Es floppt so schön Der erste Flop des Jahres ist da: Die Online-Gala „From Berlin with Love 2021“ vom Staatsballett Berlin ist ein Desaster, krankt an technischen und inhaltlichen Mängeln

From Berlin with Love 2021

Man sieht, wie fantastisch die Primaballerina Yolanda Correa und Primoballerino Dinu Tamazlacaru hier den Pas de deux mit dem schwarzen Schwan aus „Schwanensee“ tanzen – aber dank schlechter Beleuchtung ist das Ansehen kein Vergnügen. Videostill aus „From Berlin with Love 2021“: Gisela Sonnenburg

Es wird Zeit, dass das Staatsballett Berlin eine neue Führung bekommt. Jemand, der oder die (singular oder plural, denn auch ein Duo oder ein Team sind denkbar) neuen Schwung mitbringt und außerdem reichlich Tanz- und Ballettkenntnisse hat. Und außerdem bereit ist, sich überdurchschnittlich stark für diese zerrüttete Truppe einzusetzen. So jemand sollte, sofern er oder sie ein Konzept hat oder haben, möglichst rasch ans Ruder! Um die teils hochkarätig ausgebildeten Tänzerinnen und Tänzer  zu motivieren und zu lenken, um sie zu entwickeln und auch, um Choreografien heranzuholen, die tragen und was taugen. Denn nach dem katastrophalen Management eines zum Rassismus hochgelogenen Eklats um eine unzufriedene Tänzerin versagt die kommissarische Ballettintendantin Christiane Theobald nun auch in puncto künstlerischem Angebot fürs Publikum. Die neue Online-Ausgabe der Gala-Serie „From Berlin with Love“ namens „From Berlin with Love 2021“ gleicht einem Desaster. Ärgster Fauxpas: Das klassische Gala-Highlight vom „Schwanensee“-Pas de deux mit Odile, dem schwarzen Schwan, getanzt von den Stars Yolanda Correa und Dinu Tamazlacaru, ist so schlecht ausgeleuchtet, dass man es kaum glauben mag. Untrüglich haben wir es mit hoch bezahltem Dilettantismus backstage oder auch mit sabotierender Verweigerung zu tun. Wer lässt so etwas außer Haus gehen, wer gibt so etwas fürs weltweite Web frei? Pfui! Überbelichtet und mit unscharfen Konturen versehen, wirkt das tolle Bühnenpaar nurmehr wie Staffage. Da kann man mal sehen, für wie toll sich die jetzige Leitung vom Staatsballett Berlin nebst ihrem technischen Kader hält: Die Fans und Interessenten sollen eben alles einfach gut finden, egal, in welcher Qualität es ihnen serviert wird.

Die davon betroffenen Stars sind nur zu bedauern: Akkurat und leidenschaftlich tanzen Yolanda Correa als Odile und Dinu Tamazlacaru als Prinz Siegfried das grandiose Petipa-Stück, gemeinsam und auch in den Solo-Passagen sprüht ihre Darbietung regelrecht Funken.

Aber weil die technische Qualität hier mangels korrekter Bühnenausleuchtung so schlecht ist, erinnert die Aufnahme an illegale Videoaufzeichnungen aus den 80er-Jahren. So kann man „Schwanensee“ wirklich nicht genießen.

From Berlin with Love 2021

Ein „Schwanensee“-Penché, perfekt – und perfekt gehalten! Yolanda Correa und Dinu Tamazlacaru vom Staatsballett Berlin auf Weltniveau tanzend, aber auf Dilettantenniveau gefilmt. Videostill aus „From Berlin with Love 2021“: Gisela Sonnenburg

Die anderen Beiträge dieser offenkundig rasch hingeluderten Gala-Aufzeichnung sind zwar besser beleuchtet, aber auch keine Erbauung.

So hat man es mit Ross Martinson mit einem staatlich recht gut bezahlten Tänzer zu tun, der als ebenfalls staatlich bezahlter Choreograf null Eignung hat und offenbar nicht einmal weiß, dass ein geschöpftes – kreiertes – Stück ein erkennbares Konzept haben muss.

Inhaltlich geht es in „The Zero“ („Die Null“) um die Sitzhaltung eines Insassen eines Sanatoriums. Unschwer ist das Sanatorium als Ballettausbildungsstätte zu deuten, und die Sitzhaltung des Patienten, der laut eingesprochenem Text nicht krank ist (was man angeblich an seiner Nase erkennt), könnte die Körperhaltung des Tanzstudenten sein, der unaufhörlich kritisiert wird.

Das wäre eine Interpretationsmöglichkeit, aber tänzerisch ist weder diese noch eine andere erkennbare Sinnvermittlung ausgearbeitet. Man hat es mit beliebiger Gymnastik zu beliebig austauschbaren Sounds vom Choreografen zu tun. Selbstgebastelt und dilettantisch ist hier aber eben nicht nur der Sound, sondern auch die Optik.

