Liebe, wenn sie außergewöhnlich stark ist und alle Konventionen sprengen kann, kommt als brachialer Einbruch ins Leben einher. Eigentlich ist sie ja gar nicht vorgesehen, in unseren bürgerlichen Plänen von Glück und Sicherheit und gesellschaftlichem Vorankommen. Aber die große erotische Liebe fragt überhaupt nicht nach diesen Dingen. Sie steht für sich, sie ist überwältigend, sie ist wie eine Sturmflut und wie ein Hurricane – und sie erhebt sich über all die soliden, berechenbaren, respektablen Glücksfaktoren, als seien diese erbsenzählerischer Quatsch. Da kommt die moderne Forschung mit ihrem Versprühen von Glückshormonen aus dem Labor auch nicht mit: Die wirklich starke sexuelle Liebe schmeckt unnachahmlich, sie ist unersetzlich, und sie hat mehr Einfluss auf den lebenden Organismus als irgend eine Regung sonst. Aber: Sie hat es nicht immer einfach, sogar dann nicht, wenn die Liebespartner ohne Probleme zueinander finden. Vielmehr hat die Liebe – wie nach einem ungeschriebenen Gesetz – zumeist hasserfüllte, neidische, eifersüchtige, intrigante Gegenspieler im Gefolge. In „Othello“, dem Ballett nach Shakespeare von John Neumeier, verkörpert der Fähnrich Jago die Kraft des Bösen: nach allen Spielregeln der kalten Zerstörungswut hetzt er Othello gegen seine geliebte Gattin Desdemona auf, und dabei nutzt der sich benachteiligt sehende Jago die eigenen Erfahrungen von Neid und Eifersucht, um diese alles andere vernichtenden Gefühle bei Othello hervorzurufen. Ein fataler Fall von Menschenkenntnis.
Am Pfingstsonntag tanzte Alexandre „Sascha“ Riabko diese fordernde Partie des großen Gegenspielers zur wahren Liebe (und zwar bewundernswerterweise gleich zweimal, in der Nachmittags- wie in der Abendvorstellung; auch der Dirigent Garrett Keast sowie andere Mitwirkende schafften es, zwei tolle Vorstellungen an einem Festtag zu liefern). Riabko indes verfügt über mehr als genügend schauspielerische Finesse, über die tänzerische Souveränität und über die notwendige Bühnenerfahrung, um seinen Jago als einen Mephistopheles par excellance zu tanzen.
Sollte mal jemand vergessen, wie das Böse sich gibt, wie es sich tarnt, wie es vorgeht – Riabko ist darin unvergesslich! Anders als andere Interpreten dreht er in jeder Szene voll auf, hält sich nicht zurück, und er tanzt den Jago als aggressiven Macho, nicht etwa als verschlagenen, nur hinterfotzigen Jammerlappen.
Dabei war der erste Neumeier-Jago, Max Midinet, ein ganz anderer Typ, mit einer ganz anderen Bösartigkeit: Er schillerte wie ein Dämon und rollte mit den Augen wie ein Stummfilm-Monster. Was auch grandios war. Noch anders interpretierte der damals blutjunge Marijn Rademaker beim Stuttgarter Ballett den Jago in Neumeiers „Othello“: wie ein auch erotischer Verführer. Otto Bubeníček und Ivan Urban waren in den letzten Spielzeiten beim Hamburg Ballett ebenfalls individuelle Größen des Bösen – jeweils mit einer eigenen Mischung aus Tyrannentum und Heuchelei. In der kommenden Spielzeit wird vermutlich der soeben auch mit einem Förderpreis bedachte Marc Jubete, ein absoluter Überflieger der aktuellen Saison bei den Hamburgern, den Jago tanzen – man darf gespannt sein und sich drauf freuen.
Denn tatsächlich erfüllt sich in dieser Rolle das Schicksal der meisten theatralen Plots: Das Böse ist äußerst bühnenwirksam.
Als der heutige Deutsch-Amerikaner John Neumeier 1985 seinen „Othello“ zu Musik vor allem von Arvo Pärt und Alfred Schnittke in Hamburg kreierte (und auch die Ausstattung selbst schuf), war die gemütliche Bundesrepublik gerade dabei, sich vom ersten Schock über die atomare Aufrüstung zu erholen. Die Grünen hatten sich gegründet und ihren langsamen Siegeszug ins Etablishment begonnen. Die wilden Parties in den Seventies der Hippies waren restlos ausgeklungen, und das Modeideal wechselte von „alternativ“ zu „sportlich-elegant“. Männer trugen Dauerwellen, Frauen Punk- oder Stufenschnitte. Jeans wurden in „Karottenform“ angeboten, und strassbesetzte Lederarmbänder schmückten diejenigen, die sich ganz besonders hip fühlen wollten.
