Das Naive als inniges Verhältnis Mit Ksenia Ovsyanick und Denis Vieira tanzen zwei neue Berliner Stars in Nacho Duatos Version von „Der Nussknacker“ wie Musterikonen der Neoklassik – außerdem gibt es sieben Rollendebüts! So etwas schafft Sasha Waltz nicht…

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Ein Handkuss nach der Vorstellung beim Applaus ist gute Ballett-Tradition – und das Publikum jubelt noch mehr! Denis Vieira küsst hier die zarte Hand von Ksenia Ovsyanick, die beiden neuen Berliner Stars tanzten soeben den „Nussknacker“ von Nacho Duato in der Deutschen Oper Berlin. Foto vom 28.10.16: Gisela Sonnenburg

Bei Friedrich Schiller ist das Naive eine ästhetische Kategorie. Auch im Ballett haben das Naive und das Künstliche ein inniges Verhältnis zueinander, kulminieren im Künstlerischen, in dem sich Echtheit und Vortäuschung, Authentizität und Bespiegelung treffen. Neue Besetzungen haben es, zumal wenn die Premierenbesetzung den etablierten Stars galt und die Neuen sogar im Ensemble noch ganz neu, also in diesem Fall gerade erst in der Stadt angekommen sind, nicht immer leicht. Aber Ksenia Ovsyanick und Denis Vieira beweisen in „Der Nussknacker“ von Nacho Duato mit dem Staatsballett Berlin, dass mit naiver Grandezza und raffiniertem Schliff neue, atemberaubend schöne Interpretationen möglich sind: Der Titelheld und das Mädchen, das von ihm träumt, erscheinen hier zugleich als Musterikonen aus dem Kabinett der Neoklassik.

Weich und geschmeidig sind die Übergänge in Nacho Duatos Choreografie, der Bewegungsfluss hat Vorrang vor allem anderen. Insofern ist Duatos „Nussknacker“ tänzerisch modern.

Aber die Posen und Höhepunkte, die Hebungen und Würfe entsprechen vollauf dem klassischen Schönheitsempfinden!

Wenn sie so akkurat – dazu lieblich und herzlich – dargeboten werden wie von den neuen Berliner Stars Ksenia Ovsyanick und Denis Vieira, dann ist solch ein Tanz an sich schon eine Erbauung, eine Erquickung, eine Freude!

Da ist nichts verdreht, verhampelt oder verzerrt, keine Sekunde ist unschön.

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Ksenia Ovsyanick und Denis Vieira beim Schlussapplaus – nach dem „Nussknacker“ in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Man sieht die Tänzerinnen und Tänzer nicht nur von vorn, sondern auch oft seitlich im Profil, im Halbprofil oder von hinten.

Man sieht sie sich drehen, sich hin- und herbeugen, sich dehnen, sich hinknien, sich durch die Luft wirbeln.

Aber immer ist jeder Bruchteil einer Sekunde harmonisch und feinsinnig gestaltet.

Trotz aller Technik brilliert hier vor allem der Ausdruck, von Tugenden wie Zärtlichkeit, Schmelz, Grazie, Vitalität.

Das ist etwas, was Sasha Waltz und ihr Tanztheater, aber auch die neuen „virtuosen“ Russen wie die vom Bayerischen Staatsballett, nicht hinbekommen, vielleicht auch gar nicht hinkriegen wollen.

Das hat mit dem sportlichen Begriff „Leistung“ eben nichts zu tun, aber auch nichts mit pseudopoetischem Herumwabern (wie es bei Waltz zu sehen ist).

Eher ist es vergleichbar der Schönheit und Anmut von Pflanzen, die sich an ihrem Standort wohl fühlen und in eleganten Windungen und Verästelungen über sich hinaus wachsen.

Wind und Wetter spielen da eine Rolle; im Ballettsaal sind es das Training und die Probenarbeit, die für das Resultat prägend sind.

Pflanzen brauchen das Licht, um ihre Blätter ausbilden zu können; eine Ballettcompagnie braucht eine Führung, die ihnen Mut zuspricht und sie motiviert.

