Ein Paradigma ist ein Muster, eine Struktur, eine Grundregel, auch eine Weltsicht. Spannend ist es, wenn man von einem Paradigmenwechsel sprechen muss: Das bedeutet, dass eingeschliffene Gewohnheiten aufgebrochen werden. Das kann sehr toll sein, wenn damit überkommene Konventionen abgelegt werden. Das kann aber auch schlimm enden, wenn wichtige Werte einfach aufgegeben werden. Was das Bayerische Staatsballett nun konkret meint, wenn es seinen neuen Dreiteiler schlicht „Paradigma“ nennt, ist nicht eindeutig zu klären. Vielleicht soll so nur der allerkleinste gemeinsame Nenner der Arbeiten von drei recht verschiedenen zeitgenössischen Choreografen bezeichnet werden. Motto: Der tanzende Körper ist der tanzende Körper. Nach diesem Paradigma passen dann alle nur möglichen Ballette unter einen Hut. Aber nach welchen Kriterien die Auswahl der Stücke auch immer getroffen wurde, sie können keine wirkliche Harmonie oder Einheit zwischen ihnen herstellen. Genügend kontrastreich, um sich aneinander zu reiben, sind sie auch nicht: „Paradigma“ ist insofern eine Mogelpackung, und nur die begeisterte Einfühlung ins jeweilige Stück durch die Tänzerinnen und Tänzer macht aus dem zerstückelten Abend – der eine Aufzeichnung vom 18. Dezember 2020 ist und jetzt als „Montagsstück VIII“ online präsentiert wird – eine sehenswerte Sache. Wie ein Bergsteiger muss der Zuschauer hier aber trotz des Vergnügens an einzelnen Details auch eine gehörige Mühe auf sich nehmen, um dann die gute Aussicht zu genießen und sich dabei wie nebenbei eine sinnvolle programmatische Verklammerung zu suchen. Da der Horizont sehr klar und die Sicht weithin gut ist, stehen die Chancen dafür allerdings prima!
Den Beginn macht „Broken Fall“, 2003 zu Musik von Barry Adamson entstanden.
Russell Maliphant kreierte diesen flotten Dreier mit der damals weltberühmten Sylvie Guillem, von der man seit ihrem Bühnenabtritt im Jahr 2015 leider kaum mehr etwas hört. In München gibt es aber eine eigene Aufführungstradition von „Broken Fall“, und darin ist Lucia Lacarra prägend. Sie tanzte das Stück mit ihrem damaligen Gatten Marlon Dino sowie mit Erik Murzagaliyev nicht nur vor Ort im Nationaltheater, dem großen Münchner Opernhaus, sondern auch als wandelnde Visitenkarte ihrer Compagnie auf internationalen Galas.
Seit 2012 verschwand das sensitive Stück Tanz allerdings auch gleich wieder vom Münchner Spielplan – um jetzt in einer spannenden Neubesetzung, die den drei darin Debütierenden alle Chancen der Welt einräumt, zurückzukehren.
Jeannette Kakareka ist nun nicht mit Guillem oder Lacarra zu vergleichen, sie ist weder so berühmt noch so supermarkant im Auftritt. Aber: Sie ist eine jener Ballerinen, die sich in manchen Stücken ganz wundervoll entfalten können, und seit Jahren schaut man immer wieder besonders gern hin, was sie konkret macht. Ihre sportliche Figur vereint sie mit abwechslungsreichen Temperamenten, ihre Präzision mit einem frohgemuten Naturell.
Die gebürtige Amerikanerin tanzt seit 2017 in München, seit 2019 als Demi-Solistin. Vor allem in „Jewels“ („Emeralds“ und „Diamonds“) von George Balanchine, aber auch als Dolly in Christian Spucks „Anna Karenina“, als Manon Lescaut in John Neumeiers „Die Kameliendame“ und als Weiße Dame in Ray Barras „Raymonda“ fiel sie bereits mit starker Energie und dem Willen zum Ausdruck auf.