Diesen Zeitgeist – des Aufbegehren gegen den Mainstream einerseits und des Anpassens, um etwas zu bewirken, andererseits – atmet dieses Ballett-Theater, das seinen Tänzern häufig abverlangt zu sprechen, zu rufen, schreien.
Auch Jago ist keine stumme Rolle. Vor allem die Beziehung zu seiner Frau Emilia, die er gewalttätig terrorisiert, lässt ihn auch seine Stimme benutzen, nicht nur den Körper.
Zunächst aber sehen wir, in was für einer Gesellschaft wir uns hier bewegen. Es ist ein Fantasie-Venezien, ein fiktiver Stadtstaat, den Shakespeare begonnen hat, sich auszudenken, und den John Neumeier weiter für sich und sein Ballett verändert hat: Venedig als eine Seemacht, eine Militärmacht, in der der General Othello, ein dunkelhäutiger Außenseiter, zügig Karriere gemacht hat. Die junge Desdemona verliebt sich derart scharf in ihn, dass sie ihn ohne Umschweife – und ohne Erlaubnis ihres Elternhauses – heiratet. Aber die beiden Liebenden kommen durch mit ihrer Kühnheit.
Auf Zypern, wo sie ein Zelt als Liebesnest haben, erweist sich vor allem Othellos Gehilfe Cassio als hilfreich, er hält Othello auch im Umgang mit den anderen Kämpfern nicht nur die Treue, sondern auch symbolisch die Hände zu Steigbügeln. Gern trägt er den Koffer des Liebespaares und bringt ihm nach der Hochzeitsnacht etwas Obst zur Erquickung. Zum Lohn wird er befördert, wird von Othello zu seinem Leutnant gemacht. Und damit entfacht der General den Hass und Neid von Jago, dem Fähnrich, der selbst gern an Cassios Stelle wäre. Geradezu lüstern heckt Jago Rachepläne aus – und bringt Cassio bei Othello in einen schlimmen Verdacht: als würde der Leutnant mit Desdemona ein Verhältnis unterhalten. Othello dreht durch, langsam, aber sicher erliegt er den eingeflüsterten panischen Visionen und eifersüchtigen Wahnvorstellungen, immer wieder aufgehetzt und aufgewiegelt von seinem scheinbar fürsorglichen Mitarbeiter Jago. Als Othello seine Desdemona in blindem Eifersuchtswahn erdrosselt hat, weint er sich ausgerechnet bei Jago aus – und erst, als der schallend lacht, erkennt Othello seinen Fehler. In einem letzten Pas de deux mit seiner toten Frau nimmt er Abschied vom Leben und richtet sich selbst. Jago aber machte – was erst seit ein paar Jahren so möglich ist – zynisch mit einem Handy ein Foto von Desdemonas Leiche.
Am Anfang und am Ende trägt Jago einen Anzug, am Schluss sogar mit Hut, er ist ein eleganter, smarter Bösewicht, an sich nicht weiter auffallend, gerade darin ein umso teuflischer Kumpan.
Dabei ist die Atmosphäre um ihn herum spannungsgeladen: Soldaten sprinten aggressiv über die Bühne, auch in den Publikumsraum; sie rufen, sie gröhlen, sie springen, sie formen Drohgebärden – sie sind auf Action aus. Thomas Stuhrmann (mit hoher Haltung), Konstantin Tselikov (mit toller Sprungkraft), Eliot Worrell (mit guter Präsenz), Dario Franconi (mit geschmeidigem Drive) und Aleix Martínez (mit einem Engagement, das wirklich lobenswert ist) verkörpern hier die jungen Männer, die – gar nicht typisch für feinsinnige Ballerini – das kriegerische Potenzial symbolisieren. Ihr Johlen, ihr Gebrüll erinnert an Schlachtrufe und Kriegsgeheul.
