Oh, schöne traurige Liebende Anna Laudere gab beim Hamburg Ballett ihr Debüt in der Titelrolle von John Neumeiers „Tatjana“ – sie begeisterte, und zwar nicht allein

Anna Laudere als "Tatjana" und andere Debüts

Anna Laudere debütierte als „Tatjana“ beim Hamburg Ballett in John Neumeiers moderner tänzerischer Nachdichtung von Puschkins „Eugen Onegin“ – und sie entführte in eine Welt der fraulichen starken Gefühle, die fast bis zur Selbstaufgabe reichen. Aber mur fast! Foto: Gisela Sonnenburg

Sie ist so traurig in ihrer Liebe und doch so stark dabei: John Neumeiers „Tatjana“, nach dem Versroman von Alexander Puschkin entstanden, schildert die unmöglichen, aber ebenso unleugbaren Gefühle einer Frau, die durch das unerfüllte Begehren eines unanständigen Dandys reift und bei einem anderen, weitaus ehrenhafteren Mann das Beziehungsglück findet. Doch ganz im Innern liebt sie nur den einen Mann, der ihr einen Korb gab, als sie noch ganz jung war, und der dann viel zu spät kommt, um sie endlich lieben zu lernen. Bei der Uraufführung tanzte Hélène Bouchet diese Partie, jetzt gab Anna Laudere ihr Debüt darin – die kühle Melancholikerin aus Riga vermochte der Rolle ihren eigenen Stempel aufzuprägen.

Drei Stunden dauert das genussvolle Martyrium aus Sehnen und Hoffen, aus Verlieren und Finden, aus Träumen und Erdulden, aus Tatkraft und Entscheidungswille: Tatjanas Entwicklung ist in John Neumeiers 2014 kreiertem Tanzdrama kein einfaches Erwachsenwerden, sondern ein komplexer psychologischer Prozess, in dem das Innenleben der handelnden (und liebenden) Personen weitaus wichtiger ist als die formalen Szenenvorgänge.

Anna Laudere als "Tatjana" und andere Debüts

Ein Blick ins Begleitbuch zu den „40. Hamburger Ballett-Tagen 2014“ wirkt anregend: Neumeier gibt auch in den Programmheften eine Einweisung in sein Werk. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Anna Laudere betont in ihrer Interpretation die großen Gefühlsschwankungen, die die Verliebtheit-bis-kurz-vorm-Tod so mit sich bringt. Freude, Trunkenheit vor Glück, aber auch Depression und schließlich klare Entschiedenheit: Annas Tatjana ergibt sich passioniert dem Gefühlsrausch, vergisst aber nicht, was sie sich selbst schuldig ist.

Wer nicht vor sich selbst solchen Respekt hat, kann nur schwerlich erwarten, dass andere ihn zollen. Diese Tatjana muss um ihr Selbstbewusstsein erst hart kämpfen, bevor es ihr selbstverständlich wird. Aber dann – dann ist sie ganz bei sich und muss dem Mann, dem sie einst ihr Herz auf immer geschenkt hat, den Laufpass geben.

Carsten Jung als Eugen Onegin taucht auf und ab, wie Männer in seinem Alter und mit seiner Erfahrung es so tun, wenn nichts sie hält und niemand ihnen Grund zu Selbstdisziplin gibt. Der aus Thüringen stammende phänomenale Erste Solist des Hamburg Balletts tanzte die Rolle des Eugen bereits im letzten Jahr, damals an der Seite der brünetten „First-class-Französin“ Hélène Bouchet – und er hat jetzt erneut (wie schon in „Othello“ im November 2014) Gelegenheit, mit der blonden Anna Laudere ein seltsam sprödes, dadurch aber umso ergreifenderes Paar zu bilden.

