Gefühlstiefe im Stream Roberto Bolle tanzt mit Zenaida Yanowsky noch mal deren Bühnenabschied mit „Marguerite and Armand“ von Frederick Ashton: im Stream aus London und auf der Blu-ray Disc

Zenaida Yanowsky mit Roberto Bolle

Auch so kann ein Triumph aussehen: Zenaida Yanowsky und Roberto Bolle nach „Marguerite and Armand“ von Frederick Ashton im Covent Garden. Videostill: Gisela Sonnenburg / Opus Arte

Am Ende gibt es keinen Applaus, sondern einen Triumph! Zenaida Yanowsky, in Frankreich gebürtige Starballerina mit spanisch-russischer Abstammung, vollblütig und dominant und zudem aus einer Dynastie von Tänzerinnen und Tänzern stammend, war seit 2001 Principal Dancer, also Primaballerina, beim Londoner Royal Ballet. Über ihren Bühnenabschied im Juni 2017 mit einer atemraubenden Vorstellung an der Seite von Superstar Roberto Bolle in „Marguerite and Armand“ von Frederick Ashton berichtete das Ballett-Journal bereits (Link zum Bericht bitte hier). Jetzt gibt es ab heute abend, 20 Uhr MEZ, dieses starke Stück klassischen Tanzes als Online-Stream zu sehen (für 3 Pfund, bis zum 14. Februar 21) – und auf der entsprechenden Blu-ray Disc, die bei Opus Arte erschien, tanzen auch noch die grandiose Marianela Nunez und der elegante Vadim Muntagirov (in den „Symphonic Variations“, ebenfalls von Ashton) sowie die unüberbietbar aparte Akane Takada und der hitzköpfige Steven McRae in „The Dream“, Ashtons Shakespeare-Adaption. Welches Angebot man da auch immer annimmt, man macht nichts falsch: Theatertraditionen und Legenden, Erotik und Fantasien, auch Tragik und Passion verschmelzen so oder so zu einem Fest der britischen Tanzklassik!

Als Sir Frederick Ashton im Jahr 1963 seine Kurzversion der Liebesgeschichte von „Marguerite and Armand“ frei nach dem Roman „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas fils kreierte, konnte er nicht ahnen, dass sein Werk, das er speziell für Margot Fonteyn und Rudolf Nurejew ersann, eines der größten Meisterwerke des Balletts anregen und als Vorläufer von John Neumeiers dreistündigem Ballett „Die Kameliendame“ zusätzlichen historischen Glanz erhalten würde.

Nur gute 30 Minuten braucht Ashton, um die Geschichte der in Liebe sterbenden Luxuskurtisane und ihrem verliebten Verehrer zu Musik von Franz Liszt zu erzählen. Drastisch muten mitunter die Sprünge in der Handlung an – aber vor allem in den Pas de deux des Liebespaares finden sich viele delikate Momente wie rasante Hebungen, innige Umarmungen, edelmütige Küsse.

Für die 60er-Jahre war es hochmodern, die Heldin am Ende verschwitzt und mit zerfledderter Frisur und in einem schlichten Nachthemd aus fliederfarbener Seide zu zeigen.

Zenaida Yanowsky mit Roberto Bolle

Ein Kuss in Ehren nach der ergreifenden Vorstellung: Roberto Bolle hält Zenaida Yanowsky im Arm, während der Applaus sich steigert und steigert und steigert… Videostill von Opus Arte: Gisela Sonnenburg

Die Kostüme von Cecil Beaton setzten Maßstäbe für Ballettgewänder in cineastisch inszenierten Stücken über das 19. Jahrhundert. Auch „Onegin“ von John Cranko hat hier, wie natürlich auch wieder „Die Kameliendame“ von Neumeier, unverkennbar das Vorbild. Jürgen Rose, der weltbekannte Bühnen- und Kostümbildner beider Großballette, hat Beatons Ideen übernommen und weitergeführt, moduliert und geschmacklich wie dramaturgisch perfektioniert.

Aber sogar die Recamière der Marguerite als auch ihre Blume am schulterfreien Dékolleté findet sich hier schon, ebenso wie die Frackschöße von Armand. Von choreografischen Zitathappen ganz zu schweigen; wer „Marguerite and Armand“ aufmerksam anschaut, kann keinen Zweifel an der Inspiration haben, die sie für Cranko und vor allem Neumeier bedeutete.

Die Liebe, ach, hat hier viel Herz – und sowohl Zenaida als auch Roberto sind als Bühnenliebende erfahren genug, hier all ihren Schmelz, all ihre Verletzlichkeit, all ihre Sehnsucht und all ihr Glück wie auch all ihr tragisches Empfinden hineinzulegen und zur Schau zu stellen.

Welch hinreißende Tragödie!

Tiefe Gefühle, die sich aus dem leichten Flirt und der Liebe auf den ersten Blick entwickeln, beherrschen hier den Paartanz, aber auch die solistischen Momente im Stück.

