacaru, links von ihr Olaf Kollmannsperger als Mercutio und Arshak Ghalumyan als Tybalt. Im Theater stehen ja zum Glück alle wieder auf und sind quicklebendig! Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Es fällt auf: Überhaupt wird in dieser „Romeo und Julia“-Version von den Helden nie schnell und schmerzlos verschieden. Der tödliche Schmerz wird zelebriert, man könnte auch sagen: ausgekostet, und er erscheint als der Preis, der für das zuvor in vollen Zügen genossene Glück gezahlt werden muss.

Cranko lässt die wilden, heißblütigen Italiener, die der Engländer Shakespeare sich im kühlen Nordwesten Europas ausdachte, tänzerisch denn auch mit prickelnder Passion leben und mit opulenter Pathetik fürs Publikum sterben.

Der Tod – kein Kinderspiel.

Weil Tybalt nun ein Cousin von Julia war, sieht es aber schlecht aus für die beiden frisch Verliebten, die sich bereits heimlich von einem Mönch haben trauen lassen. Für Romeo stand die Freundschaft über der angeheiraten Verwandtschaft, aber diese Hierarchie bringt ihn in Kalamitäten. Er muss aus Verona fliehen, sonst ist es um seine Freiheit geschehen.

Wenn man genau hinsieht, wüsste man jetzt wahrscheinlich schon Bescheid über die tödliche Konsequenz dieser Liebe, wenn man das Libretto nicht kennen würde.

"Romeo und Julia" - immer wieder ein Knüller

Die munteren, der auch mysteriösen Clowns sorgen immer für gute Stimmung: Das Staatsballett Berlin beim Applaus nach „Romeo und Julia“ von John Cranko. Foto: Gisela Sonnenburg

Im Bühnenbild von Thomas Mika, der auch die außerordentlich prunkvollen, dabei tanzaffinen Kostüme schuf, glänzt viel Gold, aber es steht im steten Kontrast zum tiefen Bühnendunkel. Die Gefahr quillt hier sozusagen aus jeder Ecke. Der Tod ist stets ganz nah…

Aber ihre Paartänze machen Romeo und Julia unsterblich!

Wenn Dinu Tamazlacaru als Romeo seine Julia, also Yolanda Correa, um die Taille fasst, sie sanft empor hebt, sie durch den Spiralwurf in die „Fisch“-Figur auf seinen Knien befördert, sie immer noch mit jedem Griff zu streicheln scheint, dann hat die Ballettgeschichte einen ihrer Höhepunkte erreicht.

Da ist nichts steril, nichts routiniert, nichts alltäglich und schon gar nicht wacklig noch irgendwie schwerfällig. Es ist einfach himmlisch, zu sehen, wie scharf diese beiden jungen Menschen aufeinander sind und wie akkurat und ausbalanciert sich ihre Liebe im Tanz zeigt.

Romeo ist halt ein Liebeskünstler, wenn man so will, und Julia hat in dieser Disziplin so viel Talent, dass sie kaum Übung benötigt. Das trifft gerade für diese Besetzung zu.

Die legendären, hohen und superweich landenden Sprünge – kurzweiliges Schweben in der Luft – von Dinu Tamazlacaru erhöhen dann den Genuss seiner Soli, und Yolanda Correa spielt zudem so hübsch frech mit ihrer Amme (sehr lustig: Barbara Schroeder), dass man für einige Minuten meint, in einem Spielfilm für Kids zu sein.

"Romeo und Julia" - immer wieder ein Knüller

Ein Handkuss muss sein bei soviel Liebe! Dinu Tamazlacaru hält und küsst die zarte Hand von Yolanda Correa. Die beiden Stars vom Staatsballett Berlin haben soeben „Romeo und Julia“ getanzt – vor begeistertem Publikum. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Liebesszenen von Romeo und Julia prägen sich aber am stärksten ein.

Jede Arabeske, bei der das gestreckte Bein weit geradlinig nach hinten hochragt, die sie in seinen Armen vollführt, ist ein Bekenntnis zur Zweisamkeit, zur Freiheit in der Beziehung, zur ganz großen Liebe, bei der zwei Menschen sekündlich spüren, dass sie füreinander wie geschaffen sind.