Jetzt steht sie im unanfechtbaren Mittelpunkt einer sehr modernen Choreografie – und meistert diese Aufgabe trotz der erschwerenden Corona-Auflagen vorbildlich.
Flankiert von zwei fabelhaften männlichen Ersten Solisten – Jinhao Zhang und Jonah Cook – bildet sie das flirrende Sinnbild der Weiblichkeit in diesem sportiv-dynamischen Dreiecksgespann, das von sich nie genug zu bekommen scheint.
Barfuß und mit schwarzen Knieschonern versehen, ist die Frauenpartie hier so ziemlich das Antibild einer Ballerina. Aber die Gestik erlaubt durchaus Grazie und Anmut – hier hätte der Coach Norbert Graf aber durchaus noch mehr Spielräume zulassen und ausschöpfen lassen sollen.
Auch das Timing ist ihm nicht immer gelungen. Er hat dem Tänzertrio zwar die Schritte, die komplizierten Hebungen, all das Akrobatische und Perfide an der Choreografie eingebimst. Aber die Seele des Stücks atmet in den Kontrasten zwischen Spannung und Entspannung, zwischen schnellen und langsamen Bewegungen. Und da hat der Coach schlichtweg versagt.
Jetzt erinnert das Stück ein wenig an Aerobic, und das soll es eigentlich gerade nicht. Es hat nämlich durchaus einen Sinn.
So heißt das Stück von Russell Maliphant mit einigen Hintergedanken „Broken Fall“, es bezieht sich damit in jeder Hinsicht auf die Angst zu fallen. Nicht nur um das Fallen im Traum geht es, worin sich laut Sigmund Freud eine despektierliche Angst vor Prostitution zeigt, sondern auch die ganz reale, soziale Angst vor dem Absturz ist gemeint.
Die zahlreichen Hebungen und Drehhebungen haben hier darum einen doppelten Sinn. Es geht nicht nur um die Schönheit, die drei Menschen mit ihren Körpern produzieren können. Es geht auch um die Gefahr, die ihr akrobatisches Handeln bedeutet. Im übertragenen Sinn symbolisiert die Höhe der Tänzerin hier die Fallhöhe eines Menschen, der es – auch dank der Arbeit der Anderen – weit gebracht hat.
Ohne Poesie wäre dieses Ballett allerdings verloren, und so gelingt es Maliphant immer wieder, dem Risiko und dem Spiel mit gleitend-geschmeidigen Synchronbewegungen verträumt-lyrische Seiten abzugewinnen.
Seine Muse Sylvie Guillem begann den sagenhaften Triumphweg ihrer Karriere als blutjunge Odette / Odile im „Schwanensee“. Rudolf Nurejew als Pariser Ballettdirektor hatte sie entgegen allen Gepflogenheiten – Paradigmen – nach ihrem Debüt darin im Alter von nur 20 Jahren zur „Étoile“ gekürt.
Dieses Flair einer Überfliegerin haftete ihr auch in späterer Zeit immer an, wie eine Aura, die man nicht ablegen kann. Und wenn die beiden Jungs in „Broken Fall“ absurd-schöne Türme mit ihr bauen, dann ist es gleichsam, als lerne der Schwan das moderne Menschenleben.
Lucia Lacarra setzte dem ihr eigenes Flair entgegen, ihre eigene Lyrik und Weiblichkeit, auch ihre Dominanz. Bei ihr, der megazierlichen Ballerina mit der großen Ausstrahlung, und den beiden hoch gewachsenen, betont starken Männern als Partnern war „Broken Fall“ vor allem ein Erzählstück über den Erfolg derer, die zusammenhalten. Eine zarte weibliche Person wuppte da zwei gestandene Kerle – und zu dritt waren sie unschlagbar.
