Ein wahres Märchen „Liliom“ von John Neumeier, eines der besten Ballette der Welt, wird wieder beim Hamburg Ballett getanzt – nicht verpassen!

"Liliom" von John Neumeier ist unbedingt sehenswert

„Liliom“ alias Karen Azatyan in einer für diese dramatische Figur typischen Tanzpose: mitreißend und anrührend. Foto: Kiran West / Hamburg Ballett

Es ist ein Drama mit einem ganz besonderen Geschmack, den man nie vergisst – und dessen Flair unter die Haut geht. Mit „Liliom“ gelang dem Meisterchoreografen John Neumeier vom Hamburg Ballett fraglos eines der bedeutendsten Ballette der Gegenwart, und es wäre schade, wenn das nicht von allen, die es sehen, bemerkt wird. Jetzt wird es in neuer Besetzung getanzt, und um es vorwegzunehmen: Viele hielten es nicht für möglich, dass Carsten Jung, der die Titelfigur des Liliom bei der Uraufführung im Dezember 2011 tanzte, hier wirklich ersetzbar ist. Karen Azatyan, Spezialist für besonders knifflige Aufgaben in der Hamburger Truppe, straft uns nun für diese Befürchtung Lügen: Mit unglaublicher Hingabe, aber auch dramatischem Spiel schafft er es, uns ganz in die moralisch-parodistische Handlung einzubeziehen. Das Ballett hat hier so viele Facetten, dass wohl jeder Mensch sich irgendwie darin wiederfindet. Und trotzdem ist es ein Märchen, ein Kunstmärchen, das einerseits naiv und andererseits hintergründig die Liebesgeschichte zweier ungleicher Menschen erzählt – und wie nebenbei die harte soziale Realität so kritisch wie in einem Stück von Bertolt Brecht auf die Bühne bringt. Tanz kann so viel mehr, als man immer meint, und John Neumeier beweist das in „Liliom“ 2022 mit seinen hervorragend beprobten Körperkünstler:innen en detail.

Als „Ballettlegende“ bezeichnet Neumeier sein Werk, und damit betont er die fiktiv-literarischen Anteile der Geschichte. Fantasien und Realitäten mischen sich hier zu einem poetischen Sozialdrama mit manchmal satirischen Anklängen.

Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Bei der zarten Julie, die von Alina Cojocaru vor über zehn Jahren im Ballettsaal unter der Leitung von John Neumeier kreiert wurde? Sie ist ein nettes Mädchen im hellblauen Kleid, ein wenig erinnert sie an die edelmütige Eurydike, die in Neumeiers Ballett „Orpheus“ ein blaugeblümtes Kleidchen trägt. Aber Julie hat nicht diesen Stolz einer antik inspirierten Figur, vielmehr strotzt sie vor einfacher Lieblichkeit und sogar Demut.

Sie ist keine Ballerina auf einem Sockel, sondern eine süße Tänzerin, die in die Welt geworfen wurde und kaum wusste, wie ihr geschieht. Alina Cojocaru tanzt das nach wie vor herzzerreißend, zumal die Stürme des Schicksals ihr kaum Ruhe lassen. Sie muss kämpfen, um zu überleben, sie muss mit ihren zarten Waffen den Mann erobern, den sie liebt – und sie muss, als er versagt, auch damit fertig werden.

"Liliom" von John Neumeier ist unbedingt sehenswert

Sie lieben sich und kommen doch nicht miteinander zurecht: Alina Cojocaru als Julie und Karen Azatyan als Liliom in „Liliom“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Natürlich ist man auch auf die zweite Besetzung gerade dieser Rolle in dieser Saison neugierig, denn Ida Praetorius hat alles, um der Julie ein neues, wunderschönes, spannendes Gesicht zu verleihen. Bei der Wiederaufnahme-Premiere am Sonntag aber brillierte Alina Cojocaru mit einer Fähigkeit, die man gerade an nicht mehr ganz jungen Ballerinen so schätzt: mit der Treffsicherheit sowohl in den körperlichen Posen als auch in der Darstellung von Emotionen.

Ihre vielschichtig-harmonisch choreografierten Liebestänze mit Karen Azatyan als Liliom rühren. Und es scheint fast, dass man ihn, den traurigen Titel-Helden, nur durch ihre Perspektive überhaupt richtig versteht.

Von außen gesehen, ist er allerdings kein strahlender Prinz – und dennoch faszinierend. Liliom ist ein Mann, der lieben kann, der aber von seinem Schicksal und seiner inneren Natur her nicht nur das Gute ausleben kann. Ein unbedingt ergiebiger Bühnencharakter!

