Über die Einsamkeit der Liebenden Kulturelles Crossover: die vorerst letzte „Tatjana“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett – und eine Bitte an die Politik

Tatjana mit Anna Laudere in der Titelrolle beim Hamburg Ballett

Zaretsky: Zwei Tänzer stellen eine Figur dar, mysteriös und dubios, aber galant. Foto: Holger Badekow

Macht Liebe einsam? Manche Frauen ja.. Vorab aber ein dringender zeitaktueller Hinweis: Der Hamburger Senat sollte keine Risiken wie G20 mehr eingehen. Und: Er sollte unbedingt die Werbebudgets vom Hamburg Ballett und der Hamburgischen Staatsoper drastisch erhöhen. Um Kulturtraditionen zu bewahren, die der Stadt ein eigenes Profil und sogar Weltruhm bescheren. Denn neben der Elbphilharmonie gibt es auch die renommierten Ballett- und Opernvorstellungen. Die sind aber seit Eröffnung der Elphi seltener ausverkauft. Ist ja auch logisch. Denn das Klassikpublikum vermehrt sich ja nicht sprunghaft, nur weil es eine neue Location gibt. Nun wurde Elphi mit einem Werbe-Hype sondergleichen bedacht, und zwar aus Steuermitteln. Um das Publikum nicht so einseitig zu informieren und auch, um neue Interessentenkreise zu gewinnen, sollte man demnächst groß angelegte Werbe-Campagnen für die beiden anderen Klassikressorts – außer dem Konzert – starten: für das Ballett und die Oper. Damit großartige Abende – wie jetzt „Tatjana“ von John Neumeier – wieder vor vollem Haus stattfinden.

In einer Top-Besetzung bestach das Hamburg Ballett am Sonntag – während der 43. Hamburger Ballett-Tage – einmal mehr mit absoluter Körperbeherrschung, mit Eleganz und Ästhetik, mit Präzision und Musikalität, zudem mit einer Passion und Hingabe auch ans Schauspielerische, wie man sie nirgends auf der Welt so stark und ausgeprägt findet wie hier.

Anna Laudere in der ergreifenden Titelpartie, Edvin Revazov als erschütternder Eugen Onegin, Alexandr Trusch als traumtänzerischer Komponist Lensky, Leslie Heylmann als lebensfrohe und liebreizende Olga und Dario Franconi als markant Halt gebender Prinz N. sowie ein bestens aufgestelltes Ensemble sorgten für jenen morbid-mondänen Glanz, der nur im Ballett zugleich noch appetitlich und sauber leuchtet.

Hart wie das Leben, aber schön wie alle Märchen der Welt zusammen!

Die Liebesgeschichten hier sind Leidensgeschichten; vor allem die liebenden Frauen müssen zudem eine große Einsamkeit ertragen (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-tatjana-anna-laudere/).

Zu Beginn träumt Tatjana von der Liebe, indem sie schaurige Romane mit delikatem Inhalt genießt. Ein Teddybär, riesengroß und kuschelig, steht ihr zur Seite – er wird später im Traum zum Liebhaber mit Bärenfell.

Schnee fällt immer mal wieder in Form von hoch elegant tanzenden Schönheiten auf dieses alt- wie neurussische Seelenpanorama.

Zeitlich springen wir durch die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts bis hinein in die Gegenwart. Träumende und liebende Frauen wie Tatjana gab es immer – und wird es immer geben!

Als mit Eugen Onegin ein exzentrischer Großstadttyp in ihrem ruhigen Landpomeranzenidyll auftaucht, ist es um Tatjana ad hoc geschehen. Fortan kennt der Fenstersims, auf den sie sich gern auch tanzend zurückzieht, nur noch ein Motiv: die Liebe zu diesem Egomanen.

Alexander Puschkin schrieb seinen Versroman „Eugen Onegin“ zwischen 1823 und 1830. In Neumeiers Ballett ist das dichterische Werk nur die Grundlage zu einer eigenen Variation dieser urtypischen Geschichte von Mann und Frau, die sich lieben, aber nicht zur selben Zeit – und die darum nicht miteinander glücklich werden können.

Tatjana mit Anna Laudere in der Titelrolle beim Hamburg Ballett

Anna Laudere tanzte die letzte „Tatjana“ für längere Zeit beim Hamburg Ballett. Dass sie außerdem die aktuelle „Anna Karenina“ in Hamburg tanzt, bestätigt ihre Eignung für Rollen der  leidenden Liebenden. Foto: Kiran West

Tatjana“ ist weder eine choreografische Eins-zu-Eins-Umsetzung des Romans noch eine Antwort auf John Crankos beliebtes Ballett „Onegin“. Aber als das Tanzstück 2014 erst in Hamburg, dann in Moskau premierte, bildete es bereits eine kulturelle Brücke zwischen zwei Welten, die sich nicht immer so viel zu sagen haben wie mit Ballett (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-tatjana-moskau/).

