Land gewinnen. Neues Land. Es dem Meer abtrotzen. Xin Peng Wangs Faust ist einer von heute – und hat diese ganz ernst gemeinte, dennoch auch symbolisch funktionierende Vision: Er sieht sich als Retter für Flüchtlinge, indem er ihnen neu gewonnenes Land zum Leben anbieten will. Wang lässt den beim Dortmund Ballett gastierenden Starballerino Marlon Dino mit „Faust II – Erlösung!“ solchermaßen einen Blick in die Politik riskieren. Kunst und Macht? Es geht ausnahmsweise mal nicht um Naturschutz oder um die Realisierbarkeit solcher Ideen. Auch nicht um weitere benachbarte Probleme, die die Flüchtlingskrise aufwirft. Es geht um Denkanstöße – und es geht um das Seelenheil einer mythologischen Figur, die die abendländische Kultur seit rund 500 Jahren beschäftigt.
„Faust I – Gewissen!“ hatte Wang sein erstes „Faust“-Ballett genannt, nach der Tragödie erstem Teil, frei nach Goethe. Denn tatsächlich ist der „Faust“ eine moraltheoretische Arbeit, und tatsächlich gab es in Goethes Leben Vieles zu verzeihen.
Jetzt folgt der zweite Teil, frei nach „Faust II“ – und aus der schwergewichtigen Gymnasiasten-Kost wird ein in sich schlüssiges, leichthin fließendes, illusionsmächtiges, aber auch als Collage schön verständliches, zudem aktuelles Handlungsballett.
Zweifelsohne ein ganz großer Wurf, der Dortmund zur bedeutenden Ballettmetropole macht.
Lichtspiele aus Laser des Künstlers Li Hui, unterstützt vom Lichtdesign von Ralph Jürgens und von Tobias Ehinger (der für die Ballette Wangs bereits ein Lichtspezialist wurde), sorgen dabei für einen fulminanten Farbrausch während des ganzen abendfüllenden Ballettdramas, derweil die mit viel Spannung aufgeladene Choreografie von Xin Peng Wang die Zuschauer mitnimmt auf eine große virtuelle Reise: durch die Tiefen und Untiefen des menschlichen Geistes und Zeitgeistes, durch die Strömungen der Möglichkeiten und hoch hinauf in höchstes Liebesglück.
Die Höhepunkte sind die getanzten Beziehungen der Menschen zueinander – und auch der Teufel ist hier mit Dann Wilkinson ganz irdisch, ganz menschlich verkörpert: ein verlockend hübscher, diabolisch-dekadenter Punkrocker, der später eine gierige, marionettenhafte Hofgesellschaft erst vor- und dann verführt, die EU-Fahne schwingend, um sie mit einem Regen aus Geldscheinen zu belohnen.
Die Flüchtlingsszenen – etwa qualvoll ertrinkende Boat People in einem Meer aus Laserlicht und heftige Kriegsszenen mit einigen Toten – beeindrucken sehr und machen nachdenklich; sie berühren einen unabhängig von der Meinung, die man von der Politik in diesen Dingen hat.
Und dann ist da die Frage nach dem Schöpfergeist und dem, was uns Irdischen erlaubt sein soll. Darf der Mensch sich im Labor künstliche Wesen erschaffen, wie es in der Literatur Fausts einstiger Schüler Wagner macht und wie es heute in der Realität durchgeknallte britische Gentech-Forscher machen (mit Tieren)?
Auch dieser historische Kern von Goethes „Faust“ findet sich hier.
Die Homunculus-Thematik ist zudem mit dem schönen, so sehr geschmeidigen und keck ausdrucksstarken Giacomo Altovino ganz hervorragend besetzt: Zuerst tanzt er sehnsüchtig-melancholisch in einem Käfig aus Laserlicht, um dann, nach der Pause, einen Befreiungs- und Beglückungstanz wie aus der Raumpatrouille Orion als Ballett hinzulegen.
Und als zeitgleich zu seinem Käfigtanz eine Cellistin live auf der Bühne spielt, sorgt die enge Verbindung zwischen Musik und Tanz für absolute Gänsehaut-Momente!
Es sind übrigens verschiedene moderne Musiken, unter anderem von David Lang und Michael Gordon, von Luciano Berio und Louis Andriessen, die hier das Stück akustisch bebildern. Letzterer zitiert den berühmten „Götterfunken“ aus Beethovens neunter Sinfonie – und ausgerechnet zu Mephistos Triumph wird die berühmte Melodie verwendet.