Nicht ohne Grund gibt es eine Pose im Stück, in der die drei ihre Hände zusammenlegen und wie ein Kleeblatt mit den Körpern drei Bestandteile eines Ganzen bilden.
Jeannette Kakareka trägt nun ein ganz anderes, aber ebenfalls sehenswertes Fluidum in die Szene. Ihre Persönlichkeit ist weniger autark und solitär, dafür sympathisch und sportiv. Sie ist wie der Kitt, der menschliche Beziehungen fassbar macht. Sie hat eine verbindlich-verbindende Aura, die aus drei Einzelnen ein Gesamtes macht.
Jinhao Zhang ist der Souveränere und Flexiblere der beiden Männer, Jonah Cook der Standhaftere und besonders Hilfreiche. Wie eine Birke und eine Eiche halten sie die schlanke Jeannette als sich windenden Efeu.
Das Licht von Michael Hulls taucht die Szene in eine fahle, zuerst gelbliche, dann blaue Stimmung. Tag oder Nacht, macht das hier einen Unterschied?
Wir befinden uns in einer Welt, die ein bloßes Spielfeld ist, das Dunkel des Nichts lauert hier stets im Hintergrund.
Alles, was es gibt, ist der Mensch. Der tanzende Mensch, der sich vergesellschaftet mit anderen. Es ist ein Trio wie Adam und Eva zu dritt in einer anderen Schöpfungsgeschichte. Oder auch wie die drei Ebenen, aus denen der Mensch besteht: aus Körper, Geist und Seele – und ohne einen dieser Bestandteile wären die anderen beiden nichts.
Die Musik von Barry Adamson ist zunächst psychedelisch-peitschend, ein synthetischer Klangrausch, der an dramatische Filmmusiken erinnert. Später kommt ein Piano dazu, betont zarte Annäherungen der Tanzenden. Schließlich setzt eine Querflöte Highlights – als handle es sich um ein sinfonisches Werk.
Das letzte Stück Tanz gehört Jeannette Kakareka allein. Die Frau ist die Siegerin dieses Terzetts, und ihrer Kraft arbeiteten die Männer so großzügig zu, dass sie überflüssig wurden.
Fast ist es, als habe Maliphant eine Referenz ans Matriarchat kreiert. Unverkennbar wurde dieses von Sylvie Guillem angeregt, von ihrer alles beherrschenden Leidenschaft und ihrer Lust am Tanzen. Dagegen kommt kaum ein Mann an, scheint Maliphant zu sagen.
Frauen, seit Jahrtausenden im Patriarchat unterdrückt, können hier endlich all ihre Power gebündelt in einer Person erkennen. Maliphant hat den Nagel auf den Kopf getroffen: So etwas ist selten zu sehen und absolut hinreißend!
Dieser ungebrochenen weiblichen Kraft von „Broken Fall“ folgt nur leider ein ziemlich oberflächlicher, wenn auch grotesker Spaß mit gestelzter Laszivität: mit „Bedroom Folk“ von Sharon Eyal. Die Israelin, die lange bei der Batsheva Dance Company tanzte und dort auch ihre ersten choreografischen Schritte unternahm, ist international für ihren Sinn fürs Absurde, aber auch für Redundanz bekannt.
Eine einzige Idee reicht bei ihr stets für ein ganzes, etwa halbstündiges Stück. So auch hier. Man könnte Eyal tänzerischen Minimalismus attestieren, würde eine konsequente Durcharbeitung ihrer tänzerischen Idee stattfinden.
Da eine inhaltlich befriedigende Entwicklung aber stets fehlt, bleibt es beim Designertanz: Formal wird eine Idee sozusagen langsam durchgeprügelt, bis sie erschöpft ist. Eine Aussage ergibt sich daraus aber mitnichten. Yuppiekunst für Wannabes.