La Laudere glänzt in seinem Arm, verbürgt ist aus dem Zuschauerraum folgender Eindruck: „Tatjana wird bei Anna Laudere langsam, aber sicher eine starke Frau, das sieht man ihren Augen und ihrem ganzen Körper an. Man spürt es. Anna hingegen erlebt es. Und zusätzlich berührt sie durch ihre stille Ausstrahlung, die etwas Feines und Starkes zugleich hat und einen manchmal an die Raffinesse von unglasiertem Biskuit-Porzellan erinnert.“

Aber auch andere Debüts gab es gestern abend zu sehen. Doch zunächst berückten, wie schon bei der Uraufführung und bei den bisherigen Besetzungen, Sasha Riva und Marc Jubete mit ihrer speziellen Ausdrucksstärke, die sie als Doppelpack unnachahmlich macht: Sie tanzten auch gestern den doppelseeligen „Zaretzky“, eine jener mysteriösen Figuren, die Neumeier (wie etwa auch den „Wanderer“ in „Tod in Venedig“) mit orakelhaft-psychologischer Absicht auf zwei Tänzer aufteilt. Jubete und Riva waren emotional wie körperlich so harmonisch aufeinander abgestimmt wie zwei synchron spielende Geigen in einem Luxus-Kammerorchester.

Anna Laudere als "Tatjana" und andere Debüts

Das LIbretto – also die Handluing – ist auch dann wichtig zu kennen, wenn man nicht die äußeren Umstände einer Szene für das Entscheidende hält… Faksimile des Begleitbuchs zu den 40. Hamburger Ballett-Tagen. Gisela Sonnenburg

Prinz N. – im Roman ist es der Fürst Gremin –, der Tatjana heiratet, sollte eigentlich von dem geschmeidigen Dario Franconi getanzt werden, aber da dieser verletzt ist (Bitte: Gute Besserung! Nichts überstürzen!), übernahm der Newcomer Graeme Fuhrman die Partie. Der Kanadier, der erst als Teenager zum Balletttanzen kam, der aber dann schon als Jungprofi im Bundesjugendballett schwer auffiel und seit zwei Jahren auf eine große Chance beim Hamburg Ballett wartet, überwältigte viele im Publikum: mit seiner hippen Geradlinigkeit, seiner burschikosen, dennoch männlichen Kraft (die sich unter anderem in tadellos akkuraten Hebungen manifestiert) und einer Rolleninterpretation, die frisch und unikat einher kam: Fuhrmans Prinz N. ist weniger hintergründig-souverän (wie etwa der von Carsten Jung, der den N. kreierte), aber dafür von besonders zuverlässiger, auch ehrlich-ehrenhafter Ausstrahlung. Tatjana, so meint man, hat wahrlich eine gute Wahl getroffen, als sie diesen Mann an Land zog.

Es gab aber noch zwei weitere Debüt-Besetzungen. Zuerst die zweite debütierende Dame: Carolina Agüero, die derzeit auf einem Höhepunkt-folgt-auf-Höhepunkt-Hoch ihres künstlerischen Werdegangs reitet, lieferte als Olga genau jene Unbeschwertheit und Lebensfreude ab, die die Figur haben muss. Nun hat Leslie Heylman, die Olga der Uraufführung, hier eine starke Steilvorlage gegeben. Aber das hielt Carolina nicht davon ab, mit Schönheit und lächelnder Weiblichkeit eine etwas zartere, wenn man so will auch huldvollere, dennoch aber genau so lebenslustige Traumfrau darzustellen.

Im Stück ist ja vor allem das erste Solo, das Neumeiers Olga zu tanzen hat, von Bedeutung: Sie fomuliert damit exakt jene Fantasie von einer „romantic superwoman“, in die sich der Komponist Vladimir Lensky – der später von seinem Freund Eugen Onegin im Duell erschossen wird – Hals über Kopf und völlig rettungslos verliebt. Verliebt bis in den Tod ist dieser Lensky dann, und er ist zugleich so etwas wie ein Opfer seiner eigenen Vorstellungskraft. Denn er kommt mit seiner in ihm gärenden, dann jähzornig aufflammenden Eifersucht ebenso wenig zurecht wie mit der Tatsache, dass er für seine Kreativität ein gewisses Maß an seelischem Schmerz ab und an braucht.