Das rüttelt auf, alarmiert, stellt auch ohne weitere inszenatorische Kniffe die Mainstream-Lebensweise in Frage…
Bevor auch der Homunculus seine Erlösung findet, wird allerdings viel geträumt in „Faust II – Erlösung!“
Da träumt Faust, auf der kaiserlichen Pfalz weilend, zu Beginn vom Leben als ständigem Fest, welches alle Vorzüge des luxuriösen Lebens und alles, was erstrebenswert ist, in sich vereinen möge. Die Ideale der Klassik, verlebendigt… und George Balanchine gilt hier als choreografische Inspiration fürs Akademische im besten Sinne. Aber die Losung vom großen Glück bleibt zunächst nur als Hoffnung bestehen…
… welche sich erst erfüllt, als Faust Helena begegnet und sich sofort in sie verliebt. Die Utopie der Liebe, sie ist es, worauf Fausts Streben hier abzielt.
Aber weil das egoistisch-privatistische Glück nicht ausreicht, um ein guter oder vollwertiger Mensch zu sein, stellt Faust sich hier der Frage der leidenden Menschheit, personifiziert von den Flüchtlingen.
Das Ergebnis ist bekannt: Ihm kommt die Idee, mit Dämmen aus dem Meer Land zu gewinnen, damit die Flüchtlinge sich dort einrichten können.
Forscher- und Gutmenschentraum verschwimmen hier zu einer politischen Pointe – und doch will Faust vor allem die Hochachtung der Frauen weiterhin erzielen, so mag man vermuten.
Mephisto, von Dann Wilkinson nach allen Regeln der Tanzkunst teuflisch toll dargestellt, darf aber auch träumen: Die wilde Walpurgisnacht ist sein Ziel, denn der Ausschweifung der Sinne gilt all sein Streben.
Es ist indes eine „Warteschleife des Glücks“, in die er lockt, verrät das Szenario im Programmheft – nun ja, in Mephistos Fängen wird das Leben rasch ein Teufelskreis des Konsumismus, aus dem so schnell keiner mehr allein heraus findet. Wer kann das nicht nachvollziehen?
Margarethe, das gute alte Gretchen aus „Faust I“, schließlich träumt von Unterlassung statt von Taten. Denn hätte Faust Gretchen nicht geschwängert, oh ja, sie hätte ein längeres und deutlich besseres Leben gehabt.
Das ist von Xin Peng Wang sehr gut beobachtet: Frauen fällt das Verzichten leichter als den Männern, und wenn es um risikoreiches Handeln geht, dann wünschen sie sich sogar eher den Verzicht als das Draufgängertum.
Möglicherweise hat Theodor W. Adorno den folgenden Gedanken denn auch von seiner zeitweiligen Geliebten, der Philosophin Hannah Ahrendt: Man müsse nicht alles machen, nur weil es machbar sei.
Das kann man nicht oft genug bedenken.
Eine Verbindung zwischen den zumeist islamischen Flüchtlingen und den Legenden um Faust festzustellen, sei aber erlaubt:
Etwa zeitgleich mit den ersten Höhepunkten der islamischen Kunst im Orient entstand in Deutschland der Mythos vom Doktor Faustus, also im 16. Jahrhundert.
Erst 1775 begann der Dichter Johann Wolfgang von Goethe, sich mit dem Stoff seines späteren Hauptwerks zu beschäftigen – und verhalf der Sage vom Wissenschaftler, der einen Pakt mit dem Teufel schließt, durch die Vermengung mit den Liebesgeschichten zu Gretchen (Margarethe) und Helena zur Weltkarriere.
Wang hat nun noch etwas Eigenes hinzu getan:
Faust, Mephisto und Helena bilden in „Faust II – Erlösung!“ die Trias im Kampf um Erfolg, Liebe und Seelenheil, während das Ensemble vor allem als Flüchtlinge auftritt.
Die aktuelle Flüchtlingsthematik passt insofern sehr gut zu Goethe, als auch dessen Hinzufügung der Gretchen-Geschichte zum Faust-Mythos eine absolut sozialkritische Zutat war.
Goethe hatte als Jugendlicher in Frankfurt am Main die Hinrichtung einer gewissen Susanna Brandt als Kindsmörderin erlebt. Was ihn maßgeblich prägte und gegen die herrschende Justizmoral seiner Zeit einnahm. (Zumal er selbst ein fleißiger außerehelicher Verführer wurde.)