Cassio, brav und anschmiegsam getanzt von Alexandr Trusch, ist ihr Opfer. Der in seiner weißen Uniform naiv wirkende Unteroffizier wird von den in Olivgrün einherstapfenden, irgendwie außer Rand und Band geratenen Soldatenprofis gefoppt und gestoßen. Sie reißen ihm die weiße Mütze vom Kopf, nehmen ihm das Gewehr weg. Sie misshandeln und schlagen ihn. Verstört erkämpft sich der Berufsanfänger das Gewehr zurück. Aber er ist von nun an motiviert, sich höheren Schutz gegen die Kollegen zu suchen.
Als Othello mit Desdemona auftritt, hat Cassio seine Aufgabe gefunden. Fortan versteht er sich als Wächter der beiden – Alexandr Trusch tanzt den Cassio mal als inbrünstig seinen Chef Othello bewundernd und liebend, mal als mehr brav buckelnden, dankbaren Untertanen. Die Leichtigkeit, mit der dieser Cassio voran kommt, weckt den Argwohn und den Hass des wachsamen Jago.
Bei Shakespeare gibt es sogar noch eine zusätzliche Motivation der Eifersucht Jagos. Dort begrüßt Cassio Emilia, die Gattin des Jago, mit einem Kuss – und erntet dafür von Jago beißenden, angeberischen Spott: „Herr, gäben ihre Lippen Euch so viel, / Als sie mir oft beschert mit ihrer Zunge, / Ihr hättet genug.“ Diese abfällige Anspielung auf eine Fellatio macht aus einer unverfänglichen Hallo-Situation bereits den Einstieg in ein Szenario aus Machtgerangel und Wirrwarr der Triebe. (Warum müssen patriarchale Witze eigentlich so oft so zotig sein und zu Lasten der schönen Dinge des Lebens gehen?!)
Cassio hatte denn auch in dieser ersten Szene des zweiten Akts, die auf Zypern spielt, bereits so eine Ahnung, dass er Othello allzu leicht verlieren kann: „Dank allen Tapferen dieser mutigen Insel, / Die so den Mohren lieben; möchte ihn doch / Der Himmel schützen vor dem Element, / Denn ich verlor ihn auf der schlimmsten See!“
William Shakespeare dachte sich seine Geschichten indes nur selten originär aus. Als Vorlage für seinen „Othello“ diente ihm eine Erzählung von Cinzio. Dieser Universalgelehrte der Renaissance hieß mit bürgerlichem Namen Giambattista Giraldi, und er war den schönen Künsten und der Dichtung ebenso verpflichtet wie der Medizin und den Naturwissenschaften. Er lebte von 1504 bis 1573 und veröffentlichte 1565 ein Werk namens „Hundert Novellen“. Von diesen wiederum ließ sich Shakespeare ziemlich häufig anregen. Bei Cinzio gibt es auch einen Othello mit einem Jago, allerdings ist Jago dort in Desdemona verliebt und glaubt selbst, dass sie sich Cassio als Liebhaber halte. Er ist von daher ursprünglich also gleich in zweifacher Hinsicht eifersüchtig, wie auch bei Shakespeare, wo Jago zwar nicht Desdemona begehrt, aber befürchtet, der flotte Cassio könne ihm sein Ehegespons abtrünnig machen.
Bei John Neumeier sind diese zusätzlichen sexuellen Eifersüchteleien nicht nötig, um aus dem Fähnrich Jago einen Verbrecher zu machen. Jago wird langsam, aber sicher als Vertrauter von Othello abserviert, zu Gunsten des agileren, sich nach seiner Opfer-Erfahrung stark um Schutz durch Othello bemühenden Cassio. Das allein genügt, um aus dem selbstgerechten Kleinbürger und Möchte-gern-Machthaber Jago einen von Neid zerfressenen, boshaften Intriganten zu machen.
Und fiel Jago bei den Tänzen mit den ganz in Weiß gekleideten Höflingen zunächst kaum auf, so zeigt sich im weiteren Verlauf des Stücks immer stärker sein niederer, selbstsüchtiger Charakter.
Man darf es ruhig so sagen: Anders als Shakespeare und Cinzio in der Renaissance hatte John Neumeier Ende des 20. Jahrhunderts die starke historische Erfahrung des Holocausts in Erinnerung. Im Dritten Reich war ja mustergültig zu sehen, wie Neid, Gier und die Sucht nach Überlegenheit aus scheinbar ganz normalen Menschen tödliche Nazis, also Bestien, machten.