Darum sind Ikonen des Ruhms oder der Bühnenerfolge oftmals richtig gewählt als Ballettintendanten oder –direktoren.

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Ganz große Kunst: Solisten und Corps beim Schlussapplaus nach „Der Nussknacker“ von Nacho Duato mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Nicht nur ihre Erfahrung zählt dabei, sondern auch ihr Knowhow im Umgang mit all den Dingen, die Ballett schwierig machen.

Letztlich ist aber auch wichtig, dass sie als Autorität akzeptiert werden können.

Was dann entsteht – wenn auch das Ballettmeisterteam entsprechend auf hohem Niveau zu arbeiten versteht – ist eine einmalige, für jeden subjektiv zu erfühlende, aber auch objektiv zu beobachtende Nähe zu etwas, das zugleich in jedem Menschen vorhanden ist, dennoch aber auch überirdisch zu sein scheint.

Das ist ein spiritueller Aspekt, den Ballett – unabhängig von Religionen oder Philosophie-Modellen – beinhaltet.

Vielleicht hat es mit dem zu tun, dem Immanuel Kant auf der Spur war: dem Zusammenhang zwischen dem eigenen Ich und dem Sternenzelt als Synonym für das große Weltgeschehen.

Man wird diesen Zusammenhang nie in schubladenartige Strukturen zwängen und fassen oder gar konkret benennen können.

Aber es gibt ihn, und jedes lebendige Wesen weiß das, weil es ihn spürt. Mit jedem Atemzug…

Insofern passt es auch, dass der nächtliche Himmel in Duatos „Nussknacker“ (Ausstattung: Jérome Kaplan) übersät ist mit großen und kleinen Sternen. Es wird somit hingewiesen auf den Kontext des einzelnen Individuums zum großen Ganzen.

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Noch einmal der Handkuss – hier im Kontext des Geschehens, beim Schlussapplaus nach „Der Nussknacker“ am 28.10.16. Foto: Gisela Sonnenburg

Vor allem aber ist es ein sehr hoher Wert einer Kulturdarbietung, diese Form der Verbindung von sinnlicher Körperlichkeit und spiritueller Erfahrung anzubieten. Das ist ein ballettspezifischer Wert – denn nur hochkarätiges Ballett schafft diese Form der anmutig-erotischen, metaphysisch äußerst wirksamen Erhebung.

Es ist ja kein Zufall, dass das Publikum im Ballett in Ovationen ausbricht wie in kollektive Orgasmen.

Das schafft Tanztheater niemals – dafür wurde es weder erfunden noch wird es dafür gemacht.

Sasha Waltz kann darum trotz frenetischer Anhänger von solcher Verwandlung eines Publikums in staunende, bewundernde, euphorisch beglückte Seelen wirklich nur träumen.

Das sollte die Berliner Kulturpoltik, so ungebildet sie zum Teil auch sein mag, nun endlich mal zur Kenntnis nehmen. Sie hat hier Verantwortung, ein Kulturgut zu erhalten, das weltweit gelobt und gerade in Berlin sogar geeignet ist, große Häuser wie die Deutsche Oper Berlin (DOB) mit ihren über 1800 Plätzen auszulasten.

Mit einem Tanztheater von Sasha Waltz kriegt man vielleicht gerade vierzehn oder fünfzehn Mal pro Jahr das kleine Schiller Theater voll. Vielleicht sogar zwanzig Mal oder so. Die Schaubühne am Lehniner Platz hatte hingegen auch Probleme mit Sasha Waltz.

Und diese beiden Häuser zu bespielen, ist nicht annähernd damit zu vergleichen, wöchentlich – und mitunter mehrfach wöchentlich – 1800 Plätze in der DOB zu besetzen, und das eine ganze Saison lang!