Choreografische Mitarbeit hatte Eyal mal wieder mit Gai Behar, mit dem sie regelmäßig kooperiert. Er kommt nicht vom Tanz, weder praktisch noch theoretisch, und er trägt auch keinen Funken Bildung ins künstlerische Geschehen, sondern er machte sich als Veranstalter von Parties und multimedialen Events in Tel Aviv einen Namen. Zusammen gründeten Eyal und Behar eine Company, die sich als sponsorenträchtiges Festival-Zugpferd offenbar gut macht.
Sorgfältig wählen die beiden die Standbilder aus, die sich beim Zuschauer einprägen sollen. In „Bedroom Folk“ etwa erinnern die Kostüme an die klassische Balanchine-Kluft: schwarze Bodies lassen bei den Herren aber die Brustwarzen frei, was Sexyness suggerieren soll; die Damen zeigen nackte Schultern in ihren ebenfalls schwarzen Trikots.
Vier Paare, ganz konventionell bestehend aus vier Damen (Carollina Bastos, Elisa Mestres, Vera Segova, Marta Navarrete Villalba) und vier Herren (Severin Brunhuber, Matteo Dilaghi, Nicholas Losada, Robin Strona) stehen zunächst im Pulk in der Bühnenmitte, über sich ein Licht, und gehen im Takt recht eintönig-witziger Musik mehr oder weniger auf der Stelle.
Folk wird musikalisch modern zitiert; im Tanz muss es reichen, wenn die Hände auf die Hüften gelegt sind. Erst stehen die Damen in der ersten Reihe, dann die Herren. Worüber sich die Frauen stilisiert die Haare raufen.
Wäre das Ganze etwas verspielter und weniger verbiestert im Ausdruck, man würde schmunzeln können.
So aber konnte sich die Choreografin wohl nicht entscheiden, worum es eigentlich gehen soll. Das Ganze erinnert an Vorübungen für einen Showdance – aber das einzig Lustige ist dann jener Moment, in dem eine Tänzerin aus der Reihe der anderen ausschert, indem sie ihren Oberkörper cambréartig nach hinten biegt, während die anderen in der zweiten Ballettposition aufrecht herumhüpfen.
Soll das nur komisch sein oder auch noch etwas anderes bedeuten? Der himbeerrote Bühnengrund gibt dazu keinen Aufschluss.
Ein Pärchen entsteht, indem der Mann sich um die Frau kümmert. Aber insgesamt versucht jeder vereinzelt, irgendwie zu einer Art Höhepunkt zu kommen.
Wieder hängt ein Scheinwerfer mittig oben, wie schon in „Broken Fall“. Das Licht ist allerdings ein anderes, es ist wärmer, heizt mehr ein, sozusagen, schon optisch.
Schließlich tanzen alle in einem etwas verklemmten Disco-Dancing-Stil. Sie wollen frei werden, sich sexy fühlen, begehrt – aber selbst zu begehren, das fällt ihnen nicht ein.
Dazu sind sie zu narzisstisch, also nicht die Tänzer*innen, sondern die Figuren, die Sharon Eyal hier kreiert hat.
Daran ändert auch der zweite Pulk nichts, den die Gruppe bildet. Jetzt ist es nachtschwarz um sie, und sie schieben sich gemeinsam und doch völlig vereinzelt über die Bühne.
Derart beziehungslos muss man erstmal tanzen, wenn man hautnah dicht an dicht steht!
Aber natürlich ist das machbar, Sharon Eyal und das Bayerische Staatsballett führen es vor.
Uraufgeführt wurde das Stück übrigens 2015 in Den Haag beim Nederlands Dans Theater. Das macht es aber nicht besser.
Am Ende sind die Gesichter statt nur steif und ausdruckslos auch noch frustriert, entsetzt, schockiert, ängstlich.
Wieso, weshalb, warum eigentlich? Man kann da nur spekulieren, vielleicht hatten sie ja einen Spiegel in den Kulissen und haben gesehen, wie entsetzlich egoistisch sie wirken, nein: sind. Schonungslose Selbsterkenntnis kann mitunter vielleicht tödlich sein.