Immerhin ist er ja Komponist, und Neumeier, dieses choreografische Genie, lässt seinen Lensky in den schönsten „leidenden“ Eleganz-Posten von der Klavierbank rutschen, ein akrobatisch inspiriertes lyrisches Talent, das da tänzerisch definiert wird. Dass diese Rolle übrigens von Alexandr Trusch kreiert wurde, dürfte jedem Kenner des Hamburg Balletts – auch ohne auf den Besetzungszettel der Uraufführung zu sehen – himmelsklar sein.

Anna Laudere als "Tatjana" und andere Debüts

Szenen aus „Tatjana“ im Begleitbuch der „40. Hamburger Ballett-Tage 2014“: links Lensky und Olga, getanzt von Alexandr Trusch und Leslie Heylman. Fotos im Buch: Holger Badekow. Faksimile: Gisela Sonnenburg

In der jetzt gezeigten Zweitbesetzung aber tanzt nicht Trusch, sondern Christopher Evans den Lensky. Was soll man sagen, was hört man? Ein Raunen. Wen man auch fragt – alle sind zuerst stumm vor Glück und flüstern dann: „Als wäre die Rolle für ihn gemacht!“ Das kann eigentlich gar nicht sein. Jeder weiß doch, jeder sieht doch, dass diese Partie eindeutig eine Trusch-Rolle ist… aber anscheinend gibt es Prinzen, die sich zwar kaum ähnlich sehen, deren Temperamente aber dennoch vorzüglich in dieselben Schuhe, Hosen oder eben, wie hier, in die blau karierten Komponisten-Hemden passen. Im übertragenen Sinn: in dieselben Choreografien, ohne dass man sie verwechseln oder „geklont“ finden würde. „Lust auf mehr“, sagt mir jemand, habe er bei Christophers Anblick empfunden – und als „Traumbesetzung“, nun ja, wurde er sogar schon im Vorfeld seines Debüts gehandelt. Kein Wunder, hat er doch als Albrecht in „Giselle“ gezeigt, wozu auch ein so ganz junger Tänzer (er wird erst im November 21 Jahre alt) schon in der Lage sein kann. Evans als jugendlich beschwingter Liebhaber ist also die Entdeckung dieser Saison beim Hamburg Ballett – bisher, denn noch wird es ja so Einiges zu erforschen geben im Spielplan.

Anna Laudere als "Tatjana" und andere Debüts

Traumgefüge, Alptraumhaftes, Fantasien, Emotionen – das Innenleben der Figuren zählt in Neumeiers „Tatjana“. Hier noch ein Blick ins Begleitbuch der „Hamburger Ballett-Tage 2014“. Fotos darin: Holger Badekow. Faksimile. Gisela Sonnenburg

Wem die vielen Kostümwechsel, die durch die Zeiten und Kulissen führen wie durch eine Zeitreise durch die Jahrhunderte seit Puschkin, optisch fast zuviel werden, der kann sich übrigens in „Tatjana“ immer ganz modern der Musik hingeben, die die Hamburger Philharmoniker unter Simon Hewett andächtig zelebrieren: Lera Auerbach, die russisch-amerikanische Komponistin, schuf mit zarter Frauenhand die Partitur, passgenau und in enger Absprache mit John Neumeier. Jede Note ist da kostbar, trägt sie doch auch ein Eigenleben in sich, das inspiriert ist von der wahrscheinlich wichtigsten Liebesgeschichte unserer Zivilisation.
Gisela Sonnenburg

Wieder in dieser Besetzung am 4. Juni in der Hamburgischen Staatsoper

Andere „Tatjana“-Termine siehe „Spielplan“; andere Texte zu „Tatjana“ siehe unter „Hamburg Ballett“

www.hamburgballett.de

 

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