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Das Quartett vom „Chinesischen Tanz“ mit dem Ensemble beim Verbeugen – nach dem „Nussknacker“ von Nacho Duato am 28.10.16. Foto: Gisela Sonnenburg

Mein Appell gilt dem zukünftigen Kultursenator (denn endlich wird die unsinnige Personalunion von Regierendem Bürgermeister und Kultursenator wohl wieder aufgehoben), als welcher nach meinem aktuellen Kenntnisstand Klaus Lederer von der Berliner Linken avisiert ist:

Geben Sie Ballett-Freiheit! Befreien Sie das Staatsballett Berlin vom Damoklesschwert in Person Sasha Waltz! Berufen Sie eine ballettkundige (nicht nur tanzkundige) Kommission ein, die fachlich kompetent eine Nachfolge für Nacho Duato als Ballettintendanz finden kann! Lassen Sie die Sache öffentlich diskutieren, auf die Gefahr hin, dass man es nie allen Recht machen kann. Und übergehen Sie dabei nicht die Tatsache, dass das Staatsballett Berlin – den Unkenrufen mancher Tanz-Journalisten zum Trotz – ein international hoch geschätztes Ansehen als klassisches Ensemble hat!

Man will hier in Berlin das, was in den vergangenen zehn, zwölf Jahren aufgebaut wurde, nicht wieder verlieren.

Man will hier weder russischen Leistungssport in Tutu noch Tanztheater à la Sasha Waltz im Ballett.

Man will hier zeitgemäßes klassisches und neoklassisches Ballett.

BALLETT!

Das wollen die Ballettkritiker (die nicht identisch sind mit den Tanzkritikern), das wollen die Balletttänzer (logischerweise), das wollen aber auch die internationalen Ballettexperten, das will das Publikum in Berlin, und sogar die Touristen wollen das!

Was die Auslastungszahlen der letzten Zeit und sogar des letzten Jahrzehnts beweisen.

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Ballett ist viel Arbeit hinter den Kulissen: Hier die elegante Ksenia Ovsyanick und der rasante Denis Vieira bei der Probe, so zu sehen auf Facebook beim Account vom Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov /Faksimile: Gisela Sonnenburg

Ballett soll also bitte Ballett bleiben.

Für Tanztheater muss an anderer Stelle gesorgt werden, und in Berlin ist das ja nun auch bereits der Fall.

Mit den Sophien-Sälen, dem Radialsystem, dem Festspielhaus und künftig wohl auch der Volksbühne gibt es geförderte Spielorte, an denen regelmäßig Tanztheater stattfindet oder stattfinden kann. Nicht zu vergessen Orte wie die Ufa-Studios und die Spielstätten vom HAU.

Da muss man nicht das Staatsballett Berlin als traditionelles Ballett opfern, nur um ein bisschen mehr Remmidemmi in der Berliner Kulturbude zu haben.

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Noch einmal Rasanz und Eleganz: Ksenia Ovsyanick und Denis Vieira proben für den „Nussknacker“. So zu sehen bei Facebook auf dem Account vom Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov / Faksimile: Gisela Sonnenburg

Die verschiedenen Besetzungen vom Berliner „Nussknacker“ sind da sehr geeignet, sich den Unterschied zwischen modernem Ballett (Nacho Duatos „Nussknacker“) und zeitgenössischem Tanztheater (im November 2016 ist etwa das Stück „Körper“ von Sasha Waltz im Festspielhaus zu sehen) vor Augen zu führen.

Jeder, der beide Inszenierungen besucht, wird bemerken, dass das völlig unterschiedliche Kunstsparten sind, die nicht vereinbar sind, es sei denn als Ausnahme.

Man kann auch eine Vorstellung von „Duato / Kyliàn“ vom Staatsballett Berlin noch mit dazu nehmen, um festzustellen, dass auch abstrakte Ballette nicht mit Tanztheater gleichzusetzen sind.

Man rottet nicht die eine Kunstsparte (Ballett) aus, um eine andere (Tanztheater) stärker zum Blühen zu bringen.

So etwas ist unsittlich und spricht zudem, mit Verlaub, von großer Unbildung.

Man würde auch nicht die Oper in ein Kabarett wandeln wollen oder in eine Revue oder in einen Chansonkeller. Das könnte man mal für eine Produktion machen, als Gag, als Aufreißer, als Provokation. Aber dauerhaft würden sich wohl alle beteiligten Entscheider eher die Haare ausreißen, als einer solchen Idee zu folgen.

