Nanu? John Neumeier spricht im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ – und dann auch noch über fünf ganze Seiten ausgebreitet?! Seit Joachim Kronsbein, einst versierter Ballettfachmann beim „Spiegel“, über den Truppenchef Neumeier den schönen Satz schrieb: „Wo er waltet, ist immer Weihnachten“, schien die Atmosphäre zwischen den beiden Hamburger Institutionen angespannt. Aber jetzt! Keine Kulturkennerin, sondern eine frühere Wissenschaftsredakteurin mit Hang zur Wirtschaftswissenschaft vollbrachte das Wunder und knöpfte sich Neumeier etliche Male vor – um dann doch nur das zu schreiben, was ihr der Intendant vom Hamburg Ballett sachte in den Mund legte. Man muss sich schon beinahe Sorgen um den ach-so-kritischen – oftmals auch ebenso ballettfeindlichen – Journalismus vom „Spiegel“ machen. Zumal Samiha Shafy, so der Name der Autorin, im Profi-Betrieb des Balletts wohl auch ziemlich neu ist.
Aber der Reihe nach. Shafy arbeitet seit 2007 fest beim „Spiegel“, erst als Wissenschaftsredakteurin, dann im Auslandsressort. Als sie ein knappes Jahr davon pausierte, um an der Harvard University einen Fellow-Studienaufenthalt zu absolvieren, gab sie an, sie wolle dort untersuchen, wie die öffentliche Politik und wirtschaftliche Prinzipien sich globalen Aufgaben widmen könnten. Offenbar glaubt Shafy nicht nur an das Gute im Menschen, sondern vor allem auch an die Wirtschaft.
Solche Menschen sind als Gesprächspartner für Künstler heutzutage außerordentlich geeignet. Störende Fachkenntnisse über Theater, Musik, Literatur oder gar Ballett sind da kaum zu befürchten. Aber die frische Neugier einer Ahnungslosen überzeugte auch einen John Neumeier, der sich erst zögerlich, dann immer öfter von Shafy interviewen und bei der Arbeit beobachten ließ.
Während die gewöhnliche Pressemeute kurz vor der Uraufführung von Neumeiers „Anna Karenina“ einen gemeinsamen Sammeltermin im Ballettsaal bekam, um bei einer Durchlaufprobe zuzusehen, wurde Frau Shafy gesondert für handfestere Arbeitseinblicke empfangen. Und prompt gefiel ihr die Probenshow, die das Genie John Neumeier ihr angedeihen ließ. Nach fünfmaliger Wiederholung der Anfangsszene von „Anna Karenina“ habe Neumeier mit leiser Stimme eine Anweisung gegeben, die dann beim nächsten Durchlauf sofort umgesetzt worden sei. Ach, da staunte die „Spiegel“-Frau! Anscheinend dauert es in ihrer Redaktion deutlich länger, Dinge zu ändern.
Ein weiterer Termin mit dem verehrten Künstler war dann die Generalprobe. Normalerweise sperrt Neumeier schreibende Journalisten zwar seit einigen Jahren von solchen Voraufführungen aus, offenbar vermutend, die Bühnentanzkunst seines durchtrainierten Hamburg Balletts sei vor der Premiere möglicherweise nicht genügend effektvoll. Da der Chefchoreograf nun aber nach dem ersten Gespräch mit Frau Shafy schon wusste, dass diese „Spiegel“-Dame nicht ganz so viele Kenntnisse bezüglich der Ballettkunst hatte, konnte er sie einlassen. Eine Hoffnung lag wohl in der Luft: Sie würde ohnehin schreiben, was er ihr erzählte!
So schleicht der Artikel im aufgeregten Tonfall durch Neumeiers Kindheit und Jugend und spart nicht aus, dass sein Vater Schiffskapitän und seine Mutter Hausfrau waren. Die investigative Ader der klugen Reporterin brachte dann auch noch zutage, dass Neumeier zunächst Literatur und Theaterwissenschaft studierte, bevor er sich ganz dem Profi-Tanz widmete. Wie gut, dass sie nun extra darauf hinweist, dass dieses seinen Horizont für seine spätere Arbeit als Choreograf durchaus erweitert habe. Sonst hätte man glatt noch das Gegenteil befürchtet, nicht wahr?