Kaum zu fassen, dass Azatyan beinahe nicht in dieser Rolle brilliert hätte, denn er setzte nach einer schmerzhaften Verletzung schon mal eine Saison aus. An sich wollte er dem professionellen Tanzen da sogar den Rücken kehren. Zum Glück fand er zum Ballett und zu John Neumeier zurück und arbeitete bereits in der schweren ersten Corona-Pandemie-Zeit wieder fleißig mit. Als Liliom ist er nachgerade prädestiniert und kann sich mit Jung durchaus messen.

Die Nijinsky-Gala -Höhepunkte

Eine typische Neumeier-Szene: Alina Cojocaru und Carsten Jung in ihrem Parkbank-Pas de deux aus „Liliom“ von John Neumeier auf der Nijinsky-Gala XLV. Foto: Kiran West

Liliom, der sowohl dem gleichnamigen Drama von Ferenc Molnár von 1909 als auch dem davon inspirierten abendfüllenden Ballett von Neumeier seinen Namen gibt, ist ein attraktiver Muskelprotz und doch zugleich ein vom sozialen Abstieg getroffener Verlierer.

Ungerechtigkeit regiert in diesem Stück sichtlich die Geschicke der Menschen, und dass es ein derart sozialkritisches Handlungsballett gibt, ist allein schon etwas Besonderes. John Neumeier hat die Geschichte vom verliebten, aber aus Frust gewalttätig werdenden Liliom mitten in der Wirtschaftsdepression in den USA vor fast einem Jahrhundert angesiedelt. Dennoch wirkt die Story so modern und aktuell, dass man glauben könnte, sie sei eben erst erfunden.

Die Titelfigur ist eigentlich ein Anti-Held. Sinnlich, expressiv und technisch makellos von Karen Azatyan getanzt, arbeitet Liliom als Schausteller auf dem Jahrmarkt.

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„Playland“ („Vergnügungspark“) steht in leuchtenden Lettern da zu lesen, und das Schwanken zwischen Spiel und Ernst ist das betreffende Lebensgefühl. Die zarte Julie und der Supermacho Liliom, dem so ziemlich alle Damen, gleich welchen Alters und welcher Herkunft, rasch zu Füßen liegen, verlieben sich. Man kann schon sagen, dass Julie sich ihren sexy Supermann, der glänzende schwarze Lederhosen trägt, richtiggehend angelt, und das gelingt ihr mit einer Mischung aus Bescheidenheit und Hartnäckigkeit.

Die Kostüme, von John Neumeier designt, unterstreichen die Charaktere der Figuren. Liliom sieht sich als Superboy, als Mucki-Protz, als unwiderstehlich – und genau so ist er angezogen.

Schließlich kann Liliom der hübschen Julie aber auch beweisen, wie männlich und beschützend er ist: Julie wird von einem angetrunkenen Matrosen belästigt, und obwohl diesem sogar noch ein Messer zugesteckt wird, siegt Liliom im Zweikampf.

Dass er als Liebhaber seiner Chefin, der eleganten Frau Muskat, eigentlich aber schon so gut wie vergeben ist, weiß Julie nicht.

Liliom und Julie werden ein Paar. Ihr Sohn (kreiert von Aleix Martínez, heuer von Louis Musin pur und sensibel angelegt; bei Molnár handelt es sich übrigens um ein Mädchen) sollte ihr kleines Glück vollkommen machen. Doch es kommt anders.

Das soziale Klima birgt Sprengstoff. Die Arbeitslosen demonstrieren, tanzen teils mit Schildern in der Hand, bieten sich für Billigjobs an. Lohndumping, Armut und Zukunftslosigkeit prägen die Stimmung. Manche wollen dafür bezahlen, dass man ihnen Arbeit gibt. Das die die Realität auf der Bühne.