In der DOB jedenfalls ist mit der Neubesetzung vom „Nussknacker“ eine Kunst zu erleben, die in ihrem Verzicht auf billige Effekthascherei, aber unter Ausnutzung der anspruchsvollen Möglichkeiten, durchaus Berlin-typisch ist.

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Und alle zusammen beim Schlussapplaus, in schwarzem Frack der meisterhafte Dirigent Robert Reimer, nach „Der Nussknacker“ in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Doch, das Staatsballett Berlin hat eine eigene Linie, es hat sie in den Stücken von Nacho Duato, in den Stücken von John Cranko, in den Stücken von Patrice Bart.

Warum das zerstören statt es weiter zu pflegen und sich entwickeln zu lassen?

Es muss ein Ballettchef oder eine Ballettchefin her, der oder die Ahnung von der Klassik wie von der Moderne hat, der oder die demokratisch denken kann – und der oder die das Staatsballett Berlin kennt, möglichst aus eigener Anschauung.

Dabei müssen die künstlerischen und die nichtkünstlerischen Spezifika dieses Ensembles berücksichtigt werden.

Wolfgang Brauer, langjähriger Abgeordneter der Linken im Berliner Parlament und dieses Jahr von AfD-Wählern in seinem Bezirk aus dem Job gekantet, hat hier bereits vorgearbeitet, indem er dem höchst demokratischen Staatsballett Berlin, dieser tollen Truppe, während ihres Streiks 2015 / 2016 den Rücken stärkte.

Jetzt, in der Spielzeit 2016 / 2017, sehen wir, dass eine Demokratisierung von unten im Ballett möglich ist.

Nur so kann sich das Ballett erneuern: durch die Allgemeinheit seiner Mitglieder und nicht durch das Aufsetzen einer neuen Spitze. Das ist zeitgemäße Evolution in der Kultur, die sich nicht zufällig auch im Künstlerischen niederschlägt.

Beim Staatsballett Berlin ist das Ensemble nämlich besonders stark und wertvoll.

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Tanzen nach Auffassung mancher Kenner besser als die Solisten beim Stuttgarter Ballett: Corps-Paare vom Staatsballett Berlin, hier beim Schlussapplaus, nach „Der Nussknacker“ von Nacho Duato am 28.10.16. Foto: Gisela Sonnenburg

Das war ja auch weltweit ein einmaliger Vorgang: Dass sich ein klassisches Ballettensemble neue Arbeitsrechte und einen neuen Tarifvertrag erstreikt.

Wir sehen weiter: Dieses klassische Ballettensemble tanzt dennoch oder gerade deshalb die Klassik, die ja auch auf ein wichtiges großes Ensemble und nicht nur auf die Solisten setzt, mit solcher Präzision und Hingabe, dass man schon allein deshalb, für diesen exzellenten Gruppentanz, in die Vorstellungen kommen kann.

In der Tat berückt das auch im „Nussknacker“ – und zwar auch etliche Vorstellungen nach der Premiere noch – mit einem wunderschön ausbalancierten Ensemble beim SBB.

Das Damen-Corps wie die Herren beherrschen ihre Kunst!

Die Tänzerinnen fliegen nur so dahin: synchron, leichtfüßig, mit offenkundiger Lust und dennoch so fein und elegant, als seien sie von einem inspirierten Maler mit Aquarellfarben hingetupft.

Die Jungs brillieren mit starken Sprüngen, schönen Führungen und Hebungen der Damen, ihre Linien stimmen – und das Miteinander der Paare ist überhaupt ein einziger Freudenquell.

Irgendwie wirkt hier der Walzer ständig neu erfunden, so lebendig, so quirlig, so wenig herzlos routiniert und dennoch so meisterhaft wird er dargeboten!

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Ohne sie geht nichts im klassischen Ballett: fabelhafte Corps-Tänzerinnen und -Tänzer beim Staatsballett Berlin. Hier beim Applaus nach „Der Nussknacker“. Foto: Gisela Sonnenburg

Im Publikum sagte mir denn auch ein Zuschauer, er sei der Meinung, es gäbe beim Staatsballett Berlin im Ensemble bessere Tänzerinnen und Tänzer als beim Stuttgarter Ballett unter den Solistinnen und Solisten.