Eine Frau verfällt da in eine Art Hüpfstarre, unablässig hoppelt sie mit entsetztem Gesichtsausdruck auf der Stelle. Bis sie hochgehoben und gewürgt (!) wird.
Ja, so reagieren Menschen ohne soziale Kompetenz. Hysterisch und brutal. Passt schon. Aber das wissen wir sowieso, müssen wir uns das im Ballett auch so anschauen? Und wo ist die Schuldzuweisung? Und wer soll die Welt verbessern?
Diese Paradigmen der soliden Sozialkritik – die etwa ein Ballett wie „Die Kameliendame“ von John Neumeier noch hat – haben Choreograf*innen wie Sharon Eyal abgeschafft. Bei ihnen herrscht der Kompromiss mit dem Kommerz vor, die Orientierung am Design, an der bloßen Form und an der penetrant minimal-rhythmischen Musik.
Fortschritt kann man das allerdings nicht nennen. Denn sogar eine Umwertung aller Werte hätte eine Neufindung von Werten unweigerlich zur Folge.
Hier regiert nur der Werteverlust… bis zum totalen Frust beim Zuschauer.
Daran kann auch die konzise ballettmeisterliche Betreuung von Valentina Divina nichts ändern.
Als wolle Eyal uns nochmal Trost spenden, lässt sie aber kurz vor dem Ende den schwarzen Vorhang im Hintergrund wieder hochfahren, und ein rotorangener Hintergrund kommt zum Vorschein.
Davor dürfen die Tänzer, hübsch in Reih und Glied aufgestellt, kleine seitliche Jetés vollführen, aus der ersten Ballettposition heraus. Sie machen sich also erst am Schluss warm für den großen Tanz, so scheint es. Den müssen wir aber nicht mehr mit ansehen, denn die Violinen werden leiser und leiser und das Licht erlischt. Schluss. Endlich!
Jetzt hätte man sich eine Pause verdient. Aber der Online-Stream geht erbarmungslos in die dritte Runde. Wollen mal sehen, was uns das bringt:
Der Choreograf des dritten Stücks ist ja nun schon an sich ein Skandal. Liam Scarlett, der jahrelang als Shooting Star der britischen Ballettszene gehandelt wurde, musste 2019 das Royal Ballet in London als Hauschoreograf verlassen, weil herauskam, dass er männliche Ballettstudenten von der Royal Ballet School offenbar genötigt hatte, ihm Nacktfotos von sich zu mailen, damit er sie vielleicht in seiner Choreografie für die Schule besetzt.
Die Sache ist unschön und unappetitlich, und es ist seltsam genug, dass sie nicht weiter hochgespielt und als Paradebeispiel für die Leiden junger Männer in der Kategorie „Me, too“ in die Ballettgeschichte eingegangen ist.
Statt dessen gelang es Kevin O’Hare, dem Chef vom Royal Ballet, einen dicken Mantel des Schweigens über die Angelegenheiten zu breiten. Der ist so undurchdringlich, dass auch die offizielle Vita von Liam Scarlett, die das Bayerische Staatsballett vertreibt, den markanten Vorfall einfach gar nicht nennt.
Man weiß nicht, wer hier den Hauptpreis für Anti-Aufklärertum verdient: O’Hare und sein Royal Ballet oder Igor Zelensky und sein Bayerisches Staatsballett. Teilen wir den Preis und geben wir beiden noch deutliche Tadel als Zugabe drauf.
Denn so etwas verschweigt man nicht, man muss über solches Fehlverhalten von Künstlern sprechen und dazu eine Haltung beziehen! Es zu verschweigen, kommt einem Betrug gleich.
Diese Tabuisierung mag allerdings den Anwälten von Liam Scarlett nützen, denn bei seiner abrupten Trennung vom Royal Ballet ging und geht es sicher auch um Geld.