Shafy, die auch schon über Querelen am Bolschoi in Moskau und über Tänzerkarrieren wie die von Stars wie Sergej Polunin geschrieben hat, pflegt einen kalten, wenig begeisterten Blick auf Ballett. Vielleicht liegt es daran, dass sie zwar Sensationsjournalismus zu betreiben vermag, aber für das Wesentliche der Kunst so gar keinen Sinn hat.
Wirklich wesenhaft Neues konnte sie Neumeier nun allerdings nicht entlocken, und eigene Recherchen auf unbekanntem Themengelände sind anscheinend auch nicht so richtig Shafys Sache. Auf den Unfug einer kühnen Werkinterpretation lässt sie sich auf den fünf Blattseiten jedenfalls vorsichtshalber gar nicht ein. Und ihre Beobachtungen Neumeiers beschränken sich auf einfache Dinge, wie seine Augenfarbe oder seine elastische Jugendlichkeit. Sie vergleicht ihn mit Mick Jagger, nun ja. Sicher meint sie es gut. Vielleicht zu gut?
Das durchschnittliche Niveau der „Spiegel“-Ausgaben der letzten Jahre wird mit diesem Künstlerportrait deutlich unterschritten.
Was Ballett heute der Welt geben kann, warum es so aufwändig und dennoch so wertvoll ist und inwiefern sich Neumeiers Ballette und sein Geschäftsmodell von anderen unterscheiden, hat Shafy sich offenkundig nie gefragt. Hauptsache war wohl, dass sich keine seltenen Begriffe noch schwierige Fremdwörter in ihrem Text befinden, denn die hätte man erklären müssen. Einfachheit über alles, brüllt hingegen diese Art von Journalismus. Sprachkultur funktioniert nun allerdings nicht über die reine Reduktion des Wortschatzes. Shafy als Choreografin würde wohl über wenige Grundübungen nicht hinaus kommen.
Leider riecht der Artikel zudem auch noch recht abgestanden. Denn der letzte Termin mit Neumeier wird von der Autorin im Text auf Oktober 2017 datiert. Die Uraufführung von „Anna Karenina“ fand aber bereits Anfang Juli statt. Wenn ein solcher Text nun erst am 30. Dezember desselben Jahres erscheint, so ist es eigentlich aus journalistischer Sorgfaltspflicht heraus üblich, ihn zu aktualisieren oder zu ergänzen.
So hätte man Neumeier rückblickend fragen können, ob die Russen, die viel Geld für Ballett übrig haben und die das neue Stück fürs Bolschoi in Moskau gekauft haben, auch ein nicht-russisches Thema genommen hätten. Das Ballettrepertoire beim Bolschoi zeigt nämlich eine deutliche Vorliebe für Russisches. Wie verlaufen denn überhaupt solche Verhandlungen? Sind sie zeitraubend? Braucht man viele Übersetzer und Juristen? Man hätte hier und da mal nachhaken können, wenn man Neumeier des öfteren zum Reden trifft.
Aber das hat man anscheinend nicht nötig, wenn man fest beim „Spiegel“ arbeitet – und zudem eine schweizerische Staatsangehörigkeit besitzt, wie übrigens auch ein einstiger „Spiegel“-Chefredakteur. Auf diese anscheinend bedeutsame Gemeinsamkeit zwischen ihr und ihrem damaligen Chef weist Shafy in einem Interview hin, in dem sie selbst interviewt wird. Ihre Arbeit bezeichnet die stolze Schweizerin darin als „Traumjob“. Ha!
SHAFY UND HARVARD – EINE GESCHICHTE MIT FOLGEN
Ein anderer Zusammenhang ist noch interessanter: Bevor Shafy ihr Harvard-Jahr als Forschungsstipendiatin machte, ließ sie sich von zwei Studien aus Harvard für eine ganze „Spiegel“-Titelgeschichte anregen. Zufall? Unwahrscheinlich. Drittmittel werden auch nach PR vergeben. So gesehen, erscheint die Sache als schicker Deal: Man verschafft Harvard mit einer Titelgeschichte viel Aufmerksamkeit und bekommt dafür fast ein ganzes Jahr an der Elite-Uni in den USA bezahlt. Mit einem Stipendium, wohlgemerkt.