Er schien mir nicht ganz kenntnislos!

Und um bei Stärken des SBB zu bleiben:

Als aktuelle Visitenkarte vom Staatsballett Berlin kann man die klassische, aber detailreich psychologisch aufgehübschte „Giselle“ von Patrice Bart nennen.

Da ist jede Vorstellung ein Fest ohnegleichen, und egal, ob man die Klassik bereits liebt oder sie zum ersten Mal erlebt: Man bekommt sie in all ihrer Fülle und mit all ihren spannenden Reizen serviert.

Am 10. November 2016 werden denn auch Ksenia Ovsyanick und Denis Vieira in den Hauptrollen von „Giselle“ debütieren – mal sehen, ob ihnen das Romantisch-Zauberhafte darin genaus so liegt wie die modernisierte Klassik vom „Nussknacker“.

In Letzterem tanzen Ovsyanick und Vieira ihre Partien jedenfalls mit großer Sauberkeit und Präzision, sie verzichten auf jedwede Form der simplen Angeberei und bestechen solchermaßen mit Tiefgang – kräftig unterstützt von dem bereits erwähnten fabelhaft aufgelegten Ensemble des SBB sowie von gleich sieben Rollendebüts in einer Vorstellung.

Nicht, dass die Premierenbesetzungen dieser Rollen nicht gut gewesen wären. Im Gegenteil! Aber es macht eben auch Spaß, weitere Interpretationen kennen zu lernen.

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Kaum zu erkennen im Kostüm, aber beim Tanz, da kann man ihn identifizieren: Federico Spallitta als Mausekönig, hier beim Applaus nach „Der Nussknacker“. Foto: Gisela Sonnenburg

Da tanzt der flippig-gelenkige Federico Spallitta jetzt den Mausekönig, diesen bösen, ekelhaften, widerlich-widerspenstigen Anführer jener Tiermenge, die Nacho Duato von allen mir bekannten „Nussknacker“-Choreografen (und das sind viele) am besten kreierte.

Seine Mäuse sind wie Ratten, und sie besiedeln die Traumsphäre der kindlichen Clara wie Ausgeburten aus einem Stephen-King-Roman.

Absolut toll getanzt werden sie von Alexander Abdukarimov, Alexander Akulov, Artur Lill, Vladislav Marinov, Alexander Shpak, Ulian Topor, Wei Wang und Dominic Whitbrook.

Ihr Anführer ist mit Federico Spallitta einer jener theatralen Bösewichte, die im Grunde an ihrer eigenen Bosheit zu Grunde gehen, bevor er vom Helden, dem Nussknacker-Prinzen, mit dem Schwer abgestochen wird.

Zuvor aber gibt es einen flotten Weihnachtsabend bei Familie Dr. Stahlbaum auf der Bühne zu erleben.

Herr Dr. Stahlbaum, erstmals von Alexej Orlenco getanzt, einem musterhaften Bühnen-Beau übrigens, der sich just in der letzten Spielzeit enorm gemausert hat, führt ein freundliches Haus, das angefüllt ist von Kinderlärm und putzigen Spielzeugen.

Seine Gattin, von Sebnem Gülseker mit dem schönsten Rückendekolleté Berlins in goldglitzerndem Abendkleid getanzt, ist eine charmante Augenweide, keine strenge Domina.

Na, und ihr Sohn Fritz, von Dominic Whitbrook mit bereits bewährter sprudelnder Bubenhaftigkeit getanzt, ist denn auch nicht wirklich gut erzogen. Er ist halt in einem Alter, in dem er am liebsten mit dem Roller durchs Wohnzimmer rast, mit Spielflugzeugen viel Ärger bereitet und zudem gern die große Schwester quält.