Aber der Öffentlichkeit gegenüber ist es nicht fair, so einen Vorfall nicht einmal zu nennen.
Bayerisches Staatsballett, das ist nicht gut!
Sollen das Publikum und auch weite Teile der Presse in Unwissenheit über einen eingekauften Künstler urteilen?
Zumal der Choreograf selbst auch noch an der Einstudierung in München beteiligt war.
Liam Scarlett hat sich übrigens – vermutlich auch auf Anraten seiner Anwälte – nie öffentlich zu den Geschehnissen geäußert. Weder in London noch in München noch sonstwo. Schlimm.
Die Beweislage mit den E-Mails war wohl ziemlich deutlich. Dazu hätte der Choreograf etwas sagen sollen. Vielleicht ist er ja im Erfolgsrausch in etwas hineingerutscht und verlor die Kontrolle. Vielleicht haben sich die betreffenden Knaben ihm regelrecht angeboten, um davon Vorteile zu haben – so etwas kommt vor, auch im Ballettbetrieb. Oder lag der Machtmissbrauch nahe, weil Liam Scarlett selbst auch mal davon als Opfer betroffen war?
Sogar, wenn er einfach nur ein Ferkel und ein Täter war, möchte man dazu etwas von ihm hören. Zum Beispiel die Bekundung von Reue. Sollte er sich aber unschuldig wähnen, möchte man auch das hören und erklärt bekommen. Denn solche Straftaten sind keine private Angelegenheit!
Man würde die Sicht des Beschuldigten also in jedem Fall gern kennen, bevor man sich ein Ballett von ihm ansehen soll.
Zumal Scarlett nicht nur seinen Londoner Job wegen der Sache verlor.
Auch das Queensland Ballet, das Texas Ballet und das sehr angesehene San Francisco Ballet von Helgi Tomasson haben sich sofort von Liam Scarlett losgesagt, als die Vorwürfe gegen ihn ruchbar wurden und unwidersprochen blieben.
Nur der Münchner Ballettdirektor Igor Zelensky, der mit Sergej Polunin bereits ein anderes enfant terrible mehrfach als Gaststar beherbergt hat, öffnete sein zweifelhaft großes Herz sowie die Schatulle mit bayerischen Steuergeldern – und er lud Liam Scarlett für diese Saison ein, sein 2014 in New York für das American Ballet Theatre entstandenes Erfolgsstück „With a Chance of Rain“ beim Bayerischen Staatsballett einzustudieren.
„Mit Aussicht auf Regen“, so der zu übersetzende Titel, ist ein Beziehungsstück von einigem hochkarätigen Glanz. Denn natürlich ist Scarlett äußerst talentiert, nicht umsonst galt der Mittdreißiger schon früh als kommendes Genie.
Allerdings fehlt hier etwas Wesentliches: Eine alles verbindende Bereitschaft zu Gefühl.
Liam Scarlett ist als Choreograf eine merkwürdige Mischung aus technisch-stilistischer Vielfältigkeit und inhaltlicher Leere.
Denn tatsächlich tanzen hier zwar unablässig Paare miteinander bzw. Solisten für einen Bühnenpartner. Aber eine echte Beziehung haben sie eigentlich nie zueinander.
Vor allem in den ersten sechs der insgesamt sieben Szenen – von denen eine, nämlich die vorletzte, zweigeteilt ist, wechseln die Partner so beliebig wie Sitznachbarn in der U—Bahn.
Kein Wunder also, dass kaum Zärtlichkeit entsteht – und auch keine solche Schnittigkeit, wie sie etwas Wayne McGregor in seinen Pas de deux kreiert.
Zu Klavierstücken von Sergei W. Rachmaninow entfalten sich solistische Feuerwerke, die weder aufdringlich noch eiskalt wirken. Aber: Lauter Ichbezogenheit ist da erkennbar, zum Schwelgen für die Tänzer*innen, aber zum Leidwesen eines nach tatkräftigen und nicht wehleidigen Emotionen suchenden Publikums.