Hinzu kommt, dass die Musik von Lera Auerbach speziell für diese tänzerische Arbeit geschaffen wurde, sie ist ein Auftragswerk.

Und auch Auerbach verkörpert ein Grenzgängertum, das mit Interkulturalität nicht ausreichend beschrieben ist, so wechselhaft und vielseitig verwurzelt ist die Musik der in den USA lebenden Russin.

Jaulende, weinerliche Sägelaute wechseln mit schwelgenden Orchesterpassagen. Sanfte Melancholie schlängelt sich gebrochen melodiös durch die Partitur, wie ein roter Faden durch ein kohärentes Textilwerk.

Das Leitmotiv, das für Tatjanas Sehnsucht und Liebe steht, besteht aus einer hoch beginnenden, zunächst auf-, dann langsam absteigenden, sich wiederholenden Phrase, die sich elegisch zu einem lang gehaltenen Ton erweitert.

Natürlich klingt das Russische darin an, die tiefe Seele der Russen, ihre Sehnsucht, ihre Freude, ihre Wehmut.

Aber auch der westliche Schwung, das Jazzhafte, das Pizzicato der fidelen Opernwelt findet sich, vereint in postromantischen Akkordkaskaden.

Neben vielfältigem Schlagwerk gibt es hier übrigens auch eine Celesta.

Garrett Keast dirigierte das Philharmonische Staatsorchester Hamburg.

Choreografie, Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme und auch das nicht in Rechnung gestellte Licht stammen aus einer bewährt genialen Hand, von John Neumeier.

Tatjana mit Anna Laudere in der Titelrolle beim Hamburg Ballett

In „Tatjana“ stammen Kostüme, Bühnenbild, Licht und Choreografie von John Neumeier. Hier im Szenenbild mittig: Leslie Heylmann als Olga über dem erschossenen Lensky (Alexandr Trusch). Foto: Holger Badekow

Erlesen und doch schnörkellos muten die Kostüme und die Szenerien an.

Am mitreißendsten: Tatjanas Fantasiewelt. In violettes Licht getaucht, tanzt sie darin mit Onegin, dem intellektuellen Glatzkopf im Rollkragenpulli, als gelte es, mit der Synergie von Mann und Frau die Welt erst zu erobern und dann neu zu gestalten.

Doch das Schicksal will es anders. Onegin gibt ihr einen Korb, lässt sich von ihrem heißblütigen Liebesbrief an ihn nicht berühren.

Als er mit ihrer Schwester, der leichtherzig-liebenswerten Olga, flirtet, zerstreitet er sich darüber zudem noch mit Lensky, der Olgas Verlobter und Onegins bester Freund ist.

All die Pas de deux, die die beiden Männer tanzen – sie bergen bei aller Synchronizität und Harmonie ein finsteres Geheimnis. Denn schließlich wird einer den anderen umbringen – im Duell wegen Olga.

Das coole Versöhnungsangebot Onegins an Lensky, aus der Wodkaflasche einen zu trinken, nachdem Lensky ihm erst Schnaps daraus ins Gesicht gespritzt hatte, lehnt der erboste und zutiefst beleidigte Lensky ab. Damit rennt er in den Tod, denn Onegin ist der viel überlegenere, kaltblütigere Schütze.

Der Schuss, mit dem er seinen Freund abknallt wie ein Vieh, wird Onegin lebenslang verfolgen, und Lenskys Tod wird auch immer wieder als Zeitlupenmoment im Ballett zu sehen sein. Und auch Tänze, also getanzte Dialoge, zwischen Eugen Onegin und Lensky wird es immer wieder geben, in Onegins Erinnerung.

Tatjana mit Anna Laudere in der Titelrolle beim Hamburg Ballett

Dario Franconi tanzte den Prinzen, der in „Tatjana“ die Titelheldin heiratet. Und der ihr eine Sicherheit und Geborgenheit gibt, die der Mann ihres Herzens nicht für sie übrig hat. Foto: Kiran West

Es war wohl kein Zufall, dass Puschkin ebenso starb: im Duell. Es scheint, der Dichter inszenierte im Alter von 37 Jahren seinen Tod aus einem Konflikt heraus, der dem von ihm erfundenen in „Eugen Onegin“ zum Verwechseln ähnlich sieht.