Selten war so wenig Sinn und Verstand auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin zu sehen! Man mag sich an den wohltrainierten Pop-Bewegungen von Ross Martinson (der sein Stück selbst tanzt) ergötzen. Man mag sich an seinen letzten Ausflug ins „Berghain“ oder einen anderen Club erinnern, ach, lange ist es her! Aber man kann hier beim besten Willen keine Kunst erkennen.

From Berlin with Love 2021

„The Zero“: Der Choreograf tanzt, spricht seinen eigenen Text und lässt selbstgebastelten Sound erklingen. Entweder Ross Martinson ist ein Genie oder wenigstens ein Alleskönner – oder, nun ja… Die Steuergelder gehen hier jedenfalls nur in seine zwei Hände. Videostill aus „From Berlin with Love 2021“ vom Staatsballett Berlin: Gisela Sonnenburg

Kunst kommt nicht nur von Können, Kunst hat eine Mission, eine Vision, eine Botschaft. Kunst will was vermitteln, und zwar möglichst viel.

Alles andere ist Kommerz oder Entertainment, Experiment oder Versuch. Oder schlicht gar nicht mal uninteressante Vorarbeit, die dann als fertiges Ergebnis ausgegeben wird. Man könnte sagen, dass das in gewisser Hinsicht ein Betrug am Publikum ist. Denn wer bereit ist, sich auf KUNST einzulassen, fühlt sich betrogen, wenn er mit beliebigem oder unfertigem Gehampel gelangweilt oder veräppelt wird. Tut mir Leid, es so hart sagen zu müssen. Aber Tanz zu kreieren, setzt viel Geist und Grips voraus. Da reicht es nicht, sich gut trainiert ins Rampenlicht zu stellen und dazu etwas zu sagen, das man selbst für hintergründig hält. Tanz muss etwas vermitteln, und Musik, Sprache, Licht sind dabei Hilfsmittel. Aber sie können den Tanz inhaltlich nicht ersetzen, sie können dem Tanz auch kein Thema aufzwingen. Das Thema muss im Tanz lebendig sein – und vice versa.

Zu einem echten Thema kann sich leider auch Arshak Ghalumyan nicht durchringen, wenn er den Ohrwurm „Für Elise“ von Ludwig van Beethoven für die Primaballerina Elisa Carrillo Cabrera zu einem Solo umfunktioniert. Hübsche Posen, gleitende Schritte dazwischen, mal klassisch, mal modern, mal sanft, mal dramatisch – all das wird in einem Rüschenkleidchen dargeboten, einem Mini, der die Beine betont, als wäre es eine Abschlussarbeit einer Stipendiatin, die halt irgendetwas Gefälliges zeigen will.

Das ist eine nette Vorübung, aber eine fertige Choreografie ist es nicht. Dafür fehlt die Entscheidung, was das Ganze eigentlich darstellen soll.

Gibt es keine Dramaturgie mehr beim Staatsballett Berlin?

Oder glauben die choreografierenden Tänzer, sie brauchen keine Dramaturgie, weil sie ja so toll von Geburt an sind? Selbst wenn hier jemand ein großes choreografisches Talent hätte, so benötigte er oder sie eine Dramaturgie. Und wenn er oder sie diese nicht selbst leisten kann, braucht er oder sie jemanden, der oder die es machen und ihm oder ihr die Richtung weisen kann.

Ist doch nicht so schwer zu verstehen, oder?

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Auch das andere in dieser Online-Gala gezeigte Stück von Ghalumyan, „Mare Crisium“ benannt, zeigt kein Konzept. Die interessante, teils minimalistische Musik von Karl Jenkins ist zwar intelligent gewählt. Aber die sechsköpfige Reihe von Tänzerinnen, die Arshak Ghalumyan dazu auf die Bühne stellt, weiß nicht, wen oder was sie darstellen soll – außer sich selbst.

Und so ist es ein Gewirbel im fast schwarzen, ganz dunklem Bühnenfeld, von dem man sich zwar faszinieren lassen kann – aber ob das Ganze wirklich etwas mit dem Meer oder mit einer Krise oder mit etwas ganz Anderem zu tun hat, lässt sich nicht klären.

Vielmehr hat man den Eindruck, dass Ghalumyan hier seine Zeit als Tänzer in Berlin unter Nacho Duato aufarbeitet, denn an dessen geschmeidig-eleganten, aber modernen choreografischen Stil erinnert so Manches hier. Auch Marco Goecke fällt einem als Pate ein, wenn die Tänzerinnen nur mit ihren Händen und Armen zuckende Bewegungen vollführen. Eigenes von Ghalumyan erkennt man eher nicht. Und ein Thema eben auch nicht.

Tanz pur – das reicht einfach nicht, wenn man ansonsten keine Basis hat, um die Pureness zu definieren. George Balanchine konnte Tanz pur auf die Bühne stellen, weil er dem Tanz thematisch zuarbeitete. Vor der Folie eines Themas kann sich der Tanz (wie bei Balanchine, aber auch bei John Neumeier, Mikhail Fokine oder Jiri Kylián) emanzipieren.

