Für immer ins Café Müller „Das Erbe der Pina Bausch“: die hervorragende Doku der Pina-Bausch-Expertin Anne Linsel läuft am 3. Juli 2019 auf arte

Pina Bausch - immer ein Renner

Eine Banane in der Art einer Kuh essen: Arbeit an der Kunst mit der Probenleiterin Jo Ann Endicott in der Lichtburg beim Tanztheater Wuppertal. Videostill aus dem Film „Das Erbe der Pina Bausch“ von Anne Linsel: Gisela Sonnenburg / arte

Eine Banane zu essen, als wäre man eine Kuh – ganz einfach ist das nicht, aber in der Lichtburg, jenem umgebauten ehemaligen Kino, in dem die legendäre Tanztheater-Erfinderin Pina Bausch stets ihre Proben abhielt, wird sorgfältig auch heute noch am Verdrücken einer Banane im Namen der Kuh geübt. Anne Linsel, Bausch-Expertin, Biografin und außerdem eine rundum versierte Koryphäe in Sachen Journalismus, zeigt in ihrer sorgsam recherchierten und nahezu poetisch gedrehten Doku „Das Erbe der Pina Bausch“, wie es mit dem Tanztheater Wuppertal heute weitergeht – vor zehn Jahren, am 30. Juni 2009, verstarb die Pionierin Bausch, die, bis heute künstlerisch unerreicht, einer modernen Mischung aus Tanz und Theater frönte. Das Wuppertaler Tanztheater hat seither ohne seine Gründerin die schwierige Aufgabe zu bewältigen, ihr Werk lebendig zu halten und auch neue Werke auf hohem Niveau hervorzubringen. Die Buchautorin und Fernsehjournalistin Linsel – deren Band „Pina Bausch – Bilder eines Lebens“ an dieser Stelle schon gerühmt wurden – geht behutsam, aber direkt mit ihrem Thema um. Sie hält sich wohltuend fern von Geschwätz und Gerüchten und lenkt die Aufmerksamkeit gekonnt auf das Wesentliche. Auf arte läuft dieses gute Stück Fernsehkunst, das unbedingt einen Preis verdient hat, erstmals am 3. Juli 2019, ab 21.55 Uhr. Bis zum 2. August ist es dann online in der arte mediathek zu genießen – gern auch mehrfach!

Denn immer wieder wird man im Film von neuen Perspektiven überrascht: wie in einer Bausch-Inszenierung dreht sich die Welt und zeigt mal diese, mal jene Facette des menschlichen Daseins.

Die Braut auf der Bühne ist grell aufgezäumt. Ist es überhaupt eine Hochzeit, auf der sie tanzt, oder ist alles nur ein kunterbuntes, tragikomisches Spiel für Erwachsene? Aber wer will das schon so genau wissen, wenn das Zusehen so viel Freude macht wie hier. „Palermo, Palermo“ heißt das Stück von Pina Bausch, die es 1989 zur Uraufführung brachte. Aber auch 2019 ist es, wie man hier sieht, ein Schmankerl.

Pina Bausch - immer ein Renner

Pina Bausch im Bild – sinnlich und poetisch, zeitgeistig und dennoch von zeitloser Modernität. Videostill aus dem Film „Das Erbe der Pina Bausch“ von Anne Linsel: Gisela Sonnenburg / arte

Zu Wort kommt neben langjährigen Weggefährten der Bausch– wie etwa Ruth Amarante und Lutz Förster, aber auch die bekannte Schauspielerin Mechthild Großmann („Tatort“-Staatsanwältin) – auch die künftige Chefin vom Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, wie die Truppe derzeit etwas umständlich heißt. Sie, Bettina Wagner-Bergelt, ließ vor einigen Jahren als stellvertretende Ballettdirektorin in München ein Stück der Bausch beim Bayerischen Staatsballett einstudieren.