Marguerite, also Zenaida Yanowsky, hat zudem mit den Männern zu tun, die bisher mit ihrem Geld ihr Leben bestimmten. Die Herauslösung aus einer durch Prostitution emotional verkommenen, wenn auch in der High Society platzierten Existenz und das Einleben in ein freiwillig gewähltes Liebesgefüge zeichnet die herbe Brünette en detail nach.

Roberto Bolle als Armand erleichtert ihr das mit seinem Charme und seiner stürmischen Zuwendung. Hier knistert es zwischen zwei ebenbürtigen Menschen ganz so, als seien sie Teenager, die sich zum ersten Mal überhaupt verknallen. Aber zugleich können beide auf den Erfahrungsschatz der Erwachsenheit abstellen – sie noch stärker als er, das steht auch so im „Drehbuch“.

Zenaida Yanowsky mit Roberto Bolle

Die Recamière ist auch schon da: Zenaida Yanowsky und Roberto Bolle in „Marguerite and Armand“ von Ashton. Videostill von Opus Arte: Gisela Sonnenburg

Ashton wäre aber nicht Ashton, wenn er selbst seinen hier kreierten Stil fortgeführt und weiter entwickelt hätte. Vielmehr erfand Sir Fred für jedes seiner Stücke eine neue Prägnanz, einen neue stilistische Ausformung. Es machte ihm Spaß, mitunter Kolleg*innen zu parodieren oder zu zitieren – und mal ersann er getanzte Hommagen, etwa an Isadora Duncan, mal fröhliche Parodien.

Eine davon bildet das Mittelstück jener Blu-ray Disc, die mit Zenaidas Abschiedsvorstellung in „Marguerite and Armand“ endet. Es sind die „Symphonic Variations“, die bereits 1946 nach Musik von César Franck entstanden.

Vom ersten Moment an ist klar, dass Ashton hier mit George Balanchine sein Spielchen treibt. Wie bei Balanchine wird vor abstraktem Hintergrund mit konkreten Details getanzt – aber nicht etwa unter einem Diamantenhimmel, wie in „Jewels“, sondern vor einem orange grundiertem Schnittmuster für Engelsflügel.

Man muss schon genau hinsehen und die geschwungenen Linien (durchgehende und unterbrochene, wie halt auch beim Schnittmuster) identifizieren. Aber dann herrscht kein Zweifel mehr: Wer sich – für eine Theateraufführung oder für den Karneval – hier etwas schneidern will, wird wohl auf Flügel stoßen, wenn er sich an die Vorgaben hält.

Die Tänzer*innen davor stehen in Reih‘ und Glied versetzt, niedlich und witzig zugleich platziert.

Die Damen hüpfen in kurzen weißen Röckchen umher (in Balanchines Grundvorstellung von weiblicher Garderobe, sozusagen), und die Herren geben in weißen Strumpfhosen und asymmetrischen Oberteilen mit Gürtel eine Steigerung von „Apollon musagète“, Balanchines Musenballett, ab.

Auch choreografisch wird genau dieses Ballett in Posen, Hebungen und Kniefällen parodiert. Und das Ganze sieht doch zugleich noch spritzig, erhaben und wehmütig aus!

So etwas konnte eben nur Frederick Ashton.

Zenaida Yanowsky mit Roberto Bolle

Ironie und Parodie: „Symphonic Variations“ von Frederick Ashton ist eine Satire auf George Balanchine „Apollon musagète“. Mittig vorn: Marianela Nunez. Wow! Videostill von Opus Arte: Gisela Sonnenburg

Marianela Nunez und Vadim Muntagirov tragen ihr Schicksal der ballettösen Satire mit Würde und balancieren, springen, pirouettieren mit Elan und Grandezza. Und auch die beiden weiteren Paare haben den Esprit dieses hintergründigen sinfonischen Balletts genau erkannt.

Die Euphorie, die bei Balanchine stets erzielt werden soll, ist hier allerdings einer verhalten-komischen Elegie gewichen.

Und so schmunzelt man bei jedem Takt mehr, zumal die Krönchen auf den Häuptern der Damen wirklich nach Karneval aussehen.

Die Ausstattung stammt von Sophie Fedorovitch, die Vorgaben, die sie hatte, stammen aber von Ashton. Er wollte selbstredend eine Ergänzung seiner choreogafischen Satire im Kostüm- und Bühnendesign.

Noch witziger, ja schelmisch und sogar urkomisch ist aber das erste Stück auf der Blu-ray Disc: „The Dream“, „Der Traum“, frei nach William Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ und unter Nutzung der entsprechenden Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy.

Hiermit gelang Ashton eines seiner absoluten Meisterstücke.

Und die bezaubernde Akane Takada ist genau die Richtige, um als Nachfolgerin von Antoinette Sibley, die die Titania in der Uraufführung tanzte, in der Rolle der erst zickigen, dann liebeshungrigen Elfenkönigin zu reüssieren.

Steven McRae als Elfenkönig Oberon springt voller Verve und spielt mitreißend den lüsternen, dubios an einem kindlichen Knaben interessierten Obermacker. Ashton hat – anders als etwa John Neumeier in seinem Abendfüller „Ein Sommernachtstraum“ – das Kind als Zankapfel zwischen Titania und Oberon übernommen.

