Helfen, Halten, Heilen Das Hamburg Ballett bietet mit „Messias“ von John Neumeier eine Art Osterspiel. Man kann es auch als Plädoyer für den Fruganismus sehen

Eine Chance für das Gute erbittet John Neumeiers "Messias".

Er steht auf der Schräge des Lebens, um zu helfen: Aleix Martínez, Star des Balletts „Messias“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Wann, wenn nicht zu Ostern, soll der richtige Zeitpunkt sein, um sich mit dem Thema Schuld und Sühne auseinanderzusetzen? Menschen versagen, tun einander Unrecht an – und denken viel zu selten darüber nach, was sie alles verpatzt, vergurkt, vermasselt haben. Und wem sie dadurch Schaden zufügten! Ballett bietet Anlass zur Selbsterkenntnis – und auch zur Anerkennung der eigenen Schuld. Die Pläne zur Sühne  werden dann sicher weiter reichen müssen als bis in den Orchestergraben. Ist das zuviel verlangt? In der Hamburgischen Staatsoper steht zwar nicht alles auf der Kippe, aber: Eine große Schräge bestimmt das Bühnenbild des „Messias“, einem der Meisterwerke von John Neumeier, die der Chefchoreograf vom Hamburg Ballett 1999 zu sakraler Musik schuf.

36 Tänzerinnen und Tänzer in weißer Kleidung, darunter so brillante Solisten wie Anna Laudere, Dario Franconi und Carolina Agüero, zeigen – im abstrakten Raum mit Steinkreis des österreichischen Bühnenbildners Ferdinand Wögerbauer – eine Welt, die voller Leid ist. Die aber auch Lösungsmöglichkeiten kennt! Die Überwindung von Zweifeln gehört ebenso dazu wie die tatkräftige Hilfe, die sich Menschen gegenseitig angedeihen lassen können, wenn sie nicht zu behäbig, zu verkarstet, zu naiv oder schlicht zu sadistisch dazu sind.

Eine Chance für das Gute erbittet John Neumeiers "Messias".

Eine Frau kippt – ein Mensch an sich hält und heilt sie. So in „Messias“, das John Neumeier beim Hamburg Ballett 1999 kreierte. Foto: Snapshot von Gisela Sonnenburg / aus dem Werbetrailer „Messias“ des Hamburg Balletts.

Am Anfang steht der Mensch. Aleix Martínez ist der Mensch an sich, oder auch der „Messias“ – also jemand, der eine große Ausstrahlungskraft auf andere hat, der gütiger und hilfreicher ist als die meisten, aber auch risikobereiter und verzweifelter. Die Schräge, die das Bühnenbild prägt und die hinein gesetzt ist wie eine begehbare Skulptur, weist einen unterbrochenen Streifen auf wie eine Straße. Befindet sich der junge Mann hier am Ende seines Lebens? Plant er Selbstmord? Wird er umgebracht werden? Oder ist er einfach endlos unterwegs?

Er scheint es selbst nicht zu wissen. Mit zappelnden, selbstquälerischen Bewegungen formuliert er sein Bemühen um Liebe, um Glaube (vielleicht an sich selbst), gar um einen Lebenssinn. Er ist stark – aber sein Kummer ist auch groß. Martínez, der bereits 2014 in diesem Part debütierte und das Publikum damit ergriff, tanzt das mit einer Selbstverständlichkeit, als sei er ständig in solchen Konflikten. Es geht hier ums große Ganze: die Akrobatik im Kampf mit der Schräge ist nicht als Zirkuselement gemeint. Sondern als existenzieller körperlicher Ausdruck einer gequälten Seele.

Eine Chance für das Gute erbittet John Neumeiers "Messias".

Was tun, wenn die Liebe schwindet? In „Messias“ werden viele menschliche Probleme behandelt – und mit tatkräftiger Hilfe beantwortet. Foto: Snapshot von Gisela Sonnenburg aus dem Werbetrainer „Messias“ vom Hamburg Ballett

Wenn die Liebe fehlt oder schwindet, wenn eine einmalige Gelegenheit verpasst wurde, sie zu erringen, wenn die Probleme überhand nehmen, wenn Unrecht auf Unrecht getürmt wurde – wer hilft dann?

Religiöse Menschen, zu denen auch der Choreograf John Neumeier zählt, antworten mit: Gott allein. Aber ist mit Neumeier auch wirklich der Choreograf in ihm religiös? Ich behaupte: nein. Denn die Kunst hat eigene Regeln, und man kann Neumeiers Werke auch als Atheist genießen, ohne das eigene Weltbild wanken zu sehen.

Man kann sich sogar erschüttern lassen von den urmenschlichen und auch urspirituellen Bildern, die Neumeier findet. Und man kann empfindsam sein Sensorium schulen, um eine Ähnlichkeit und Identifikation zu entdecken – zwischen Kunst und Leben, zwischen Künstler und Publikum.