So ist es auch hier mit Jago. Auch ohne Beteiligung seines Unterleibs mutiert der angepasste Karrierist zum skrupellosen Plattmacher. Er verspricht sich davon die Beseitigung seines beruflichen Konkurrenten Cassio sowie die Befriedigung seiner Rachsucht. Auch die Nazis haben viel davon profitiert, ihre jüdische und kommunistische Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt einfach beiseite zu schaffen und ab 1938 in den KZs zu ermorden. Von der als Massenwahn organisierten Gier nach Überlegenheitsgefühlen ging dann zudem 1939 der Zweite Weltkrieg aus.
Nun hat Neumeier seinen „Othello“ nicht wortwörtlich ins Dritte Reich verlegt. Es geht ja auch nicht um die Massenhysterie und den Wahn des Genozids, auch nicht um KZs, Menschenversuche oder Weltkrieg.
Aber es geht um die Mutation des Einzelnen zum Monster.
Die Frustration des Jago entlädt sich in Sprüngen und außergewöhnlichen Arm- und Handgesten. Oft ist es nachgerade pantomimisch, was Neumeier für diese Schurkenrolle ersannn. Allerdings: Man kann nicht immer einfach enträtseln, was in Jago außer Wut und Eifersucht vorgeht. Der Fähnrich wirkt oft rätselhaft in seinen furiosen Neidarien. Und dass er aus narzisstischer Kränkung heraus bereit ist, das größte und schönste Liebesglück, das man sich nur denken kann, zu zerstören, ja, dass er dabei sogar über Leichen geht, ist ihm zuerst nicht unbedingt anzusehen. Oder doch? Alexandre Riabko macht kein Geheimnis daraus, dass er einen rücksichtlosen, selbstverliebten Macho zeigt, aber wie weit dieser noch gehen wird, ist zunächst nicht sicher.
In Olivgrün wirkt er jedenfalls auch gleich ganz anders als im geschäftsmäßigen, vornehmen Anzug. Jago als Militär, als Kämpfer, aber nicht an der Front mit der Waffe in der Hand, sondern im Hinterhalt. Aus dem Versteck heraus.
Jago steht ruhig, fast reglos am hinteren Bühnengrund da, als die anderen die Hochzeit von Othello und Desdemona feiern – mit wunderschönen Tänzen, mit einem Ensemblegeist, der nachgerade paradiesisch ist.
Hier reüssieren und begeistern in feinweißen Kostümen mit festlicher Anmutung als Paare: Mayo Arii und Aljoscha Lenz, Kristina Borbélyová und Christopher Evans, Sara Coffield und Lennart Radtke, Winnie Dias und Graeme Fuhrman, Georgina Hills und Florian Pohl, Nako Hiraki und Matias Oberlin, Madoka Sugai und Dale Rhodes sowie Lucia Ríos und Leeroy Boone (ein besonders schönes Paar, das man sich auch schon für die „Josephs Legende“ von Neumeier wünscht).
Jago ist kein wirklicher Teil dieser Oberschicht, die nach Vergessen der kriegerischen Anteile ihrer selbst strebt. Aber er beobachtet und passt sich scheinbar ein, um davon zu profitieren. Otto Bubeníček tanzte Jago denn auch als aalglatten Karrieristen, als einen Typen nahezu ohne Ecken und Kanten. In Alexandre Riabkos Interpretation ringt Jago auch mit sich selbst, nicht aus moralischen Gründen, sondern weil er zunächst nicht stark genug für seine eigene Boshaftigkeit erscheint.
Die entzückenden und liebevollen Paartänze, die der absolut fantastische Carsten Jung und die erhabene Anna Laudere am Nachmittag von Pfingstsonntag als Othello und Desdemona zeigten (und der temperamentvolle Amilcar Moret Gonzalez und die graziöse Hélène Bouchet am Abend), erschienen gegen den vor sich hin grummelnden, wütenden Jago wie Erscheinungen des puren Lichts gegen nebulöse Düsternis. Mehr über das Hauptpaar in „Othello“ gibt es in anderen Texten über das Stück hier im ballett-journal.de zu lesen (siehe bitte Links unten im Abspann). Desdemonas und Othellos Liebe ist hier gekennzeichnet von extremer Hingabe vor allem der Frau an den Mann, wobei der Mann ihre Liebe mit völligem Vertrauen und auch unverstellter Hemmungslosigkeit erwidert. Es sind, inklusive des „Tuch-Pas de deux“ zu Arvo Pärts bekannter Melodie aus „Mirror in a mirror“, besonders innig-leidenschaftliche, originelle, oft mit Hebe- und Haltefiguren arbeitende Paartänze, die Neumeier für dieses zuerst so glückliche, dann so unglückliche Paar der Weltliteratur schuf.