Zenaida Yanowsky mit Roberto Bolle

Steven McRae als eleganter Oberon beim Schlussapplaus nach „The Dream“ von Frederick Ashton. Charmant! Videostill von Opus Arte: Gisela Sonnenburg

Bei Shakespeare ist es wohl ein Jugendlicher (er soll Oberons Knappe werden, was auch immer das im Kontext heißen mag), bei Ashton und vielen Regisseuren aber ist es ein kleiner Junge. Hier trägt er einen türkisch anmutenden Turban, helltürkis und mit Perlen besetzt, als wäre er soeben von einem fliegenden Teppich gestiegen.

Titania gibt das Kind erst am Ende ihrem Gatten – dazwischen liegt eine verzauberte Nacht, in der sie sich in den von Oberon und seinem Gehilfen Puck in einen Esel verwandelten Handwerker verliebt.

Bravourös tänzelt Bennet Gartside als Bottom („Zettel“, also als Handwerker-Esel) auf Spitzenschuhen durch die Szene. Komisch und abgründig zugleich ist der Mann hier ein willenloser Depp, der von der zarten, verführerischen Elfenkönigin verwöhnt wird.

Die Aspekte der Satire sind auch hier unübersehbar, wenngleich sie sich auf die Gesellschaft beziehen und ausnahmsweise mal nicht auf einen anderen Choreografen.

1962 schuf Ashton seinen „Dream“, zwei Jahre, bevor sein amerikanischer „Konkurrent“ George Balanchine seine Version von „A Midsummer Night’s Dream“ choreografierte. In manchen Szenen gibt es da entfernte Ähnlichkeiten, aber keine wirklichen Zitate. Wo Ashton niedlich-süß agiert, übt Balanchine den Entwurf einer strengeren Linie.

Für Ashton kreierte David Walker entzückend-zuckrige Bilderbuch-Elfen, im flatterhaften Tüllrock mit zarten Flügelchen, alles in pastellenen Pudertönen. Für Balanchine zeichnete (Barbara) Karinska gelbliche, futuristisch anmutende Elfenkleider.

Zenaida Yanowsky mit Roberto Bolle

Akane Takada als Titania mit Blumen im Arm nach „The Dream“ von Frederick Ashton beim Schlussapplaus. Top! Videostill von Opus Arte: Gisela Sonnenburg

Ein Vergleich der beiden Versionen lohnt sich aber nicht nur deshalb! Und darum sei hier auch die Balanchine-Inszenierung in der Besetzung mit Alessandra Ferri, Roberto Bolle (jaja!), Massimo Murru und Riccardo Massimi genannt, wie Arthaus Musik sie als Aufnahme von der Mailänder Scala (2007) im Handel hat. Allerdings stammen die Kostüme hierin von Luisa Spinatelli, und sie lehnt sich – im Gegensatz zu Karinska – tatsächlich an David Walker an.

Der Ashton-Wald, der den „Dream“ beherbergt, hat jedoch einen großen Vorteil: Er wurde von Anthony Dowell gestaged. Dieser große alte Herr des englischen Balletts tanzte selbst an der Seite von Sibley den männlichen Hauptpart, den Oberon.

Mittlerweile ist er ein reizender Senior, der im Ballettsaal bei der Arbeit noch so richtig aufblüht, der aber auch voll Güte nach der Show einen riesigen Blumenstrauß an Zenaida übergibt. Das Extra-Material der silbernen Scheibe mit Interviews und ausgiebigen Applaus-Aufnahmen lohnt sich daher unbedingt!

Und Dowell hat immer noch dieses gewisse Funkeln in den Augen, dieses gewisse Etwas, das von großer instinktiver Kenntnis des Balletts kündet.

Zweifellos ist die starke Poesie der Pas de deux von Akane Takada und Steven McRae auch ihm zu verdanken.

Und so fügt sich hier alles zum Guten – was uns von der Corona-Krise hart Betroffenen ein wenig Mut macht.

Schön sind außerdem die Applaus-Szenen, die die Blu-ray Disc „The Dream“ ebenso mit bietet wie ein Interview mit Zenaida Yanowsky.

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Und wenn am Ende, nach „Marguerite and Armand“, das Publikum vor Begeisterung in Ovationen ausbricht und die Blumensträuße nur so auf die Bühne fliegen, dann ist es fast, als wäre man dabei, mitten im Covent Garden, um gemeinsam mit Gleichempfindenden sich der Faszination des Balletts ganz zu ergeben.

Dirigent Emmanuel Plasson hat mit dem Orchestra of the Royal Opera House aber auch in allen drei Stücken sein Bestes gegeben, um diesen Eindruck noch zu verstärken. Pianist Robert Clark darf zudem die Liszt’schen Finessen vollauf auskosten, wenn die Liebe, ach die Liebe, dank Zenaida Yanowsky und Roberto Bolle zu ihrer tänzerischen Hochform aufläuft.

Brava! Bravo! Bravissimo!
Gisela Sonnenburg

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