Liliom von John Neumeier

Schon bei der Uraufführung war diese Szene ein echter Thrill: Das Heer der Arbeitslosen tanzt wie elektrifiziert. Das Ballett  „Liliom“ von John Neumeier besticht nicht nur mit der poetisch-tragischen Liebesgeschichte, sondern auch mit Szenen wie aus den News. Vorn: Sasha Riva als Mann ohne Luftballons. Foto von 2011 vom Hamburg Ballett: Holger Badekow

Das Herrenensemble vom Hamburg Ballett zeigt bei der Gelegenheit mal wieder, dass es wohl das beste weltweit ist. Synchron, harmonisch, lyrisch, aber auch kräftig im Ausdruck und sogar noch individuell erkennbar bilden diese Tänzer – die überwiegend die Ballettschule des Hamburg Ballett absolviert haben – ein mitreißendes, ja erregendes, auch in Aufruhr versetzendes Tanzschauspiel. Hohe Sprünge, raffinierte Bodenübungen, raumgreifende Armbewegungen – so ein Männertanz ist woanders in dieser Feinheit und Perfektion nicht zu haben. Die Kerle brodeln regelrecht beim Tanz. Bravo!

Den Kontrast dazu bildet der funkelnde Jahrmarkt: mit exotisch tanzenden, grazilen  Perserinnen, mit dem sich munter drehenden Karussell (das mit nur drei nostalgischen Pferdchen besonders neckisch wirkt), und mit der erotisch unübersehbaren Frau Muskat, der das Karussell gehört. Sie, von Anna Laudere und ihren tollen langen Beinen als Inbegriff des Mondänen getanzt, ist weiterhin scharf auf ihren Angestellten Liliom. Lasziv versucht sie in einem vor Sexiness nur so prickelnden Paartanz, ihn sich untertan zu machen.

Als er sich ihr jedoch letztlich verweigert, weil er jetzt Julie liebt, feuert die Muskat ihn – sexuelle Diskriminierung ist ja kein Privileg der Männer, obwohl sie weitaus häufiger als die Frauen so agieren. Hier aber ist Liliom das Opfer. Und er kann gar nicht gut damit umgehen. Seine Julie muss ihm als Sündenbock herhalten, er schlägt sie, mutiert zu einem aggressiven Häuflein Elend.

Das ist ein realistisches psychologisches Szenario, und es ist geprägt von psychosozialen Veränderungen.

Der soziale Abstieg setzt all seine Zeichen: den Verlust von Lebenslust und Lebensqualität, die Verinnerlichung der äußeren Misere. Depression und Alkohol, Aggression und Unlust übernehmen die Regie. Die Weltsicht verschiebt sich.

Aus dem immerzu flirtenden, von sich und der  Richtigkeit des Daseins zutiefst überzeugten Liliom wird ein unberechenbarer, trotziger Macker.

Um sich an seiner Ex-Chefin zu rächen, plant Liliom dann auch noch zusammen mit einem ziemlich fiesen Kumpel einen Überfall auf die Muskat – und verpatzt die Sache.

Er wird verhaftet, hält die Schande nicht aus, bringt sich um, landet im Jenseits.

Einmal noch darf er zurück in seine alte Welt, um dem heranwachsenden Sohn einen Stern zu schenken. Kein Wunder, dass das Himmelslicht in dieser Geschichte eine Glühlampe ist. Der Bühnenhimmel hängt voll davon: lauter schöne Glühbirnen an simplen Schnüren.

"Liliom" von John Neumeier ist unbedingt sehenswert

Glühlampen sind Sterne: Liliom und der Mann mit den Luftballons beim nachdenklich-selbstbewussten „Konzipisten“ im Jenseits, und Julie als Erinnerung sitzt mit am Tisch. Foto von 2022 vom Hamburg Ballett: Kiran West

Aber der Stern, als besonderes Geschenk gedacht, ist gestohlen: Liliom hat auch diese Chance, ein ordentliches Leben zu führen, damit ruiniert. Und sein Kind lehnt ihn auch noch ab, erkennt ihn nicht einmal: Es wollte keinen Stern, sondern einen Vater.

Der Pas de deux von Liliom mit seinem mittlerweile etwa 16-jährigen Sohn ist ein Juwel der Tanzgeschichte, und John Neumeier gelang hier mal wieder ein Novum, das sich zuvor kein Choreograf zugetraut hat. Kann man die seltsam starken, dennoch so fragil wirkenden Fäden einer unglücklichen Vater-Sohn-Beziehung mit Ballett verwirklichen?

Man kann. Hier kann man das sehen! Louis, den Louis Mousin sehr verletzlich und dennoch sehr präzise tanzt, hat ja nicht viel Ähnlichkeit mit seinem Vater. Aber er ist, ähnlich wie dieser, schwer überzeugt von der eigenen Sicht auf die Dinge. Und da ist Verständnis für seinen verlustig gegangenen Vater einfach nicht drin. Zumal er ihn nicht einmal erkennen will – Liliom ist für ihn ein Fremder, der eigentlich nur Unheil bringen kann. An seiner Stelle hätte Liliom vermutlich ähnlich reagiert. Den Sturkopf hat der Sohn sozusagen von ihm.