Viele jubelten, ich verließ gelangweilt die Vorstellung, weil die Balletttänzer für mein Empfinden den kantigen Drive von Pina Bausch nicht mal entfernt rüberbrachten. Man braucht halt andere Körper als solche, die jahrzehntelang vornehmlich auf Ballett getrimmt sind, um die Mixtur aus Text- und Gestensignalen, aus der Bausch ihre Faszination bezieht, hinzubekommen. Gestelzte Gangarten oder auch zu geschmeidige Bewegungsflüsse sind da nur als Ausnahme denkbar.

Aber in Wuppertal wächst und erneuert sich die Truppe ja weiterhin nach den alten Regeln, und niemand muss befürchten, dort massenhaft ehemalige Balletttänzer zu sehen.

Das „Café Müller“ ist im Bausch-Werk zentral. 1978 entstanden, war es das einzige Stück, in dem Pina Bausch über viele Jahre auch selbst auftrat. Dank der großzügigen Förderung, die das Tanztheater Wuppertal weiterhin erhält, wird auch dieses Stück mit viel Erfolg immer mal wieder gezeigt.

Auf den fertigen Spiel- und Probenplan war Anne Linsel übrigens angewiesen, als sie ihre Drehs mit dem weltbekannten Ensemble absolvierte. Und er bot ihr genau das, was sie gesucht hatte: zueinander passende Elemente, die sowohl das Werk der Bausch als auch seine Zukunft phänotypisch repräsentieren.

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Die Auswahl und die Ruhe beim Dreh ist allerdings entscheidend. Da steckt viel Kleinarbeit hinter den oft wunderschön gelungenen „Verfilmungen“ der Einzelszenen.

Etwa in den „Arien“ von 1979: Während das Wasser auf der Bühne wie ein seichter See glänzt und die Protagonisten darin waten wie auf einem unvermeidbaren Pfad, wartet man auf irgendetwas Weltbewegendes, etwa ein Wunder, das die seltsame Bühnengesellschaft erlöst.

Die Damen tragen hier, wie so oft bei Bausch, schlichte, elegante Abendkleider, die aber auch entfernt an seidige Unterröcke erinnern. Die Pumps dazu stehen einerseits für den männermordenden Vamp-Mythos, andererseits für die Unterjochung der Frauen unter das patriarchalische sexistische Ideal.

Bei Pina Bausch ist nichts lau oder alltäglich. Alles ist extrem, gerade noch verständlich, exaltiert und intensiv angespannt.

Dieses Fluidum hat ihre nachgelassene Truppe unbedingt noch heute. Kein Wunder, dass man ihr überall, wo sie auftritt – und das ist nicht nur in Wuppertal, sondern auch auf internationalen Gastspielen – von Herzen zujubelt.

Pina Bausch - immer ein Renner

Pina Bausch und Rolf Borzik – Hippieflair war damals angesagt, auch diese beiden großen Liebenden lassen das hier aufblitzen. Videostill aus dem Film „Das Erbe der Pina Bausch“ von Anne Linsel: Gisela Sonnenburg / arte

1980“ heißt das Werk, das Pina nach dem Tod ihre Lebensgefährten und Bühnenbildners Rolf Borzikkreierte. „Wenn ich jetzt kein neues Stück mache, dann mache ich nie wieder eines“, hat sie damals gesagt. Weil das Versterben ihres Liebsten sie so sehr bis ins Mark traf.

Typisch für Bausch, so erfährt man im Film: Wenn es ihr schlecht ging, machte sie komische Stücke, wenn es ihr hingegen gut ging, kamen große tragische Momente dabei heraus.

1980“ ist entsprechend ein rasend komisches, ach, allerdings auch angefüllt mit absurdem, gar makabrem Tiefsinn.

