Je öfter man geniale Werke sieht, desto mehr versteht und genießt man sie. „Ghost Light“ von John Neumeier ist gleich in mehrfacher Hinsicht kongenial, denn es ist das erste Ballett weltweit, das mit abendfüllender Absicht und unter Einbeziehung einer ganzen Compagnie nach dem ersten Lockdown im September 2020 uraufgeführt wurde. Es ist unter Einhaltung absurd klingender, aber sehr vernünftiger Corona-Schutzmaßnahmen entstanden und wird mit solchen aufgeführt. Aber es ist kein kleines Stück, sondern bringt tatsächlich um die 60 Leute auf die Bühne. Es ist daher DAS Corona-Ballett überhaupt, zumal die hohe Karatzahl in schöpferischer und interpretierender Hinsicht unbestritten sein dürfte. Kein Zaudern, kein Zögern, bitte ran an den Speck: Pünktlich zu Ostern 2021 erschien das gute Stück nun als DVD und BluRay. Und hat solchermaßen den Vorteil, wieder und wieder und in jeder Stimmung betrachtet zu werden. Für Tiefsinnige und für tiefe Gedanken etwa am Karfreitag eignet sich dieses moderne Ballett ebenso wie für das jauchzende Danken für die Wiederauferstehung und das Hoffen auf die Besserung der allgemeinen Lage, etwa am Ostersonntag. Wer erst am Ostermontag oder sogar erst danach Zeit für die Kunst findet, lässt die glitzernde silberne Scheibe eben etwas länger unangetastet. Aber dann!
Silvia Azzoni, Alexandre Riabko, Anna Laudere, Edvin Revazov, Aleix Martínez und rund 55 weitere Tänzer*innen vom Hamburg Ballett freuen sich, vor meist sanft grauem oder auch tiefblauem Grund im Licht einer seltsamen Lampe auf der Bühne gesehen zu werden.
Da bezaubern Jacopo Bellussi und Hélène Bouchet in einem Pas de deux, der zugleich so starke Schatten wirft, dass man bezweifeln muss, ob er real stattfindet oder nur im Zwielicht des Wechsels von Tag und Nacht erträumt wird.
Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann korrespondieren tänzerisch über ihre Liebe, aber auch über ihre Vergangenheit.
Aleix Martínez zappelt sich die Seele aus dem Leib, furios und glamourös.
Christopher Evans ist immer souverän, im Adagio-Gang wie im Allegro-Sprung.
Marcelino Libao genießt seine Solokombination, sie ist voll Lebensfreude – und das vor dem Hintergrund eines Geisterdaseins. Fabelhaft.
Ana Torrequebrada stürzt sich begeistert in ihre hohe Beinarbeit.
Anna Laudere streckt ihre starken schönen Beinen unwiderruflich zu Gott!
Yun-Su Park und Lizhong Wang tummeln sich regelrecht im Drive ihres Pas de deux.
Atte Kilpinen (anstelle des vor der Uraufführung sich verletzenden Alexandr Trusch) und Karen Azatyan geben sich ein Match vom Feinsten menschlicher Frotzelei.
Marià Huguet spielt wie ein Schauspieler, aber mit seinem Körper statt mit seiner Stimme.
Ihre Stimme darf hingegen Anna Laudere ganz zu Beginn einsetzen: In ihrer Muttersprache haspelt die aus Lettland stammende Primaballerina bezaubernd raue Töne vor sich hin.
Ihr Kostüm, das Violette von Jürgen Rose aus der „Kameliendame“, verweist auf ihre erste große Paraderolle beim Hamburg Ballett. Zugleich revoltierte Laudere die berühmte Partie, war und ist die erste knallmoderne „Kameliendame“.
An all das darf man hier denken – und doch sollte man nicht abgleiten in nostalgische Befindlichkeit. Dazu ist das Geschehen im Bühnenfeld viel zu spannend.
Silvia Azzoni trägt jedenfalls endlich eine wunderschön passende Farbe, ein helles Silberblau. Bei der Uraufführung kam sie in Fleischrosa einher, was bei dem Licht und in der Szene ihren schönen Körper unvorteilhaft erscheinen ließ.
Ihr Gatte und Bühnenpartner Alexandre Riabko hält sie aber so oder so sicher und fest in seinen Händen.
Bis sich die beiden choreografiegemäß kurzzeitig zu verlieren drohen… Riabko erhebt seine Hand vor den eigenen Augen, und als könne er darin den richtigen Weg ablesen, findet er gleich auch wieder seine Silvia.