GENEALOGIE SAKRALER NEUMEIER-BALLETTE

John Neumeier, seit über vierzig Jahren Chef vom Hamburg Ballett, kreiert derweil immer wieder Ballette zu sakralen Musiken. 1981 premierte seine faszinierende „Matthäus-Passion“ zur Musik von Bach. Es gibt dieses Werk auch als DVD, mit Neumeier selbst in der Hauptrolle tanzend. Es geht um Menschen und ihre menschliche Führung.

1987 (in der überarbeiteten Version: 1989) wurde Neumeiers „Magnificat“ uraufgeführt, ebenfalls zu Bach’schen Klängen. Darunter dieses Mal: Orgelmusik und auszugsweise Bachs h-moll-Messe. „Ein Zwiegespräch mit dem Unsichtbaren“, nennt Neumeier selbst dieses sehr assoziativ funktionierende Werk. Es geht ihm darin um „eine Folge einfacher und klarer Gefühle“. Einfachheit und Klarheit als Ziele, um Trauer zu überwinden.

Eine Chance für das Gute erbittet John Neumeiers "Messias".

Liebe sieht manchmal aus wie Geschlechterkampf: So auch in „Messias“ von John Neumeier. Foto: Snapshot von Gisela Sonnenburg aus dem Werbetrailer „Messias“ des Hamburg Ballett

Dazu steht der „Messias“ von 1999 in bedeutendem Gegensatz. Nicht nur aus dem Barock – in diesem Fall von Händel – stammt da die Musik. Sondern auch von Arvo Pärt, dem sowjetischen Komponisten, der 1980 nach Österreich migrierte – und der schön-schwierige, abstrakte Klanggewitter entstehen lässt. Die italienische Zeitung „Couriere della Sera“ (was ja soviel wie „Abendkurier“ heißt) lobte Neumeiers „Messias“ denn auch wie folgt: als „schön, intelligent, emotional und aussagestark“. Aber anders als in „Magnificat“ werden hier vorrangig die düsteren Seiten des mentalen Menschseins abgehandelt – und ihre Abhilfe.

1991 entstand, konsequenterweise, Neumeiers „Requiem“, zur Musik von Mozart. Eine Totenmesse. Bis zur Kreation des „Messias“ ist es äußerlich nur eine Zeitspanne von acht Jahren, inhaltlich wie geschichtlich gesehen, stehen aber Universen dazwischen. Tod contra Auferstehung, Auferstehung contra Tod. Die Welt zerfiel wieder in zwei Teile.

Das „Weihnachtsoratorium“ von Neumeier stammt – wieder zu der Musik von Bach – mit den ersten beiden Teilen von 2007, als überarbeiteter Vierteiler, also komplett, von 2013. Fröhlichkeit, Würde, Vergebung, Trost sind hierin geboten.

Als jüngstes Neumeier-Werk zu sakraler Musik premierte erst 2014 das zart-galante, utopisch verträumte „Alleluja“: fürs Bundesjugendballett geschaffen. Es ist ein kurzes, aber grandios komprimierendes Werk und im übrigen das erste und bisher einzige Ballett John Neumeiers zur leichten, fast leichtsinnigen Musik von Joseph Haydn.

WAS ABER HILFT?

Wer oder was aber hilft, wenn alles zusammen bricht und das Unglück offenbar wird? Der Mensch. Ein Mensch hilft dem anderen. Der geschmeidig-kraftvolle Tänzer Aleix Martínez ist in „Messias“ als Mensch an sich da, wenn andere ihn brauchen.

Er fängt eine Tänzerin auf, die sich auf der Schräge langsam, aber sicher verliert und rückwärts kippt. Er hebt sie an, hält sie, hebt sie kopfüber und bringt sie sicher zu Boden. Er hält später auch einen Mann an, der sonst sogar ohne Schräge komplett seine Balance verloren hätte. Er rettet. Der Mensch an sich – er hält und heilt, er hilft und hebt. Solche Menschen gibt es. Sie müssen keine Töchter oder Söhne irgendeines Gottes sein.

Das Leitmotiv hier: Jemand hält mich fest. Jemand gibt mir Kraft. Jemand ist da für mich. Diese Sicherheit zu haben, ist im Leben eine treibende Kraft – und nicht selten die Rettung in höchster Not.

LAUFEN ALS LEBENSMETAPHER

Eine Frau läuft in großen Schritten voran, ihr Laufen ist ein Sinnbild für ihr Vorangehen im Leben – und ihr hinteres Bein bildet eine zauberhaft schöne Attitüde, während des Laufens. Es ist mehr ein Engelsschritt als ein irdisches Schreiten, aber dennoch ist auch diese junge Frau eine Sterbliche. Sie weiß darum.

Wie viel Zeit haben wir, um uns zu bedenken – über das, was wir versäumten oder falsch machten? Und wie viel Zeit haben wir noch, es wieder gut zu machen?

Wen habe ich verletzt? Wen muss ich um Entschuldigung bitten? Wann wird mir jemand helfen, damit ich nicht mehr wacklig auf den Beinen stehe?

Eine Chance für das Gute erbittet John Neumeiers "Messias".