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Ksenia Ovsyanick, hier ganz nah betrachtet, beim Schlussapplaus glücklich lachend, nach „Der Nussknacker“ mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Sie ist Clara, von Ksenia Ovsyanick mit dem schon ausführlich geschilderten Flair getanzt. Wenn sie einen Luftballon in der Hand hält, weiß man nicht, wer oder was leichter wirkt, der Ballon oder die Ballerina!

Sie kommt übrigens direkt aus London, vom English National Ballet zu uns nach Berlin. In Minsk geboren und dort, in Weißrussland, ausgebildet, befanden ihre Lehrer sie zunächst für zu klein gewachsen (ein echtes Fascho-Argument im Ballett und nur für jene Rückschrittlichen geeignet, die Menschen nach Maß und am allerliebsten wie Klone tanzen sehen wollen). Gegen das Versprechen, doppelt so hart zu arbeiten wie die anderen, durfte Ksenia in der Profi-Ausbildung, die bei Tänzern schon im Kindesalter beginnt, bleiben.

Athletik half ihr neben dem Ballett, den Körper zu stählen und widerstandsfähig zu machen. Das Poetisch-Sensible ihres Tanzes aber prägte sich ebenfalls zeitglich mit den Muskeln in den zunehmenden Jahren weiter aus.

Mit Erfolg: Im Alter von nur 15 Jahren erhielt sie ein Stipendium für London (über ein Schautraining beim Prix de Lausanne). Und nur fünf Jahre später tanzte Ksenia Ovsyanick in London bereits die „Giselle“!

Das Stück ist also sehr eines von ihr, sozusagen, auch wenn die Version von Patrice Bart, die es beim SBB gibt, für sie neu ist. Der Kern der Geschichte, der Charaktere und auch der Choreografien ist jedoch stets ähnlich in den klassischen „Gisellen“, sodass man eine rundum erfahrene, ausgereifte, dennoch mit 27 Jahren noch sehr junge Titelheldin erwarten darf.

Schon ihre wundervollen Armgesten, bereits im „Nussknacker“ jeden Zungenschnalzer wert, werden ihre „Giselle“-Darstellung vermutlich zu einem großartigen Erlebnis machen.

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Denis Vieira, beim Schlussapplaus nach „Der Nussknacker“ in der Deutschen Oper Berlin: ein Prinz und Tänzer vom Feinsten. Foto: Gisela Sonnenburg

Ihr Tanzpartner in Berlin stammt aus Brasilien: Denis Vieira musste für seine Ausbildung zum Tänzer kämpfen, zum Glück gibt es seit 2000 einen Ableger der Bolschoi-Schule in Rio de Janeiro, die einzige Auslandsfiliale dieser Art übrigens. Als hoch Begabter absolvierte Denis diese Bolshoi Theatre School mit Verve und tanzte, noch blutjung, in Brasilien bereits den „Onegin“ und darin auch den Lenski. Wow! Was für ein Start in eine Tänzerkarriere!

Neben Rollen in abstrakt-modernen Stücken folgten Hauptpartien in „Romeo und Julia“, „Schwanensee“ und eben auch „Giselle“. Auch Denis Vieira ist also ein erfahrener Albrecht, der schon mehr als zwei, drei Vorstellungen in dieser schweren Partie erlebt hat. Übrigens handelt es sich dabei sogar um die Version von Patrice Bart, denn die wird in Zürich, wo Denis zuletzt wirkte, ebenfalls getanzt.

Christian Spuck holte ihn 2014 nach Zürich, von wo Denis Vieira nun zu Nacho Duato und dem Staatsballett Berlin kam. Nicht ohne zuvor noch einen Förderpreis in Zürich kassiert zu haben!

Den Nussknacker-Prinzen, den Clara sich unterm Weihnachtsbaum erträumt, spielt er mit großem körperlichen Darstellertalent, er ist wandelbar zunächst die steife, hölzerne Puppe, später der wunderhübsche, weich tanzende, hoch und sauber springende Prinz.

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Weronika Frodyma und Shahar Dori: Beim Applaus nach „Der Nussknacker“ in den Kostümen ihres temperamentvollen „Spanischen Tanzes“ in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Heinrich von Kleist schrieb einen viel beachteten Aufsatz über das Marionettentheater, und an die rätselhafte Fähigkeit der Puppen, uns zu rühren, fühlt man sich hier auch erinnert.