Missverständnisse können so schnell geschehen!
Auch davon erzählt dieser Ballettabend, obwohl er eigentlich den Theatergeistern zugeeignet ist, speziell denen des Balletts und da wiederum selbstverständlich denen von John Neumeier.
So hat auch sein „Nussknacker“, eine auch wieder ballettgeschichtlich revolutionäre Angelegenheit, einige Auftritte. Mit jungenhaft-markanten Sprüngen durch Atte Kilpinen und neckischer Beschwingtheit durch Emilie Mazón.
Man könnte sie nun alle erwähnen, die hier eben auch alle virtuos auftanzen, aber es ist noch besser, sie alle selbst zu sehen.
Die Aufzeichnung stammt aus dem Festspielhaus Baden-Baden, wohin das Hamburg Ballett auch im Mai 21 gern reisen würde, um die nächste Uraufführung „Beethoven-Projekt II“ zu tätigen. Ob diese und andere Pläne realisiert werden können, bleibt abzuwarten.
Die DVD bzw. BluRay hat den Vorteil, dass sie auf einen wartet – und nicht umgekehrt!
Die Szenen sind zugleich eine Abfolge von vielen Nächten oder auch eine einzige Nacht. Zeit kondensiert in dieser Atmosphäre, die von der Piano-Musik mit Klängen von Franz Schubert – famos am Flügel: David Fray – noch unterstützt wird.
Eine als Bonus der DVD / BluRay angefügten Einführung von John Neumeier, die er auf leerer Bühne spricht, als sei das Haus mit Zuschauern gefüllt, erklärt die Entstehungsgeschichte dieses Stücks noch en detail. Und es gibt auch etwas nachzulesen: ein veritables Booklet mit Texten und Fotos, was schon eine lobenswerte Seltenheit heutzutage ist.
John Neumeier schreibt im Booklet, dass ihm die Inspiration zum Thema durch einen Artikel in der New York Times kam.
Vielleicht war es der Beitrag von Joel Grey, Schauspieler und Regisseur, der am 22. April 2020 in der NYT einen traurigen, reflektierenden Text publizierte: „Vor Corona war das Theater meine Seligkeit. Wo gehe ich jetzt hin?“ Im Fotohintergrund dieser Überschrift ist ein Ghost Light zu sehen:
Eine nackte Glückbirne auf kargem Ständer.
Solch eine Lampe hat jede US-amerikanische Bühne, und das Licht brennt nur, wenn die Show aus ist und niemand auf der Bühne arbeitet.
Nachts, wenn die Theatergeister ihr Spiel treiben, soll niemand zu Schaden kommen… und auch die Theaterheiligen sollen sich auf ihrer Bühne wohlfühlen.
Sie müssen es ohne Publikum tun.
Auch heute wartet das Ghost Light auf vielen amerikanischen Bühnen, um endlich wieder für Vorstellungen zu erlöschen. Eine andere Möglichkeit, die zum Beispiel das Miami City Ballet im heißen Florida nutzen kann, ist die Outdoor-Vorstellung.
In Russland haben die Theater sogar offen und spielen Abend für Abend unter Corona-Schutzmaßnahmen wie stark reduziertem Kartenverkauf. Ähnlich wird es an manchen Bühnen in Spanien und einigen anderen Ländern gehandhabt.
Aber Gros des Publikums draußen in der Welt bleibt für den Kunstgenuss derzeit daheim bei sich auf dem Sofa. Online-Streams sind da für Viele die Rettung, für Künstler*innen wie für Zuschauer*innen.
Aber die logische Bewahrung eines Streams ist eine DVD oder BluRay. Da trifft es sich gut, dass Myriam Hoyer mit bewährter Hand für Neumeier beim „Ghost Light“ die Bildregie geführt hat.
Zwei ausführliche Rezensionen des Stücks und auch der Aufzeichnung, die bereits bei arte lief und bei arte.tv auch als Stream zu sehen war, finden Sie bitte hier und hier.
Vielleicht wurde da nicht genügend auf die Beinschönheit von Anna Laudere hingewiesen?
Und jetzt planen Sie in aller Ruhe Ihr Osterfest, aber nicht, ohne sich John Neumeiers jüngsten Coup nachhause zu holen!
Gisela Sonnenburg
Zum Onlineshop vom Hamburg Ballett, wo es ab nur 17 Euro – ein echt sozialer Corona-Preis – die DVD gibt: https://hamburgballett-shop.de