Die Tänzer*innen allerdings sind fantastisch und auch grandios besetzt:
Elvina Ibraimova, Ksenia Ryzhkova, Laurretta Summerscales, Madison Young, Jonah Cook, Ariel Merkuri, Emilio Pavan und Jinhao Zhang geben ihr Bestes, und das ist nicht gerade wenig.
Vor allem Laurretta Summerscales und Jinhao Zhang sowie Ksenia Ryzhkova und Emilio Pavan berücken mit konzilianten modernen Paartänzen.
Und die Ballettmeisterin Ivy Amista sowie Ballettmeister Javier Amo zeigen hier eine weiche, von Geschmeidigkeit und Zartheit gekennzeichnete Handschrift; bei schwierigen Balancen und Hebungen setzen sie auf Ausgleich und Sicherheit, bei gleitenden Bewegungen auf Leidenschaft.
Ziemlich wenig bietet allerdings der neue Dramaturg des Bayerischen Staatsballett, der promovierte Ich-höre-mich-gerne-reden-Akademiker Serge Honegger.
Seine kurzen Begleittexte, die online stehen, sind eine Zumutung und zeugen von geistiger Unklarheit. Und seine mangelhafte Befähigung, kurze Sätze oder Titel aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen, stürzen einen sogar in Zweifel darüber, ob man diesem Menschen überhaupt noch zuhören soll, wenn er mal wieder in einem Trailer oder Stream aus München etwas sagt.
Aus dem simplen Stücktitel „With a Chance of Rain“ macht Honegger in der Aufzeichnung vor der Kamera dann doch glatt ein hoch kompliziertes „Die Möglichkeit, dass es regnen könnte“. Das würde allerdings im Original „The possibility it could rain“ heißen müssen.
„With a Chance of Rain” ist mit „Die Aussicht auf Regen” zu übersetzen, ohne Konjunktiv und ohne Nebensatz. Punkt.
Inwieweit der Regen hier wirklich Regen sein soll oder nurmehr eine sexuelle Anspielung darstellt, ist außerdem zu überlegen. Denn eine von irdischer Trockenheit betroffene Gesellschaft sehen wir hier nicht.
Vielmehr sind es vier verwöhnte, im Stil der Ballettmoderne der 70er-Jahre gekleidete Tanzpaare, die wir sehen. Die Kostüme stammen vom Choreografen Liam Scarlett und sind an denen für abstrakte (sinfonische) Ballette von Kenneth MacMillan, John Cranko und John Neumeier, die in den 70er Jahren in London premierten, orientiert. Gerade Neumeiers „Vierte Sinfonie von Gustav Mahler“, die er 1977 mit Wayne Sleep am Royal Ballet kreierte, wird in ähnlichen Kostümen getanzt wie das Bühnenpaar Ryzhkova / Pavan sie trägt: die Dame im kurzen Trikotröcken oder Trikot, der Herr oben ohne in Leggings.
Aber was heißt „Tanzpaar“ hier? – Sechs der sieben Szenen bestehen darin zu zeigen, dass Beziehungen offenbar unmöglich sind! Und das mit dem Mitteln äußerst beziehungsreicher Ballette, nämlich teilweise im Stil der sinfonischen 70er-Jahre-Ballette, die Damen tanzen dabei in Spitzenschuhen. Allerdings wird das gepeppt mit akrobatischen Finessen, die technisch wie von der Schöpfungskraft her erst seit den 90er-Jahren möglich und erst seit wenigen Jahren sozusagen üblich sind.
Doch der Liebe gelten die meisten der Tänze hier nicht.
Stetig lösen sich die Männer von den Damen, tanzen lieber alleine oder für das imaginäre Publikum.
Zu Beginn stehen alle acht Tänzer*innen auf der Bühne, mit den schönen Rücken zu uns gekehrt. Sanfte Adagio-Übungen führen zu Ausfallschritten und Posen.