Die verführten jungen Frauen, die erst geschwängert und dann nicht geheiratet wurden, waren damals häufig die Opfer der Henker. Anders als andere „Morallose“ oder Kriminelle verfügten sie oftmals über keinerlei Möglichkeiten zu flüchten oder ihre „Schandtat“, die Schwangerschaft, zu verbergen. Sie konnten, zumal wenn sie Mägde und Dienerinnen waren, aber auch, wenn sie von ihren Familien als ehrlos verstoßen wurden, für ihr Kind nicht aufkommen – und brachten es aus sozialer Not nach der Geburt um. Womit sie leicht als Mörderinnen denunziert werden konnten, sogar, wenn das Kind eines natürlichen Todes starb.
Die mittellosen jungen Frauen waren also eine leichte Beute – für die Gerichtsbarkeit und die Sensationsgeilheit der Bevölkerung ebenso wie zuvor für die lüsternen Männer.
Goethe machte mit seinem „Faust I“, dem die als „Urfaust“ bekannte Erstfassung voranging, auf dieses brenzlige Thema aufmerksam.
Was heute in islamistischen Staaten mit unehelich Schwangeren geschieht, unterscheidet sich übrigens von den Hinrichtungen im 18. Jahrhundert in Deutschland so sehr nicht.
Umso erstaunlicher, dass niemand danach fragt, wo die weiblichen Flüchtlinge sind. Kommen am Ende doch mehr Täter als Opfer zu uns?
Das Ballett „Faust II – Erlösung!“ kümmert sich um solche Fragen indes nicht. Hier sind die Flüchtlinge von vornherein Opfer – man ist diese etwas eindimensionale Sicht der Dinge aus der „Tagesschau“ und den kommerziellen Medien wie den Tageszeitungen ja auch gewöhnt.
Das Kind von Helena und Faust, das bei Goethe wundersam in Eins erwachsen wird, ist hier in Wangs Ballett jedenfalls ein Flüchtlingskind am Strand. Fast wäre es wohl ertrunken, und man erinnert sich an ein entsprechendes Foto, das durch die Welt ging.
Faust hebt das Kind auf, nimmt es als seines an.
Aber statt eine heilige Familie mit tödlichem Ausgang zu zelebrieren (was in etwa Goethe folgend wäre), nehmen Choreograf Wang und sein Dramaturg Christian Baier sich die Freiheit, das Kind von seiner neuen Mutter Helena liebevoll in die Kulissen schicken zu lassen.
Kein Kindstod, kein Helenenfreitod. Nur Liebe.
Helena!
Lucia Lacarra schafft es mal wieder, alles um sie herum vergessen zu machen.
Ihre Ausstrahlung, ihre Güte, ihre Leidenschaft – all das ergänzt noch die wunderschönen Bewegungen, mit denen sie einen gleich einer Zauberin nachgerade nach ihr süchtig machen kann.
In den erlesen-expressiven Paartänzen, die Xin Peng Wang mit viel origineller Detailschönheit für seine Startänzer erschuf, kulminiert der Gedanke der Liebe zwischen Mann und Frau als höchst erstrebenswertes emotionales Gut.
Man darf aber auch auf die Dortmunder Zweitbesetzung neugierig sein, also auf Haruka Sassa und Javier Cacheiro Alemán.
Helena und Faust verschlingen einander nämlich fast vor Liebe, und zwar, ohne, dass das notgeil oder irgendwie anzüglich wirkt.
Da umklammert sie ihn wie einen Lebensretter und wie den Fels ihres Seins; da trägt er sie, als sei sie leicht wie eine Feder, so liebevoll auf seinen Armen, dass man die zwei um ihr Glück beneidet.
Da beugen sie sich nach hinten, die Hände fest einander umfassend – bildschön sehen sie so aus, wie zwei gespannte Sehnen auf zwei Bögen.
Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass sich die Natur doch viel mehr als nur schnöde Fortpflanzung dabei gedacht haben muss, als sie die Erotik erschuf.
Die Spannung zwischen Lucia und Marlon ist nun indes weltweit bekannt als eine der aufregendsten, die man in der Ballettwelt wohl überhaupt je gesehen hat.
In modern oder neoklassisch kreierten Posen können sie diese good vibes zwischen ihnen besonders toll zeigen…
Aber auch die klassischen Elemente wie das Penché auf Zehenspitzen der Dame und die gewaltig ausholenden Armgesten des Mannes finden sich hier bravourös!