„Es war mal wieder nach zehn Uhr“, erzählt dann die große Großmann, und sie erläutert, dass die Probenzeit eigentlich abends um 22 Uhr vorbei sein sollte. Aber wenn die Inspiration da war, dann ging es eben auch mal weiter. Pina Bausch hatte eine Methode, um originelle, wahrhaftig wirkende Szenen zu finden: Sie stellte Fragen, also gab Aufgaben wie im Schauspielunterricht. Einzelne stellten sich dann auf die Bühne – also die Probebühne – in der Lichtburg und gaben Antworten, die einer Improvisation glichen. Wenn etwas davon gut war – und das entschied Bausch– kam es ins Stück, an dem gerade gearbeitet wurde. Eine „Frage“ konnte dabei auch eine Aufforderung sein.

Pina Bausch - immer ein Renner

Lutz Förster war Tänzer mit und für Pina Bausch – er erzählt und bewertet sehr klug in der Doku „Das Erbe der Pina Bausch“ von Anne Linsel. Videostill: Gisela Sonnenburg / arte

Wie in diesem Fall an Mechthild Großmann: „Alles schön finden!“ Großmann aber war stinksauer über die verlängerte Arbeitszeit und machte aus ihrem Auftritt eine Parodie: Mit übergroßer Lederjacke mimte sie den zünftigen Macker, stapfte umher und bestaunte fachmännisch einen imaginären Rasen. „Der Rasen ist hier ja schön…“ – und sie konnte sich gar nicht beruhigen, so irre toll fand sie den banalen Rasen, wobei sie ihren Ärger gleich mit loswurde.

Und Bausch war auch zufrieden.

Allein schon, wie Großmann das hier erzählt, ist absolut sehens- und hörenswert!

Für die Künstler und Coachs sind Bauschs Stücke zudem wie lebende Organismen, die zum Atmen auch mal Austausch sprich neue Besetzungen brauchen.

Der Erbe von Bausch im realen Leben ist ihr Sohn. Salomon Bausch ist Jurist und gründete eine Stiftung, die das Erbe seiner Mutter künstlerisch authentisch halten soll. Die Stiftung bewahrt auch die dicken Aktenordner, in denen Bauschs Aufzeichnungen zu den Stücken versammelt sind.

Einen Choreologen hatte sie nicht, aber Videos und Fotografien ergänzen die handschriftlichen Notate. Um genau zu sein: etwa 9000 Videos und 200 000 Fotos sind es.

Aber nicht nur die Tänzerin Helena Pikon weiß es: Das Gefühl eines Stücks ist nicht allein vom Video zu erfassen. Und so geben ehemalige Bausch-Tänzer die Choreografien – mit Gefühl! – weiter, studieren ein, korrigieren, lassen so ein Stück neu auferstehen.

Und wie Bausch selbst ist man beim Verlebendigen der Werke äußerst „pingelig“.

Dass ihr „Sacre“ auch in Westafrika einstudiert wird, wo er eine neue Bedeutung erhält, und dass man in Paris „kreative Forschungsarbeit“ zu ihr betreibt, gehört zu weiteren guten Neuigkeiten. Wirklich: Pina Bausch wird auch in Zukunft nicht vergessen sein, sondern immer wieder ein großes Publikum finden. Die Generationen von Künstlern, die ihre Flamme der Begeisterung hoch halten, werden nicht abreißen – dafür sei auch Anne Linsel ein Dank gesagt, denn ohne fachkompetente, dennoch herzenswarme Vermittlung bliebe noch das bedeutendste Werk einer Schublade des Vergessens anheim gestellt.

Pina Bausch - immer ein Renner

Wie schön und wie traurig ist das Leben? Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch lotet das in jeder Aufführung neu aus – und Anne Linsel dokumentiert es in „Das Erbe der Pina Bausch“. Videostill: Gisela Sonnenburg / arte

Diese Doku ist jedenfalls jeden Cent wert, den sie gekostet hat, und jede Sekunde, die sie man sich ansieht. Und man kann arte nur dazu beglückwünschen, hiermit die Erstlandung zu tätigen.

Nicht verpassen!
Gisela Sonnenburg

Am 3. Juli 2019 um 21.55 Uhr auf arte – und bis zum 2. August in der arte mediathek online!

 www.arte.tv

 

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