Doch vom geläuterten Liliom geht helle Zuneigung aus. Er war ein Sünder, aber seinen Sohn möchte er jetzt begeistern, verstehen, ermutigen, ihn unterstützen.

Natürlich ist das hier ein Märchen. Aber ein in einer gewissen Hinsicht wahres Märchen, denn es enthält soviel Wahres in den Gefühlen und ihrem Ausdruck, dass man sich dem nicht entziehen kann.

"Liliom" von John Neumeier ist unbedingt sehenswert

Ein tragisches Familienkonstrukt: Liliom, aus dem Jenseits zurückgekehrt, Julie, Louis und der mysteriöse Mann mit den Luftballons. Foto: Kiran West / Hamburg Ballett

Das tragische Familienkonstrukt – der aus dem Jenseits zurückgekehrte Liliom, die tapfere vereinsamte Julie, der sensible, aber aufstrebende Jungmann Louis – erhält zusätzlich mysteriösen Auftrieb von einer Figur, die John Neumeier erfand und die es weder im „Liliom“-Theaterstück von Molnár noch im US-Film „Carousel“ von 1956, der auf dem gleichnamigen Musical mit einer ähnlichen Handlung um Liliom basiert, so gibt. Es ist eine dunkle Clownsfigur:

Durch all diese Szenen schreitet mit Florian Pohl ein hoch gewachsener Mann, der Luftballons verkauft – und es ist wohl der Schnitter Tod persönlich, der mit unsterblich-surrealer Haltung die bunten Ballons schweben lässt.

Die Rolle, einst von Sasha Riva mit faszinierend stoisch-elegischer Haltung unter Neumeier kreiert, ist auch ein Novum in der Tanzgeschichte, denn sie verknüpft die verschiedensten Welten, ohne ihre irdische Identität preiszugeben. Der Ballonverkäufer ist und bleibt zwar ein Mann, der eben Luftballons verkauft. Aber zugleich ist er ein Bote der höheren Mächte, ein Verwalter von Schicksalen und ein unangreifbares Geschöpf.

Dass sein stets ernstes Gesicht ein Clowns-Make-up trägt, verleiht ihm eine sowohl zu seinem Beruf passende Maske als auch eine undurchdringliche Fassade.

"Liliom" von John Neumeier ist unbedingt sehenswert

Familienunglück mit Karussell: Szene aus „Liliom“ mit Florian Pohl als Mann mit den Luftballons vom Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Florian Pohl ist – anders als Riva, der die Rolle von der Jahrmarktexistenz aus entwickelte – von Beginn an der Vermittler, der Grenzgänger, der Jenseitige im Spiel. Mit wunderbar ausformulierten Bewegungen verleiht er den anderen Wesen die Kraft der Illusionen, an die sie glauben wollen, und es sind weniger die bunten Luftballons an sich, die das Begehren wecken, als vielmehr die hehren Gesten, mit der Pohl sie trägt, die sie unvergesslich machen. Wirklich toll.

Man darf außerdem gespannt sein auf die Zweitbesetzung in dieser Saison: Matias Oberlin wird dann den Mann mit den Luftballons tanzen.

Die Zweitbesetzung der Titelrolle ist in dieser Saison mit dem „blonden Riesen“ Edvin Revazov angekündigt, der darin ebenfalls debütiert. Allerdings hätte Alexandr Trusch, der Alleskönner und heimliche Superstar vom Hamburg Ballett, hier eine wohl auch mehr als nur glänzende Figur gemacht. Vielleicht kann man einem Ballerino auf dem Höhepunkt all seiner Kräfte nicht ständig abverlangen, die jeweiligen Hauptrollen zu übernehmen. Aber Trusch als Liliom – dieses Schaustück möchte man unbedingt irgendwann mal sehen.

Wirken Liliom und Julie doch manchmal wie Romeo und Julia, manchmal wie Albrecht und Giselle. Es sind ja gerade die ungleichen Paare, die so besonders apart zusammen schillern. Und Alexandr Trusch ist ein Meister darin, alle auch durchwachsenen Nuancen der menschlichen Natur zu zeigen, das bewies er in zahllosen Hauptrollen ebenso wie zuvor in kleineren Partien. Hoffen wir, dass er die Aufgabe, den Liliom zu tanzen, bei der nächsten Aufführungsserie erhält.