Es ging dabei um die Schwester seiner Frau, und die abgeklärte Art, wie Puschkin sich hier in das Duellgeschehen involvieren und erschießen ließ, ist merkwürdig. Möglicherweise war er, wie der Komponist Peter I. Tschaikowsky, insgeheim homosexuell, was im Kontext der Konventionen und Verbote seiner Zeit mit starkem Leiden und großer Tabuisierung verbunden war. Vielleicht trieb ihn das in die Arme des Todes…

Vielleicht aber war es auch nur ein unglücklicher Zufall, ausgelöst durch unbewusste Vorgänge, der ihn so sterben ließ wie jene Romanfigur, mit der er sich am stärksten identifizierte.

Der Makel der Ehre, wenn es um den Besitz einer Frau geht, stößt jedenfalls im Roman wie in Puschkins Leben und Sterben bitter auf. Was war das für eine Machogesellschaft, die keine noch so kleine narzisstische Kränkung erträgt?

Was war das für eine Gesellschaft, die aus einem Flirt einen Grund zu morden macht?

Wie ist es heute? Heute arbeiten die Workaholics bis zum Burnout, um sich mit ihren Beziehungen nicht wirklich auseinander setzen zu müssen.

Motto: Arbeit ersetzt Liebe.

Ist das so viel besser als Puschkins verlogene Duellgesellschaft?

Cinderella - ein Märchen für Menschen.

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Als Schicksalsfigur, die das permanent wortlos zu fragen scheint, erscheint hier der Sekundant Zaretsky (in dessen Name schon bei Puschkin das Wörtchen „Zar“ steckt). Bei Neumeier ist er verdoppelt vorhanden, als ungleicher Zwilling, ähnlich wie der „Wanderer“ in Neumeiers „Tod in Venedig“.

Vielleicht ist die Verdoppelung einer männlichen Symbolgestalt in Neumeiers Balletten ein Hinweis auf die verborgene Homosexualität eines ihrer Protagonisten.

Marc Jubete und Lizhong Wang tanzen diese dämonisch-geschmeidigen schwarzen Gestalten, die bei Neumeier den Kummer der Tatjana gleich mit gebären, und zwar bereits zu Beginn des Balletts.

Man erinnert sich übrigens gern an Sasha Riva, der den zwielichtig-galanten Zaretsky mit kreierte, und der heute in Genf tanzt und choreografiert (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-sasha-riva-freedom/ ).

Wo es verdoppelte Todesboten gibt, ist auch die Traumwelt surreal:

Da sitzt die schöne Anna Laudere im lindgrünen Tatjana-Kleidchen auf der weißen Parkbank – und wartet im fallenden Schnee auf Onegin in seinem alptraumhaft bunt geblümten Jackett.

Er soll ihr die große weite Welt zeigen und sie ihr gleichzeitig vom Leib halten. Und – er tut es! Wozu Träume und Pas de deux gut sind…

Das ganze Ensemble, tout le monde, beteiligt sich an diesem makabren Tanz. Die Spannung steigt, es ist ja Tatjanas Namenstagsfest – und es kommt zum beschriebenen Konflikt zwischen Eugen Onegin und Vladimir Lensky.

Tatjana mit Anna Laudere in der Titelrolle beim Hamburg Ballett

In John Neumeiers „Tatjana“ sind sie erst Freunde, dann Feinde: Lensky (Alexandr Trusch, links) und Eugen Onegin (Edvin Revazov, rechts). Foto: Holger Badekow

Der Wodka trägt hier deutlich mit Schuld… und alle Bemühungen der Frauen zu schlichten, helfen nichts. Dunkle Vorahnungen erfassen sie, und Zaretsky und die Pistole gewinnen Oberhand.

Das Duell wird gleich an Ort und Stelle vollzogen. Die Kontrahenten tragen ihren nackten Oberkörper wie die entblößte Seele zur Jeans (Lensky) und Anzughose (Eugen Onegin).

Olga stürzt auf die Leiche Lenskys, der fast schmerzlos, mit entrücktem Lächeln verstarb.

Die trauernde, aber starke, immer irgendwie mütterliche Frau – sie gehört so sehr zu den Kulturbildern Russlands.

Zurück bleibt eine einsame Tatjana, die mit sensiblen Gesten klar macht, dass sie fortan in einem Gefängnis ihrer Gefühle und Gedanken leben wird. Mit verschlossenem Mund und heftigem inneren Kummer.