Aber kaum finden sich Paare, verlieren sie sich auch schon wieder. Und fast immer liegt das an den Herren – es ist, als würden die Frauen sie in ihrer Entfaltung behindern wollen. Das fällt hier schon auf: so ein negatives Frauenbild.
In der zweiten Szene drängt der Herr die Frau zum Tanzen, in dem beide synchron und schnell schreiten, die Frau allerdings rückwärts, wie gedungen durch den Mann.
Tangoartig scheint dann die Musik beide mitzureißen, es gibt grandiose Hebungen, akrobatische Verquickungen – aber keine Liebe. Keine Bindung.
Zweckbündnisse werden geschlossen: Hebst du mich hoch, schmücke ich deine Arabeske mit meinen bewundernden Blicken. Und tschüs!
Gloriose Momente veredeln das Miteinander, das doch keine Folgen zeitigt.
Immer mal wieder gelingt eine Passage tiefschürfend und meditativ, aber was als mysteriös und rätselhaft verkauft wird, ist doch nur beliebig und beziehungslos. Daran krankt dieses Stück. Und es ist längst nicht nur Regen sprich ein feuchter Orgasmus, was hier fehlt!
Nur das letzte Stückchen Weg, die siebte Szene, vermag zu faszinieren.
Ksenia Ryzkhova und Emilio Pavan bieten einen ungewöhnlichen Paartanz, der zugleich wie ein Kräftemessen an Schönheit und Beharrlichkeit anmutet.
Da rutscht sie in einen atemberaubend pointierten Spagat, wird von ihm dabei nicht nur gestützt, sondern regelrecht hineingedrückt, in diese Pose, die so gut bekannt ist und doch so sehr für die Befähigung zu Schönheit des Körpers steht.
Wenn er sie bald darauf hebt, scheint sie zu fliegen – an seinem Arm, wie eine Verlängerung seines Körpers.
Aber immer wieder scheint er sie zu frustrieren, sie verfällt in Posen der masochistischen Trauer. Und rettet sich mit der Grandezza des weißen Schwans aus „Schwanensee“!
Wenn sie erneut zu brechen scheint, hält er sie empor – und lässt sie einen formidablen Spagat in der Luft zelebrieren.
Das sind schon die Augenblicke, auf die man den ganzen Abend lang gewartet hat!
Dass am Ende die Ballerina wieder mit eingesunkenen Schultern – also recht deprimiert – am Boden sitzt, während ihr Partner stark und stolz über ihr steht, nun ja, kennzeichnet vermutlich das Frauenbild von Liam Scarlett.
Er inszenierte den „Schwanensee“ in London ja auch so, dass Odette am Ende stirbt, Siegfried aber überlebt – ein an sich nicht zum Libretto und auch nicht zur Musik passendes Ende, das die Frau als schwach und den Mann als stark zeigt. Aber die moderne patriarchale Werbewelt fuhr auf dieses Schlussbild (sie tot in seinen Armen) total ab!
Hoffen wir also auf weitere Online-Programme, in München oder anderswo, die weniger bestimmten Einseitigkeiten verhaftet sind. Es ist legitim, den Körper im Ballett zu verherrlichen – aber wenn das dann zu nichts weiter führt, ist es eben doch zu langweilig.
Aber auch das muss man mal gesehen haben. Insofern ist „Paradigma“ interessant, zumal das erste und dritte Stück durchaus ergreifende Momente zu bieten haben.
Die Aussicht nach kurzem Bergauf, einer langen Talfahrt und rasanter Fahrt hinan lohnt aber zweifellos.
Und in einer durch Verbote lahmgelegten Theaterlandschaft macht sich ein Stream mit einer ansehnlichen jüngeren Aufzeichnung so oder so famos. Das hält man dem Programm zu Gute, egal, ob es in toto gefällt oder ob nicht.
Gisela Sonnenburg
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