Es ist allerdings auch für eine scheinbar so renommierte Wissenschaftlerin oder Journalistin schon fast ein Kunststück, ausführlich über John Neumeier zu schreiben und doch fast nichts über seine choreografischen Werke und deren tänzerische Besonderheiten mitzuteilen. Da muss man von künstlerischer Körperarbeit ja wirklich keinen blassen Schimmer haben. Hätte Frau Shafy sich nicht wenigstens da ein bisschen einarbeiten können?
Und weder weiß Shafy, dass Neumeiers wahres Alter bereits im Februar 2012 in der Zeitung „Die Welt“ geoutet wurde, noch machte sie sich die Mühe zu überprüfen, woher das Libretto zu Neumeiers Ballett „Anna Karenina“ stammen könnte.
Sonst wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass es in weiten Teilen von Christian Spucks gleichnamigem Ballett entlehnt oder inspiriert ist. Außer der von Neumeier durchgeführten Transponierung der Handlung aus dem 19. Jahrhundert in unsere Gegenwart, die bei Spuck fehlt, ergeben sich sogar erschreckend viele Ähnlichkeiten, einen dicken dramaturgischen Fehler inklusive: In beiden Ballettversionen von Leo Tolstois Roman verschwindet das zweite Kind der Titelfigur nach der Trennung von ihrem Ehemann spurlos, auch aus ihren Gedanken. Das ist nun gar nicht psycho-logisch, zumal Anna Karenina sich über ihre Mutterschaft definiert.
Auch sonst findet sich von der Personen- und Szenenauswahl über eine romantisch verbrämte Feldarbeiterszene und einen prägnanten Pas de trois bis zur Spielzeugeisenbahn auf der Bühne als symbolträchtigem Zeichen aus der Kinderwelt noch manche Gleichheit der beiden Ballette, auch wenn die choreografische Umsetzung jeweils unterschiedlich ist. Wäre es nicht gute alte „Spiegel“-Tradition, auf solchen Äußerlichkeiten nachgerade lüstern herumzureiten?
Spuck führte seine „Anna Karenina“ übrigens schon 2014 in Zürich auf. Na, das kann Frau Shafy nicht wissen. Zürich liegt zwar in der Schweiz, aber sie ist ja keine Feuilletonistin – oje, muss sie womöglich dieses Wort noch rasch nachschlagen? Etwaige Liebe für die Bühne merkt man ihrem Text jedenfalls nicht an.
Aber einer der beiden Dramaturgen, die Spuck für sein Tolstoi-Ballett beschäftigte, arbeitete viele Jahre nur einen Steinwurf vom „Spiegel“-Sitz in Hamburg entfernt, nämlich bei der Wochenpostille „Die Zeit“. Vielleicht hat sie mal von ihm gehört?
Der große Unterschied zwischen Claus Spahn, so der Name des Kulturjournalisten und Dramaturgen, und der „Spiegel“-Tante Shafy ist allerdings, dass Spahn in seinem Kopf noch etwas anderes hin- und herbewegt als Dollars und PR-Blasen.
Aber für den so genannten Volksverblödungsjournalismus, der mehr und mehr unsere bekannte deutsche Medienlandschaft versumpfen lässt – und der generell sehr bescheiden mit knapp 200 verschiedenen Wörtern auskommt, um die ganze Welt en detail zu beschreiben – ist der Shafy-Text selbstredend ein preisverdächtiges, typisches Werk.
Man kann John Neumeier nun nur beglückwünschen. Zum Jahresabschluss findet sich keine einzige kritische Zeile im „Spiegel“, dafür das Lobgehudel einer Ahnungslosen, die so wenig hinguckt, dass noch der blindeste Sponsor ihrem Ruf mit Bestimmtheit folgen wird. Bravo! Das nennt man: eine Journalistin vorführen. Oder verführen? Egal – wer mit dem Stück im „Spiegel“ hundert Punkte machte, ist nicht zu übersehen!