Sie legt die Hände aufs Gesicht, in Sorgen schier ersterbend, ähnlich wie Tatjana in John Crankos „Onegin“ am Schluss. Aber Neumeiers Tatjana muss sich nicht selbst überwinden, weder jetzt noch später: Ihre Hände leisten in Ruhe die Trauerarbeit, sie werden nicht zu Fäusten geballt und gesenkt wie bei Cranko.

Nach der Pause ist alles anders und doch hat die Stimmung nach wie vor eine unterschwellige Melancholie parat.

Jahre sind verstrichen. Tatjana hat sich glücklich vermählt, ist vermögend geworden, fühlt sich geliebt – und verliert sich fast, als plötzlich Eugen Onegin auftaucht. Sie trägt auf diesem Fest in ihrem Haus erst einen smaragdgrünen Samtmantel, dann ein weißes, mit Glitzerapplikationen besetztes Abendkleid mit hochgesetzter Taille. Sie ist ein wandelndes Bildnis des vornehmen Glamour!

Prinz N. tanzt in grauer, nobler Uniform – und bietet ihr ganz offensichtlich alle Sicherheit und Wärme, nach der sie sich gesehnt hat.

Aber Eugen Onegin hat diesen Blick… diesen Gang… diese Haltung… Und: Jetzt will er sie. Jetzt, da sie vergeben und verheiratet ist. Und das Glück aus ihr scheinbar einen anderen Menschen machte.

Tatjana mit Anna Laudere in der Titelrolle beim Hamburg Ballett

Edvin Revazov tanzt großartig und erschütternd den Eugen Onegin in „Tatjana“ von John Neumeier. Foto: Holger Badekow

Tatjana beherrscht sich. Aber er schreibt ihr, dass er sie besuchen wird.

Sie sitzt auf ihrem Fenstersims, umrahmt von dunkelgrünen, mächtigen Vorhängen (die an jene aus Thomas Bernhards Roman „Die Auslöschung“ erinnern).

Eugen bringt sich mit tolldreisten Sprüngen – wunderschön, auch heroisch anzusehen – in Schwung. Er eilt zu ihr. Nimmt die Abkürzung durch den Garten. Springt auf ihre Fensterbank, zu ihr. Steht da, wo sie neben ihm im schwarzseidenen Unterrock sitzt. Er beugt sich und umschlingt ihre Beine.

Aber er hat es nicht leicht. Ein leidenschaftlicher Kampftanz beginnt, geprägt von seinen Selbstzerfleischungen und Liebesbeteuerungen.

Schließlich küsst sie ihn – um ihn dann wegzuschicken. Sie begibt sich wieder in ihre Traumwelt, nimmt auf dem Fenstersims Platz, verlässt gedanklich Zeit und Raum…

Und er bricht schier zusammen, torkelt in eckig-abgehackten Bewegungen auf dem Platz. Er hat keine Chance mehr, sein Leben zu ändern noch ihre Liebe zu erringen. Er ist ein gebrochener Mann, der sein Leben zu einem einzigen Schiffbruch erklärt. Die stete Liebe hat gesiegt – und die späte Liebe hat verloren.

Puschkin plante ja zunächst, seinen Roman „Tatjana Larina“ zu nennen. Und er plante auch, die Geschichte mit dem Besuch Onegins bei der verheirateten Tatjana nicht enden zu lassen. Aber letztlich konnte er sich nicht dazu durchringen, Onegins anschließendes Streben zum Tode sowie diverse politische Anmerkungen für den Druck vorzusehen.

Ohnehin ist „Eugen Onegin“ ein Fragment, mit zahlreichen leer gebliebenen Zeilen und Versen. Aber das wurde im Lauf der Zeit nebensächlich, denn das Buch avancierte zum Nationalroman der Russen. Jedes Kind liest ihn in der Schule, viele lernen zumindest große Teile daraus auswändig. Auch Lera Auerbach hat eine intensive, seit ihrer frühen Jugend sich formende Beziehung zu „Eugen Onegin“.

http://ballett-journal.de/hamburg-ballett-tatjana-dvd/

Auf einem Ball sehen „Tatjana“ und Eugen Onegin sich in John Neumeiers modernem Ballett wieder… da ist sie bereits glücklich verheiratet. Foto: Holger Badekow

Und die meisten Ballettfans können von diesem Thema ohnehin nie genug bekommen.

Umso bedauerlicher, dass dies die vorerst letzte „Tatjana“-Vorstellung beim Hamburg Ballett war, kommende Saison steht sie nicht mehr auf dem Spielplan. Aber dafür gibt es dann genügend andere Ballette, die Herz, Geist und Seele erquicken.

Und heftige Werbemaßnahmen haben sie wirklich verdient!
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

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