Aber ohne inhaltliche Fläche kann Tanz nur noch mit sich selbst agieren – Narzismus ist dann das Ergebnis.

Man kann es auch so sagen: Reinheit ohne Reibung ist Belanglosigkeit.

From Berlin with Love 2021

Ein schöner „Fisch“, aber die Kamera zeigt ein bisschen zuviel leere Bühne… Aya Okumura und Alejandro Virelles als neues Dreamteam beim Staatsballett Berlin. Videostill aus „From Berlin with Love 2021“: Gisela Sonnenburg

Dagegen ist die Neueinstudierung des Grand Pas de deux aus dem klassischen „Nussknacker“ mit Aya Okumura als Clara und Alejandro Virelles als Prinz, die man teilweise bereits aus dem im übrigen viel besser gelungenen Weihnachtsvideo der Deutschen Oper Berlin kennt, eine Wohltat.

Clara träumt sich in diesem Stück als Zuckerfee in eine innige tänzerische Korrespondenz mit ihrem Traumprinzen, dem Prinzen Coqueluche, der in seinem prächtigen rotblauen Kostüm ein wenig wie eine aufgezäumte russische Petruschka-Puppe aussieht. Clara ist ja auch noch sehr jung, gerade an der Schwelle dazu, ein richtiger Teenager zu werden.

Der virtuose Paartanz lässt sowohl der Tänzerin als auch ihrem Partner alle Möglichkeiten, persönliche Stärken zu zeigen – und obwohl die Kameraführung vermutlich von einem Praktikanten stammt (meistens sieht man eine Totale mit viel leerer Bühne und winzig darin das tanzende Paar), atmet das Ganze den Spaß, den Elan, die Poesie des träumerischen Stücks.

Im Solo erscheint Virelles als eigenständiger junger Mann, der mit Leichtigkeit über die Bühne fliegt. Schade nur, dass wieder zumeist über 90 Prozent des Bildes die leere Bühne zeigen.

Dasselbe Schicksal ereilt Clara im Zuckerfee-Solo, als sie zu den Klängen der Celesta ein exquisites, delikat ausgearbeitetes Stück Anmut zeigt. Dafür ist der Tanz köstlich hier!

Es ist wirklich ein großer Hoffnungsschimmer, dass man Aya Okomura sich so weit entwickeln sehen darf!

Sie ist ganz offensichtlich begabt, passioniert und fleißig genug, um die großen Partien als führende Solistin – als als Principal – zu interpretieren. Hier wird eine Beförderung fällig!

From Berlin with Love 2021

So sieht man, wie fantastisch es ist: Aya Okumura und Alejandro Virelles im „Nussknacker“, fürs Bild vom Ballett-Journal nah herangeholt. Videostill aus „From Berlin with Love 2021“ vom Staatsballett Berlin: Gisela Sonnenburg

Und sie verleiht den Tänzen mit ihrer eher bescheidenen als angeberischen Haltung eine wunderbare Frische. So geht das nämlich mit der Wahrhaftigkeit in der Kunst: Man gibt dem Publikum eine Chance, Gefühle und Kontexte zu erkennen, indem man das macht, was man kann – und nicht etwas, das man nur vortäuscht!

Noch einmal tobt dann Alejandro Virelles im Solo übers Bühnenfeld, ein perfekter Gentleman mit der Anmutung der überirdischen Prinzenschaft. Aber bei der Manège ist er dann wieder nur noch ein kleiner Punkt, dank der schrecklichen Kameraführung, auch wenn er den Spagatsprung hervorragend draufhat, bis seine Partnerin (ebenfalls nur winzig klein im Bild) dazu kommt – und ebenfalls zu brillieren weiß.

Gemeinsam begeistern sie, vor allem, wenn das Kameraauge mal näher rangeht, bis er sie schließlich auffängt und im „Fisch“ als Königin des Abends präsentiert.

So rettet sich das Online-Drama hier mit dem letzten gelungenen Stück, das selbst bei unprofessioneller Kameraführung nicht zu vernichten ist.

Wer gestern, an Silvester, die Live-Vorstellung von der Operette „Die Fledermaus“ in der Inszenierung von Otto Schenk vor leerem Zuschauersaal, aber perfekt gespielt, getanzt, gesungen und live gefilmt aus der Wiener Staatsoper gesehen hat, kann es kaum glauben, mit welchem Unvermögen sich das Staatsballett Berlin hier zum Festtagsstream präsentiert hat.

Es wird allerhöchste Zeit, dass die Truppe in gute Hände kommt! Dieses 45-minütige Horror-Video ist beängstigend.

Hoffen wir für das Staatsballett Berlin: Neues Glück im neuen Jahr mit einer neuen Leitung! Bitte! Bald! Schnell!
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

 

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