Außer dem Hauptpaar und seinen verkrachten Liebesverhältnissen gibt es aber auch noch das dazu gegensätzliche, glücklich-sympathische Aufsteiger-Paar in „Liliom“: Marie (uraufgeführt von Leslie Heilmann, jetzt getanzt von Emilie Mazon, alternierend von Yaiza Coll) und Wolf (uraufgeführt von Konstantin Tselikov, jetzt getanzt von Alessandro Frola, alternierend von Borja Bermudez) fangen ganz klein an und tauchen später als gut Situierte mit wohlerzogenem Nachwuchs wieder auf.

Sie können, was Liliom und Julie nicht konnten: rechtzeitig miteinander über Probleme reden. Denn während Liliom und Julie einander sozusagen blind begehrten, die Schwächen und auch die eigentlichen Stärken des anderen einfach nicht wahrnehmend, haben Marie und Wolf eine von Anfang an sowohl rational als auch empathisch funktionierende Beziehung begründet. Und sie haben, auch das gehört zum Glück nun mal dazu: eben Glück gehabt!

Dass auch die Paare, die nicht im Mittelpunkt stehen, sondern im Corps de ballet das tobende Leben verkörpern, überzeugen, und dass auch die Szene im Jenseits, in denen sich Liliom einer harten Befragung unterziehen muss, mit feiner Satire belustigt, war nicht anders zu erwarten.

"Liliom" von John Neumeier ist unbedingt sehenswert

Einen Trauertotentanz gibt es auch: Julie (Alina Cojocaru) bedeckt den verstorbenen Liliom mit all ihrer Liebe und ihrem zarten Körper. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Die Trauer Julies, die Liebe zu ihrem Sohn, die Wehmut des raubeinigen Liliom, die allgemeine Melancholie, als das Playland (also der Jahrmarkt) durch die Wirtschaftskrise abgewrackt ist:

All das geht ans Herz, ermahnt, weckt auf, führt drastisch vor, wie sehr eine jede Existenz von den Umständen abhängt. Die klassisch-modernen Tänze und auch das fantasievoll-logische Bühnenbild von Ferdinand Wögerbauer sind so vereinnahmend, dass man cineastische Gefühle entwickelt.

Akustisch ist „Liliom“ ohnehin ein großartiges Event für sich: Außer dem hervorragenden Philharmonischen Staatsorchester Hamburg spielen auch die schmissig-elegante NDR Bigband sowie der brillante Akkordeonist Jakob Neubauer, die definitiv gekonnte Leitung hat in dieser Saison der junge Kanadier Nathan Brock.

Dass sich der Akkordeonist auf der Bühnenebene der Tänzer bewegt, holt ihn übrigens wie einen Taktgeber nah heran.

Die speziell für dieses Ballett entstandene opulente Komposition stammt vom französischen „Oscar“-Preisträger Michel Legrand, der bei der Uraufführung im Dezember 2011 noch lebte und stolz seinem Freund Neumeier zulächelte.

"Liliom" von John Neumeier ist unbedingt sehenswert

Alina Cojocaru muss als Julie ihren eigenen Weg gehen – ohne Liliom (Karen Azatyan), der die Härten der sozialen Realität nicht aushielt. Foto: Kiran West / Hamburg Ballett

Liliom“ ist, das muss doch betont werden, ein Ballett mit so vielen Aspekten, dass es auch für viele geeignet ist, die sich sonst weniger für die Kultur im Opernhaus interessieren.

Alle Lehrlinge der Liebe und all jene, die die Welt sozial gerechter sehen wollen, haben hier ihr genussvolles Auskommen.

Für Ballettfans ergibt sich die beste Gelegenheit zu sehen, wie vielfältig und wie wahrhaftig man modernes Ballett machen kann – bitte nicht verpassen!
Gisela Sonnenburg / Anonymous

Weitere Beiträge zu diesem Stück bitte hier: https://ballett-journal.de/hamburg-ballett-liliom-neumeier/

Tickets gibt es hier: www.hamburgballett.de

"Liliom" in einer neuen Besetzung!

Hier tanzt nochmal die Besetzung der Uraufführung: Anna Polikarpova (heute Lehrerin an der Ballettschule vom Hamburg Ballett) und Carsten Jung, der Liliom grandios mit burschenhafter Erotik sprich „Mackerattitüde“ miterschuf. Foto: Holger Badekow / Hamburg Ballett

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