Hass tobt in Jago, der Neid nagt an ihm. In einem großen Solo sammelt er seine Kräfte als Übeltäter, er stapft in Riesenschritten mit gestreckten Beinen über die Bühne, er ballt die Fäuste. Er fasst einen Plan. Aus Flügelschlag-ähnlichen Armbewegungen, die wir von hinten sehen, weil Jago mit dem Rücken zu uns steht, werden Finger-Hörner: Er streckt die Zeigefinger vor und hält sie sich an die Stirn. So wird der Teufel zum Teufel, der aus dem von ihm Betrogenen zum Anschein den Gehörnten macht.
Jago hängt seine Eifersucht Othello an. Ein einfacher, simpler, diabolisch-genialer Trick. Jetzt muss er diesen Plan nur noch umsetzen.
Dafür wird er zunächst vor Othello buckeln und ihm schmeicheln, was das Zeug hält. Jago übt das im Solo. Er spielt wie ein Schauspieler, der spielt, dass er spielt. Er zählt sich an den Fingern ab, wie er Othello vernichten kann, mit welchen Tricks er dabei vorwärts kommt – und er verbeugt sich immer wieder vor dem imaginären Gegenüber, küsst dem fiktiven Othello die Füße, umgarnt und umwirbt ihn. Dann flüstert er ihm Böses ein…
Emilia, am Pfingstsonntagnachmittag von Leslie Heylmann getanzt, abends von Carolina Agüero, findet Jago ganz versunken in sein pantomimisches Spiel. Es ist eine Probe des Bösen an sich, in die sie gerät. Sie begreift das irgendwie und ist eingeschüchtert. Was sie aber wohl oft von ihrem Mann ist. Dieser Jago ist als Gatte ein Schwein. Er tritt und schlägt seine Frau, er nutzt es aus, dass sie ihn nicht verlassen kann.
Carolina Agüero tanzt die Emilia als Opfer von häuslicher Gewalt. Sie versucht, sich gegen ihren Mann zu wehren, hat dabei aber keine Chance. Körperlich ist das Muskelpaket von Mann ihr überlegen – und auch sozial hat sie keine Möglichkeit, aus dieser Schreckensehe auszubrechen. Diesen tragischen Konflikt spürt man bei ihr stark, was sehr unter die Haut geht.
Leslie Heylmann hingegen interpretiert Emilia als emotionale Masochistin, die aus Liebe und auch aus sexueller Abhängigkeit bei ihrem Mann bleibt. Auch das berührt und ist nachvollziehbar: An sich, so hat man den Eindruck, ist Jago ihr nicht ganz geheuer, was aber auch eine erotische Konnotation haben kann. So umklammert sie, während er sie immer wieder in den Schwitzkasten nimmt, eines seiner Beine, am Boden zu seinen Füßen kauernd, mit einer Inbrunst, auch mit einer Liebe, als wäre er ihr Erlöser.
Jetzt, da sie in seine Rachepläne platzt, bindet er sie ein in sein Ränkespiel.
„Eins, Zwei, Drei, Vier!“ Er zählt einen Takt, den es nicht gibt, für sie. Sie soll marschieren. Wie er. Mit gestreckten Beinen, zackig, aber sinnlos, hin und her und her und hin. Der in der Ukraine geborene, auf der Schule vom Hamburg Ballett ausgebildete Alexander Riabko zählt auf Deutsch (die meisten Tänzer nutzen hier statt dessen ihre Muttersprache). Jago terrorisiert Emilia hier mit seinem Zählen, es ist die reine Willkür, seine Willkür, auf die er sie abrichtet. Dabei macht er die Schritte vor: „Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf! Eins, Eins, Eins, Eins, Zwei! Eins, Zwei, Eins, Zwei, Drei!“
Jago zwingt Emilia, es ihm gleich zu tun. Es ist ein Drill, der auf absoluten Gehorsam hinaus laufen soll. Und sie zählt: „Un, dos, tres…“ Leslie Heylmann, die aus Brasilien stammt, zählt auf Portugiesisch. Mit großen Schritten folgt sie den Anweisungen ihres Mannes, erst zögerlich, dann immer sicherer. Er steht dabei, arrogant, fast desinteressiert – Riabko macht das fabelhaft, ein Ehetyrann wie aus dem Bilderbuch feministischer Abschreckung. Doch seine Frau spielt ganz die Gefügige und legt ihren Kopf bittend an seine Schulter. Da packt er sie, nimmt sie in den Schwitzkasten, zwingt sie zu Boden, tritt sie, zieht sie an einem Bein… Menschenwürde ist für diesen Militär ein Fremdwort. Aber er gewinnt seine Frau als Komplizin.