Ein denkender „Messias“: der Körperkünstler Aleix Martínez in seiner bisher besten Rolle beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Es ist ein Ringen um Erklärungen. Ein Kampf ums Überleben. Ein Streit ums Dasein. Und eine Versöhnung, wenn Gerechtigkeit und Frieden einkehren.

Da gibt es Mensch an Mensch. Sie stehen, liegen, sitzen auf der Schräge. Sie fallen, rutschen, neigen sich bergab. Gemeinschaftlich. Im Gedränge. Nur ein einziges Individuum – der Mensch an sich – kann ihnen helfen. Als Meute sind sie machtlos gegen die Verführungen der Faulheit, des Fressens, des Mordens und Brandschatzens.

Es ist von daher auch ein Ringen um Erlösung und Vergebung. Aber ohne Reue und ohne tatkräftige Änderung wird es die nicht geben.

Regenwälder werden abgeholzt, damit die Böden bis zur völligen Erschöpfung mit gentechnisch manipuliertem Mais oder Gentech-Soja bepflanzt werden. Zurück bleibt tote Erde. Die Tiere, die mit dem Ertrag gefüttert wurden, landen in unhaltbaren Zucht- und Tötungsanstalten. Die Skrupellosigkeit nimmt überhand – und jedes Schnitzel, jede Wurst, jedes Steak, das von Menschen vertilgt wird, ist ein Bekenntnis zum restlosen Aufbrauchen dieser Welt. Nach uns die Sintflut.

Ökologisch nachhaltig ist nur die vegetarische Ernährung der Menschheit. Bei der Menge an Menschen, die derzeit den Planeten bevölkert – es ist viel mehr als jemals zuvor – ist das ein Rechenbeispiel. Es gilt als erwiesen, unter fachkundigen Wissenschaftlern: unter Biologen, die ideologisch frei und unverdächtig sind.

Eine Chance für das Gute erbittet John Neumeiers "Messias".

Emilie Mazon und Carolina Agüero in „Messias“: Konzepte zu Menschen, Frauen zu Handelnden! Ein Werk von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Jedes nicht vertilgte Stück Fleisch hilft dem Regenwald. Jede nicht gekaufte Wurst dem Klima. Aber alles ist relativ, auch die Hilfe. Veganismus ist zweifelsfrei besser als Vegetarismus. Aber Vegetariertum ist schon mal viel besser als Allesfresserei! Man muss nicht nur nach unten sehen, um sich zu orientieren und Handlungsmaximen zu finden. Man kann nach oben blicken – auch wenn das höchste Ideal sehr schwer zu erreichen ist. Jede Annäherung ist schon viel wert. Und sollte uns noch mehr wert sein. Viel, viel mehr!

LÄMMER SIND KEINE OSTERLÄMMER

Wie viele Lämmer werden zu Ostern geschlachtet? Gibt es nichts anderes zu essen? Wie viele Kälber den Mutterkühen entrissen und alsbald totgemacht? Schweine sind im übrigen so intelligent und einfühlsam wie Hunde. Evolutionsbiologisch stehen sie uns fast so nahe wie andere Menschen.

Das sagen Virenforscher. Die stellen auch fest, dass Geflügel ebenfalls so nah an der Konstruktion „Mensch“ ist, dass überspringende Seuchen wie die Vogelgrippe nur logisch sind. Weil Viren eine ähnliche Spezies erkennen. Nur der Fisch ist evolutionär weit weg vom Menschen und kann unbedenklich verzehrt werden. Sagt ein Krebsforscher, der Nobelpreisträger ist.

Sigmund Freud hat über das Nervensystem der Fische promoviert. Aber wieviel Schmerz sie empfinden, hat er nicht herausgefunden. Auch Pflanzen kennen so etwas wie Schmerz. Veganer, seid auf der Hut! Bald werdet ihr als Pflanzenmörder bezeichnet.

Fructarier (Fruganer) sagen, nur sie seien im moralischen Recht: Sie ernähren sich allein von dem, was Pflanzen und Tiere – oder auch Pilze – hergeben, ohne dass dafür ein Lebewesen getötet werden muss. Nüsse. Obst. Gemüse. Ab und an ein Ei. Oder etwas Milch. Aber nicht soviel, dass das Kalb nichts mehr zu saufen oder die Henne nichts mehr zu bebrüten hat. Da muss was übrig bleiben für die Natur!

Eine Chance für das Gute erbittet John Neumeiers "Messias".

Auch Frauen denken, ringen um Lösungen: So in „Messias“ von John Neumeier. Foto: Snapshot von Gisela Sonnenburg aus dem Werbetrailer „Messias“ vom Hamburg Ballett

Es ist Ostern, da darf man mal was sagen, was sonst nicht akzeptiert wird.
Gisela Sonnenburg

Es gibt noch Karten – vor allem für die bestimmt sehr erhebende Nachmittagsvorstellung an Ostersonntag!

Hierzu lesen Sie bitte auch: 

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-messias-2016/

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-messias-zu-ostern/

 www.hamburgballett.de

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