Und wenn Marlon Dino seine Lucia dann waagerecht auf den Knien hält, weiß man, dass diese Liebe für immer gelten soll: Sein Odem verlebendigt die Geliebte noch in ihrem zartesten, fast todesähnlichen Zustand.
Das nun wiederum ist übrigens sehr goetheanisch, denn die auch von Wang zitierten Schlussworte von „Faust II“ („Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan.“) verweisen auf die Liebe zu den Frauen als Triebkraft für alles.
Was aber ist mit Faustens Seele?
Die Tänzer zeigen ihre Seele mit ihrem Körper.
In der Literatur und im Sprechschauspiel ist das schwieriger. Da schwebt laut Goethes Regieanweisung ein Engel heran, wörtlich „Faustens Unsterbliches tragend“.
Der „Chor seliger Knaben“ singt Folgendes dazu: „Gerettet ist das edle Glied / Der Geisterwelt vom Bösen, / Wer immer strebend sich bemüht, / den können wir erlösen. / Und hat an ihm die Liebe gut / Von oben teilgenommen, / Begegnet ihm die selige Schar / Mit herzlichem Willkommen.“
Erkennbar hat Goethe sich hier selbst die Seligsprechung erteilt, indem er die Motivation, die er durch sein Schürzenjägertum für seine Dichtung und seinen sozialen Aufstieg hatte, als erlösendes und ethisch wertvollstes Element schlechthin ausdeutet.
Man darf nicht vergessen, dass Goethe kein Gutmensch war, sondern gen Ende seines Lebens ein dramatisch schlechtes Gewissen hatte!
Seinen Kollegen und Jugendfreund Friedrich Schiller hatte er, als dieser aus politischen Gründen verfolgt wurde, mehr oder weniger hängen lassen.
Und später, als Goethe etabliert und mit Posten wie dem des Geheimrates nicht nur Reichtum besaß, sondern auch lokalpolitische Macht inne hatte, war er keinesfalls gnädig mit etwaigen Konkurrenten.
Er denunzierte begabte junge, revoltierende Studenten und Dichter, ließ sie von seiner Regierung verhaften und wegsperren, und manche verloren dadurch ihr Leben.
Das ist in etwa so, als hätte ein mit der SED kungelnder ostdeutscher Universitätsprofessor in der DDR dafür gesorgt, dass Aufmüpfige verhaftet und in einen Stasi-Knast verbracht wurden.
Von Heiner Müller, dem großen ostdeutschen Dramatiker, ist übrigens nichts dergleichen bekannt. Im Gegenteil: Er scheint seine Kontakte in der DDR vor allem dazu genutzt zu haben, um Menschen zu beschützen.
Hier, in „Faust II – Erlösung!“, ist es Faust, der den Retterinstinkt hat.
Und: Der Grund dafür ist Helena! Das Ewig-Weibliche…
Wangs Ballett präsentiert Lucia Lacarra als Helena, als schönste Frau der Welt, mit all ihren ballettösen Vorzügen – und lässt den weiblichen Superstar in dieser Rolle, entgegen der Goethe’schen Vorlage, nicht dramatisch sterben, sondern Faust an dessen Lebensende an der Himmelsporte empfangen.
So schreitet Helena mit Faust in die Tiefen eines Tunnels aus Laserlicht – das Schlussbild verheißt nicht nur Erlösung, sondern auch: Love forever!
Zuvor jedoch bringt Faust seinen verderbten Gefährten Mephisto zur Strecke. Mit Licht!
Wie er zuvor ebenfalls durch Licht zu dessen Abhängigem wurde…
Da kontrollierte und manipulierte Mephisto den Faust, zu Beginn des Abends: um ihn zu benutzen.
Doch dann erhält Faust durch die Liebe zu Helena so viel Kraft, dass er sich erstens mit seinem Deich-Plan zur versuchten Rettung der Flüchtling weit aus seiner Privatnische vortraut, und sich zweitens von Mephisto mehr und mehr zu lösen vermag.
Bis er ihn, als seinen persönlichen Diabolus, sogar vernichtet.
Das ist Fausts Befreiung.
Darauf bezieht sich auch all das Streben, für das ihm Erlösung widerfährt.
Das Land indes gehört noch immer dem Meer…
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg
Hier bitte ein Bericht von den Proben:
www.ballett-journal.de/ballett-dortmund-wang-faust-proben/
Termine: siehe „Spielplan“