So ist es denn auch Emilia, die ihm das schöne weiß-goldene Tuch besorgt, das Othello einst Desdemona schenkte, indem er es im „Tuch-Pas de deux“ im um die Frau Herumtanzen von seinen Lenden wickelte, um es ihr mit derselben Bewegung um die Hüften zu legen.
Die Synchron-Tänze, die Othello mit Cassio einst stark verbunden haben, sie sind da auf einmal nichts mehr wert: Othello glaubt, Desdemona habe das Tuch Cassio als Liebespfand gegeben. Zu raffiniert hat Jago ihm immer wieder bedeutet, zwischen Desdemona und Cassio finde etwas statt. In einer orgiastischen Vision sieht Othello Cassio mit freiem Oberkörper und Desdemona im durchsichtigen roten Negligée.
Und da sind noch einige andere Figuren, die in Othellos Fantasie eine Rolle spielen – und die auch dem Diktat zum Bösen von Jago zu unterliegen scheinen.
Da sind vor allem „Der wilde Krieger“ und „La Primavera“ – beides sind reine Fantasiegestalten, die zwar selbständig im Stück auftreten (und am Schluss auch sterben), aber deren Wesenhaftigkeit rein geistig ist. Sie illustrieren jeweils das Fremdbild der Liebenden vom Partner. So taucht der „wilde Krieger“ auf, nachdem sich Desdemona in Othello verliebt hat und er lange ihre Hand hält – es durchzuckt sie dabei, wie von einem Schauder geschüttelt. Sie tanzt dann ein wildes, afrikanisch inspiriertes Solo, und das ist die Geburtsstunde ihrer erotischen Fantasie in Bezug auf Othello: Er ist ein wilder Schwarzer, ein eingeborener tapferer Krieger.
Mit dieser Figur vom „wilden Krieger“ schuf Neumeier das Sinnbild eines eingeborenen Afrikaners, der mit zuckenden Schultern und zumeist im Plié in der zweiten Position für die nativen, ursprünglichen Triebkräfte steht. Er tanzt ja von Beginn an mit im Stück, und erst nach und nach wird klar, dass er vielleicht auch in Othellos Fantasie eine Rolle spielt und für dessen verdrängtes Alter ego steht. Der wilde Krieger – am Pfingstsonntagnachmittag heldenhaft von Lizhong Wang getanzt – ist fast nackt, trägt aber schwarze Körperschminke und eine grellrot aufgeschminkte Gesichtsmaske. Kriegsbemalung.
Jetzt wird dieses verdrängte oder auch von Desdemona imaginierte Afrika-Ich von Othello zu einem sich immer mehr verselbständigen Seelenanteil. Das weibliche Gegenstück ist die von Botticelli angeregte Mädchenfigur La Primavera, die oft mit zwei Genossinnen auftritt und ausschaut, als käme sie direkt von einem der Fantasie-Bildnisse der Renaissance über Frauen und Göttinnen und große Schönheit herabgestiegen. Sie wird aus der Fantasie Othellos geboren, als er sich in Desdemona verliebt – nach ihrem wilden Afro-Solo und nachdem er für sie tanzte, und zwar ebenfalls wild und afrikanisch, sozusagen in Konkurrenz zum wilden Krieger. Sie freut sich über seinen Tanz, es ist genau diese Hemmungslosigkeit, dieses Archaisch-Primitive, auf das sie scharf ist, das sie haben will. Und prompt verkörpert ihre Liebe für ihn etwas unglaublich Sanftes, Ätherisches, Weibliches – eben die Renaissance-Figur der Primavera.
Emilie Mazoń tanzte Pfingstsonntag zwei Mal diese ihr so sehr liegende Partie: mit zart sich durch die Luft schlängelnden Armen, weich sich biegendem Leib und anmutig sich streckenden Beinen. La Primavera ist nämlich auch eine Art weiblicher Putto: ein Liebesengel, der unschuldig und verdorben zur selben Zeit ist und der den erotischen Trieb anfacht, ohne dafür Verantwortung zu übernehmen. Nicht jede Ballerina hat ein Flair für solch eine tolle Rolle! Florencia Chinellato, die ebenfalls als La Primavera geeignet ist, und Xue Lin assistierten Mazoń bei den Auftritten als graziös-erotisches Damentrio – Florencia mit besonders lasziver Sexiness, die fantastisch zu diesem Rollenpart passt.