Und bevor wir den Nussknacker selbst so in Aktion sehen, sprechen bereits die Puppen Pierrot und Columbine dieses Thema hier an.

Im ersten Akt, bei der fröhlichen Weihnachtsfeier.

Seung Hyon Lee ist da als Pierrot eine absolut begeisternde Novität!

Elastisch weiß er die großen Sprünge zu nehmen, und dass seine Arme in überlangen, zwangsjackenähnlichen Ärmeln stecken, scheint sein tanzintensiver Körper völlig zu vergessen. Fantastisch schaut es aus, wenn er sich in Sehnsucht nach der Columbine verbiegt oder vor Freude an der kurzen Freiheit, nicht im Puppenschrank eingesperrt zu sein, in die Luft springt.

Ekaterina Petina, die soeben vor Igor Zelensky aus München zum Staatsballett Berlin floh, ist aber auch eine Columbine von Coppélias Gnaden! Diese Columbine ist stolz darauf, eine Menschenpuppe zu sein, würdevoll absolviert sie ihre an „Petruschka“ erinnernden Bewegungen.

Sicher wird sie eine Inspiration im SBB sein; eine, die mit großen Gesten etwas anzufangen weiß.

Gar nicht neu, sondern hundertfach bewährt in Berlin ist hingegen Michael Banzhaf, der nun (wieder einmal in einer neuen Inszenierung) den Drosselmeier tanzt.

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Michael Banzhaf tanzt nicht zum ersten Mal den Drosselmeier – aber zum ersten Mal in Nacho Duatos Version vom „Nussknacker“ in der DOB. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Als Patenonkel schenkt er der kleinen Clara den Nussknacker – und ist ein süffisant-geschmeidiger Gast in diesem Bürgerhaushalt der Stahlbaums, einer, der den Duft der großen weiten Welt mitbringt.

Und wie in so manchen „Nussknacker“-Versionen vor Duato weiß Banzhaf auch hier zu überzeugen…

Kein Wunder, dass Clara nach einem Geschenk von ihm ins Träumen gerät…

In ihrem multikulturellen Traumland erlebt sie dann, wie auf einer Fernreise durch die Welt im Zeitraffer, die Tänze verschiedener Länder.

Im „Spanischen Tanz“ debütierten Weronika Frodyma und Shahar Dori – mit Temperament und Erotik!

Der „Arabische Tanz“, von Julia Golitsina, Alexander Abdukarimov und Dominic Whitbrook hoch elegant dargeboten, ist hingegen virtuos-brillant in seiner schlängelnden, orientalischen Artistik.

Der „Chinesische Tanz“ mit Marina Kanno, Patricia Zhou, Vladislav Marinov und Wei Wang ist flott, akkurat, ein Genuss.

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Vier Matrosen, die auf russisch-folkloristische Art tanzen: beim Schlussapplaus nach „Der Nussknacker“ in der DOB. Foto: Gisela Sonnenburg

Mit dem „Russischen Tanz“, von Alexander Akulov, Arshak Ghalumyan, Konstantin Lorenz und Alexej Orlenco herrlich spritzig getanzt, ergibt sich sogar ein Bezug zu den Weltmeeren, denn es sind hier Matrosen, die zur folkloristischen Musik auftrumpfen. (Leider sind ihre Kostüme mit je einem Unterhemd zur langen Pumphose einfach nicht matrosenhaft genug!)

Dann, wie schon in der Premierenbesetzung, folgt ein ganz besonders delikates Paar: Luciana Voltolini und Kévin Pouzou.

Man könnte glauben, ihr Pas de deux, der „Französische Tanz“, sei bereits der Beginn des Grand Pas de deux, der traditionell den Höhepunkt eines klassischen Balletts bildet.

Luciana und Kévin haben ganz ohne Zweifel das Zeug zu Ersten Solisten, sie zeigen hier mit absoluter Feinheit und Genauigkeit so viel Herz und Linienführung in den Figuren, dass es ein Jammer ist, dass man in einer laufenden Vorstellung kein da capo, also keine Zugabe, erwirken kann.