Und jedes Port de bras, bei dem beide die Arme nach oben und zur Seite führen, ist Ausdruck der praktizierten totalen Harmonie.

Welch Glück geht von ihnen aus, welch großes Glück mögen sie erfühlen, und welch ebenfalls großes Glück schenken sie uns, wenn wir ihnen dabei zuschauen.

Aber da ist auch dieser tödliche Schmerz, der von der aggressiven, verständnislosen Gesellschaft ausgeht, die in der Meute so ganz anders reagiert, als wenn man es mit einzelnen Individuen zu tun hat.

Unterstützen Sie das Ballett-Journal! Spenden Sie! Kein Medium in Deutschland widmet sich so stark dem Ballett wie das Ballett-Journal! Zeigen Sie, dass Sie das honorieren! Und freuen Sie sich über all die Beiträge, die Sie stets aktuell gelistet im „Spielplan“ hier im Ballett-Journal finden. Wir danken Ihnen von Herzen!

Und dabei sind sie doch so ausgelassen fröhlich, diese Veroneser, wenn das Schicksal es gut mit ihnen meint und ihnen Zeit zum Tanzen als Festivität schenkt. Wirklich superschön macht das Staatsballett Berlin es, wenn Cranko ihnen mal wieder erlaubt, voll aufzudrehen!

Die Mädchen hüpfen beschwingt zu ihren Partnern, diese wiederum verstehen sich blendend aufs Geschäft des körperlichen Ausdrucks im Sprung.

Drei flotte Zigeunermädchen finden sich dann und wann zusammen – und für einen Pas de six treffen sie auf Romeo, Mercutio (bevor er sich tödlich duelliert) und Benvolio, der mit Alexander Bird erfrischend keck besetzt ist.

Aber die Liebe! Sie bahnt sich ihren Weg durch Straßenfeste wie durch die Festungen großbürgerlicher Häuser. Die Balkonszene war schon so anrührend mit ihrem letzten Kuss, kurz, bevor Romeo wieder von dannen ziehen muss: Julia auf der Galerie umarmt ihn, der am Balkonrand zappelt und schon Richtung Abgrund sieht.

"Romeo und Julia" - immer wieder ein Knüller

So sieht das Glück der Stars nach der Vorstellung aus: Yolanda Correa und Dinu Tamazlacaru nach „Romeo und Julia“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Und dann erst der große Pas de deux voller Angst und doch auch voll Erneuerung der Hoffnung: nach der heimlich gemeinsam verbrachten Nacht in Julias Bett wissen die Liebenden nicht, dass sie sich lebend später nicht mehr in die Augen sehen werden.

Dazwischen ergaben ein fulminanter „Tanz der Ritter“ mit repräsentativen Kissen in den Händen der Herren, die sie am Ende vor ihren Damen auf den Boden werfen, um selbst darauf zu knien und ihren Partnerinnen die Ehre zu erweisen. Auch in der Reprise – wenn der Schluss dieses mitreißenden Gruppentanzes der Capulets wiederholt wird – begeistert der die bürgerliche Macht mit feudalen Anklängen feiernde Corpstanz.

Und die Clowns! Auch sie bleiben im Gedächtnis, wenn man am Ende um die schöne Julia und den leidenschaftlichen Romeo trauert.

Munter und doch mysteriös, leichtfüßig und doch einprägsam vollführen sie ihre Kunststücke, wirbeln durch die Luft, mal im Flicflac, mal im Reigentanz.

Da sind schon viele barocke Momente in diesem Stück enthalten: Carpe diem, pflücke den Tag, so denkt man sich, denn die Lebenslust regierte wohl auch in der Renaissance schon fleißig mit.

"Romeo und Julia" - immer wieder ein Knüller

Applaus, Applaus nach „Romeo und Julia“! Vorn das Titelpaar, verkörpert von Yolanda Correa und Dinu Tamazlacaru, hinten links Alexej Orlenco als Paris, Julias Verlobter. So viele Emotionen sind zu sehen! Foto: Gisela Sonnenburg

Die mehrfachen Tours en l’air, die Romeo und seine beiden Kumpels simultan und sauber drehten, schwirren einem ebenfalls noch durch den Kopf, da befindet man sich schon mitten im dritten Akt – und Gevatter Tod, der grausige, kommt unsichtbar, aber spürbar, immer näher.