Beide Fantasiegestalten – der wilde Krieger und La Primavera – kippen übrigens gen Ende leblos um, als die Liebe zwischen Othello und Desdemona sich in ein tödliches Spiel verwandelt. Othello wird sozusagen wörtlich von allen guten Geistern verlassen. Die Warnung der Primavera missversteht er denn auch als Hohn:
Als der Wahn von Othello überhand nimmt, lacht ihn La Primavera einfach aus. Hat er doch schon so manches Mal mit ihr getanzt statt mit Desdemona, offenbar, ohne es zu bemerken.
Jago legt Othello von hinten die Hand auf die Schulter – und lässt sie einfach da liegen. Das genügt dann, um die negative Energie, die der Bösewicht verkörpert, weiter wirken zu lassen. Von Mann zu Mann…
Als dann mal Desdemona mit Cassio einige Tango-Schritte tanzt – oh, und sie liegt gut in seinen Armen! Was Zufall, Cassio scheint ein Frauen-Typ zu sein – da kann in Othello nur noch das komplette Durchdrehen beginnen. Jago hatte ihm ja auch mit angeblicher Fürsorge bereits die Souveränität bei der beruflichen Planung anhand einer Karte genommen – und ihn nun in Sachen Männlichkeit und Mannesehre grundlegend ruiniert.
Raffiniert „rempelt“ Jago Othello an, es ist, als fänden die beiden wie Liebende Rücken an Rücken zusammen (ein in Neumeier-Balletten häufig benutztes Motiv, normalerweise, um eine Liebesszene zu starten, etwa im White Pas de deux der „Kameliendame“ oder dem Kennenlernen von „Romeo und Julia“).
Hier aber ist es ein Kampf unter Männern, von denen der eine zu vertrauensselig ist, um zu bemerken, dass es sich um einen Kampf handelt. Jago lässt Othello zu Boden gehen, nach dem Motto: ach Pardon, wie kam denn das? Jago verwirrt ihn, entmachtet ihn, raubt ihm die Autorität.
Warnend erschallt das Gelächter der La Primavera. Primavera heißt übrigens Frühling auf italienisch – der Frühling als junge Frau ist hier die immer wieder aufs neue erwachende Erotik, die im Fall von Othello durch Jago ernsthaft bedroht ist.
Der Eros als Gegenstück zum Bösen. Der erotische Cassio als Opfer und als Gegenfigur von Jago, dem Diabolischen. Aber was ist das Böse? Viele Philosophen, darunter Immanuel Kant, versuchten, es formal zu definieren. Womit sie scheiterten. Auch Sigmund Freud versagte regelmäßig, wenn es um moralische Fragen ging, die nicht allein patriarchal zu lösen waren. Aber natürlich ist das Böse in jedem ansässig – und es kommt darauf an, wie der Einzelne mit den negativen Anteilen seiner natürlichen inneren Grundausstattung zu Rande kommt.
Die französischen Poststrukturalisten lehnen die Abspaltung des Bösen als isoliertem Gegensatz zum Guten ab. Jean Baudrillard etwa, der von 1929 bis 2007 lebte, sah das Böse als systemimmanent. Für ihn ist das Böse zwar kenntlich, als apokalyptisch, anti-dualistisch, anti-thetisch – aber es ist nicht abzutrennen von seinen Gegensätzen bis hin zum Guten.
Wähnte Baudrillard in seiner berühmten Schrift „Der symbolische Tausch und der Tod“ von 1975 die „Twins“, die Doppeltürme des World Trade Centers, noch als Zeichen der Moderne schlechthin, deutet er im Essay über den „Geist des Terrorismus“ den Anschlag auf sie – also Nine-Eleven – als zwangsläufigen Akt eines global agierenden Terrorismus, der sich gegen die moderne Weltordnung insgesamt richtet.
Das die schier endlose Expansion, die die Wirtschaft predigt, genau diese Art des Terrorismus mit hervorbringt, ist festzustellen das Privileg des Philosophen. Für Baudrillard ist dabei von grundlegender Wichtigkeit, dass nicht mehr die Fakten an sich den Informationsfluss und auch den Geldfluss in Gang halten, sondern dass vor allem die Images und Abbildungen, die Modelle und Simulationen die Realität ersetzt haben.