Schelmisch, lieblich, verspielt, voller Achtung füreinander – und dennoch technisch glasklar bieten Voltolini und Pouzou Hebungen, Drehungen, Synchrontänze, sie springen zusammen, die flirten nach allen Regeln des Balletts – und verkörpern so den besten Ausblick auf die Zukunft des SBB.

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Luciana Voltolini und Kévin Pouzou: ein wunderbares Paar wie aus dem Poesiealbum der neckischen Liebschaft. Im „Französischen Tanz“ aus Nacho Duatos „Nussknacker“ beim Staatsballett Berlin. Man wünscht sie sich auch in großen Rollen! Foto vom Schlussapplaus vom 28.10.16: Gisela Sonnenburg

Man wünscht sie sich unbedingt als „Romeo und Julia“, als „Giselle“ und Albrecht, auch als Hauptpaar im „Schwanensee“ (was für Voltolini sicher zunächst eine Bürde wäre, aber das ist diese hoch komplizierte, sehr anstrengende Doppelrolle des weißen und schwarzen Schwans für jede junge Ballerina!).

In der Gegenwart jedoch sind Ksenia Ovsyanick und Denis Vieira die beiden neuen Stars, die mit makelloser Technik bei inniglichem Spiel die Herzen der Ballettfans mit dem klassisch aufgebauten Grand Pas de deux erobern dürfen.

Paartänze und Soli der beiden ergeben sich hier organisch abwechselnd, Vieira springt und dreht und barmt für seine Liebe, während Ovsyanick mit zierlichen Schritten und flirrendem Pirouettentempo mitzureißen weiß.

Und wenn Ksenia dann rückwärts in Denis’ Arme fällt und sich eine George-Balanchine-Linie vom Allerfeinsten ergibt, was zum Glück mehrfach hier der Fall ist, ach – dann hat der eine Moment ihres Aufgefangenwerdens die Tragweite von ganzen Jahren der Liebeskunst, so stark, so intensiv berührt er die Zuschauer. Bravooooooh!

Der Applaus für die beiden zuletzt genannten Paare ist denn auch heftig, das Publikum schwelgt in Glückshormonen, und wir vergessen nicht, uns bei dem Meister des Orchesters zu bedanken, denn ohne ihn wäre die Show kaum ein Gesamtkunstwerk.

Robert Reimer ist sicher einer der besten Ballettdirigenten weltweit (ich kenne nicht alle, aber viele) – mit wunderbar eingetakteten Rhythmen entlockt er der bekannten Musik von Peter I. Tschaikowsky im Detail immer wieder neue Klangfarben.

Nie schwallt das Orchester unter ihm, und nie zerzupft er es in harsche Bruchstücke. Doch die einzelnen Instrumentengruppen sind fein sauber hörbar, sodass sich ein Chor aus Einzelstimmen ergibt, wie es sein soll.

Neue Stars in Berlin - sowas schafft Sasha Waltz nie.

Unbestritten ein Meister des Ballettdirigats: Robert Reimer, hier beim Applaus nach „Der Nussknacker“ mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Dass Reimer es dann auch noch immer wieder schafft, auf die Tänzerinnen und Tänzer einzugehen und den Einsatz für ihre Bühnenaktion passend zu erteilen, macht staunen – und lieben!

Der tosende Applaus für das Staatsballett Berlin und seinen Dirigenten Robert Reimer hielt denn auch lange an…

So eine Kunst, solche Abende, sollte Berlin wirklich nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Das wäre nämlich nicht naiv, sondern dumm.
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“ oben

Und der Bericht von der „Nussknacker“-Premiere:

www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-duato-nussknacker/

Und eine weitere Stargast-Besetzung mit Maria Eichwald:

www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-nussknacker-maria-eichwald/

Texte zum „Nussknacker“-Vergleich mit verschiedenen Inszenierungen unter „Hamburg Ballett“, „TV-Termine“ und „Semperoper Ballett“

www.staatsballett-berlin.de

 

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