Paris hat ja keine Chance bei dieser quirligen, aber so zielstrebigen Julia!

Dabei ist Alexej Orlenco ein schmucker Mann, und die zwar unaufdringliche, aber deutliche männliche Überlegenheit, die er dem Paris bei dessen Darstellung verleiht, nimmt sehr für ihn ein.

Nur ist Juliens Herz bereits vergeben, bis ans Ende ihres jungen Lebens.

Der Mönch, zu dem sie flüchtete, als ihre Eltern sie verheiraten wollten, gab ihr ein Schlafgift, mit dem alle sie für tot halten mussten. Angstvoll tanzte sie ein existenzielles Solo, bevor sie die Phiole schließlich leerte. Ach, man fühlt so mit ihr!

Es gibt doch nicht Einfacheres und Natürlicheres als ein junges Mädchen und einen jungen Mann, die sich lieben. Wieso kann die Gesellschaft das nicht einsehen?

"Romeo und Julia" - immer wieder ein Knüller

Applaus versöhnt: Aurora Dickie, hier in der Mitte, spielte herzzerreißend die Gräfin Capulet, die Mutter von Julia, und steht hier happy und friedlich hinter dem wilden Montague Mercutio alias Olaf Kollmannsperger. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

In der Gruft flackert im Hintergrund ein Kerzenmeer, als Julia nach komatösem Schlaf auf ihrem eigenen Grab erwacht. Neben ihr – Romeo!

Von eigener Hand erdolcht, aus Liebe. Auf Vereinigung im Jenseits hoffend und nicht ahnend, dass Julia noch lebt.

Nicht mehr lange. Sie stolpert von der gruseligen Stelle, findet Paris am Boden ebenfalls tot – die Rivalen hatten sich ein letztes großes Gefecht um sie geliefert – und beschließt, Romeo zu folgen.

Es ist erschütternd, mit welcher Konsequenz John Cranko die Liebenden in den Tod schickt. Er tat es erstmals zu Beginn der 60er-Jahre, das Stück wurde sein erster überwältigender Erfolg. Das Stuttgarter Ballettwunder war damit geboren. Und viele andere Tanzmacher widmeten sich in Folge dem literarischen, dennoch hochdramatischen Thema ebenfalls.

"Romeo und Julia" - immer wieder ein Knüller

Freude beim Schlussapplaus im Jubel der Zuschauer: Yolanda Correa und Dinu Tamazlacaru nach „Romeo und Julia“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Könnte man sich „Romeo und Julia“ eigentlich mit Happy Ending vorstellen? Was wäre, wenn ihre Fluchtpläne – die sie im Ballett dem Libretto nach noch schlechter koordinieren als bei Shakespeare – besser abgesprochen hätten? Hätten sie eine Chance gehabt? Und sie genutzt? Und irgendwo auf dieser Welt, wo es keine Kämpfe zwischen Capulets und Montagues gibt, ein neues Leben begonnen?

Die Musik von Sergei Prokofjew birgt solche Hoffnung fast in jeder Phrase. Selbst wenn die dunklen Mächte sich hier zum Kampf gegen die linden Melodien stemmen, so stampft doch selbst im rhythmischen „Tanz der Ritter“ noch die Liebe als alles vereinendes Prinzip mit.

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Alevtina Ioffe kam dieses Mal mehr schlecht als recht über den ersten Akt, sammelte sich aber in der ersten Pause und vollführte im zweiten und dritten Akt wahre Luftsprünge der Kadenzen und Akkorde.

Vor allem die Bläser kreierten genau jenen Eindruck aus Massivität und Schwingung, den die Partitur hier ergeben muss.

"Romeo und Julia" - immer wieder ein Knüller

Das Glück der Vorstellung, auf der Bühne wie im Zuschauerraum. Hier mittig Yolanda Correa und Dinu Tamazlacaru als Titelpaar und Sarah Mestrovic als Rosalinde rechts nach „Romeo und Julia“ beim Staatsballett Berlin. Danke! Foto: Gisela Sonnenburg

Insgesamt ein wunderschöner Abend, über drei Stunden schwelgt man in Sehnsucht – und wünscht der großen Liebe des Titelpaares wenigstens im Tod endlich ihre Erfüllung.
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

 

ballett journal