Darin hat das Böse natürlich leichtes Spiel, weil es als solches nicht sofort erkannt werden kann.
Othello ergeht es genau so: Er erkennt erst nach der Katastrophe, dass er falsch vertraut und falsch verdächtigt hat. Dass es seine Frau war, die dabei von ihm moralisch stark unterschätzt wurde, mag man als prophetisch femininistische Kritik von Shakespeare deuten.
Mit den „Tänzern der Moresca“, also eines Moriskentanzes, gibt es zudem ein Multikulti-Element in Neumeiers „Othello“-Ballett – der geniale Choreograf kreierte es lange, bevor es die Vokabel „multikulti“ überhaupt gab. Der maurisch-afrikanische Tanz, vermutlich nordafrikanischen Ursprungs, findet sich hier verwandelt zu einem Spiel mit Buntheit, mit Anderssein, dennoch auch mit Gleichheit. Zumal die Darsteller dieselben sind, die in „Othello“ die Soldaten tanzen.
Der Clou des Quintetts, das in der Moriske kreischbunt einher kommt, ist eine Rolle en travestie, die zum Teil recht deftig mit stählern-metallener Gesichtsfarbe und mit fast obszönen Bewegungen die weibliche Wirkungskraft à la „göttlich erotisch“ persifliert.
Der Tanz dieser bunten Moresca ist wild, ausgelassen, fast orgienhaft. Und er steht für die Notwendigkeit, Toleranz auszuüben – auch wenn man nicht alles vesteht, was die Zeichenhaftigkeit des Tanzes vielleicht zu sagen hat.
Jago, der Bösewicht, versucht gar nicht erst zu verstehen. Er will benutzen, für seine Zwecke missbrauchen. Er lockt Cassio in ein Bordell und lässt ihn dort im Rausch seine Unschuld verlieren und seine Sinne auf fleischliche Lust einstellen. So hat Jago seinen Widersacher und Konkurrenten leicht in er Hand… indem er dessen Sexualität kontrollieren will.
Warum begehrt das Gute hier nirgendwo auf gegen das Böse?
Jago, der wie ein Agent des Bösen manipuliert und zerstört, hat am Ende gut lachen. „Die Bosheit wird durch Tat erst ganz gestaltet“, so machte er sich bei Shakespeare – und bei John Neumeier entsprechend tänzerisch – selbst Mut, als er Othello umwarb, um ihn zu zerstören.
Über das Gute nachzudenken und darüber, ob sich das Gute manchmal wohl zu gut ist, um zu handeln, ist Pfingsten genau richtig – und der Besuch beim Hamburg Ballett ein unvergessliches Festtagserlebnis.
Die Fragen, die einem weiterhin kommen, dürfen dabei aber auch politischer Natur sein.
Wer umwirbt uns denn heute, um uns zu zerstören, um uns unsere Werte zu nehmen und um im Gewand des angeblichen Freundes unsere Identität durch die eigene zu ersetzen? Wer sind heute die Jagos?
Ich bin keine Freundin des Islam noch sonstiger Religionen. Aber in Umfragen erreicht die AfD erschreckend hohe Sympathiewerte. Das spiegelt sich manchmal schon im praktischen Alltag. Im Zug begegnete mir ein glatzköpfiger Mann, der mir mit gewaltbereit brummender Stimme verbieten wollte, mit einem anderen Fahrgast über die politische Situation in Europa zu reden. Man muss sich überlegen, ob man wirklich will, dass sich die Jagos von heute immer stärker in politische Belange einmischen.
Gisela Sonnenburg
Termine: siehe „Spielplan“
P.S. Alexandre Riabko erhielt übrigens wenige Tage nach der Vorstellung den erstmals ausgelobten „Sonderpreis für die hohe Kunst als Tanzpartner“ bei den Prix Benois de la Danse in Moskau, während John Neumeier den Prix Benois für sein Lebenswerk erhielt. Herzlichen Glückwunsch!
(Es handelt sich allerdings nicht um eine Art „Tanz-Oscar“, wie Manche in Hamburg glauben, sondern um eine Art „Ballett-Oscar“ – der Preis wird nicht an Teilnehmer des freien Tanzes, sondern ausschließlich an Ballettleute vergeben.)
Weitere Texte zum Stück „Othello“ von John Neumeier bleiben dennoch spannend:
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-othello-neumeier/
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-othello-emilie-mazon-anna-laudere/
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-othello-neubesetzung/