Das angloamerikanische Wort für Achtsamkeit ist „mindfulness“. Es ist das Wort der Stunde. Der Monate. Vielleicht der kommenden Jahre. John Neumeier hatte rasch begriffen, dass die Corona-Epidemie und der Lockdown ein Monument verdienen. Ein getanztes! Eines voller Achtsamkeit. Am 28. April 2020 begann das Hamburg Ballett, wieder im Ballettsaal zu arbeiten. Und der Intendant und Meisterchoreograf Neumeier – mit der soeben gemachten Erfahrung der Isolation – begann, im Geiste Neues zu kreieren. Als Leitbild hatte er dabei eine amerikanische Tradition im Sinn, die im Mai 2020 auch das Finnische Nationaltheater zum Anlass für eine Kunst-Installation nahm: Das „Ghost Light“, das „Geisterlicht“, das üblicherweise in den USA nachts auf der Bühne brennt, so auch in den Theatern am weltberühmten Broadway. Manche Theater weltweit lassen dieses ewige Licht übrigens während der gesamten Schließungszeit wegen Covid-10 brennen. Die Glühbirne auf einem Metallständer – das Ghost Light sieht aus wie eine hypermoderne Stehlampe – setzt aber normalerweise vor allem aus zwei praktischen Gründen, nämlich für den Arbeitsschutz und für den Brandschutz, ein Zeichen. Es besagt, dass es verboten ist, die Bühne zu betreten! Der Aberglaube der Theaterleute füllt den Zweck zudem mit Fantasie auf – und meint, dass die Bühne frei bleiben solle für all die theatralen Geister, die hier ihr Unwesen treiben dürfen. Daher kommt der Name: „Ghost Light“.
Geisterhaft ist aber auch die Erinnerung an die „normale“ Zeit, in der getanzt, sich berührt, beim Sprechen sogar ein bisschen gespuckt werden durfte. Sie ist entrückt, und im Frühling 2020 hatte man zudem das Gefühl, die eigene Existenz komplett ändern zu müssen.
Körperkünstlern erging das im Extrem so, denn sie sind eigentlich darauf angewiesen, ohne Abstände zu den Anderen ihre tägliche Arbeit zu leisten.
Seit gestern aber – seit der Uraufführung – hat John Neumeier ein Ballett für 55 Tänzerinnen und Tänzer zu bieten, das mit räumlicher Distanz für räumliche Distanz geschaffen wurde.
Eine Stunde und fünfzig Minuten dauert es, entgegen der Ankündigung von eineinhalb Stunden. Die Musik ist die Stille – oder live gespielte Klaviermusik mit Kompositionen von Franz Schubert, der unglücklich im Jahren von nur 31 Jahren starb.
Vorab erklärt John Neumeier, 81, vom Tonband, dass man die Mund-Nasen-Bedeckung bis zum Vorstellungsbeginn tragen und zum Schlussapplaus unbedingt wieder aufsetzen solle. Ja, und das Handy ist bitte auch auszuschalten! Wie sonst auch.
Anlässlich der Uraufführung kommt Neumeier dann – in zeitloses Dunkelblau gewandet – selbst auf die Bühne und erklärt die Situation und kurz auch sein neues Ballett. Für eine „Ballett-Werkstatt“, wie sie sonst vor neuen Stücken bei ihm üblich ist, war dieses Mal noch keine Gelegenheit vorhanden.
Aber das Publikum ist dankbar, seinen langjährig gefeierten Ballettfürsten live auf der Bühne zu sehen. Das Band zwischen Neumeier und Hamburg ist stark, und das kann so ein bösartiger kleiner Virus mitnichten ändern.
Der Erste Bürgermeister Hamburgs, Peter Tschentscher (SPD), und auch der Kultursenator Carsten Brosda (ebenfalls SPD) werden von Neumeier begrüßt und bedankt, ebenso wie die erschienenen Zuschauerinnen und Zuschauer. Manche von ihnen erinnern sich, dass am 31. Januar 20 mit der „Glasmenagerie“ die vorerst letzte Ballettaufführung in der Hamburgischen Staatsoper stattfand – das Hamburg Ballett tanzte dann eine letzte Vorstellung von „Duse“ von John Neumeier, am 8. Februar 20 auf der Tournee in Venedig.
Zurück in Hamburg, begann dann für alle die Qualzeit.
Der Ballettboss musste bald Eines feststellen: „Die Tänzer waren so hungrig nach dieser Bühne!“ Neumeier weiß, warum er das Feld dann rechtzeitig bestellte.
Für ihn ist die künstlerische Arbeit ein Muss, und auch seine „Instrumente“, das Ensemble, sowie sein weiterer Stab sind sich dessen bewusst, dass gerade die Körperkunst Ballett keine langen Pausen duldet. Wenn man sie auf ihrem einmal erlangten Niveau halten will.
Gemeinsam hat man sich motiviert, diszipliniert, durchgehalten – und Neumeier dankt seinem Ensemble und vor allem auch seinen Ballettmeistern für die erwiesene Treue. Ohne diesen Zusammenhalt wäre man jetzt wohl nicht hier.
Trainings via Zoom im Internet, Proben mit einzelnen Tänzern, zehn Trainings pro Tag im Ballett-Zentrum, damit die Gruppen möglichst klein bleiben – all das liegt nun hinter dem Hamburg Ballett.
Um aber ebenso wie das Stuttgarter Ballett von der zuständigen Regierung als Hochleistungssportler eingeordnet zu werden und damit mehr Freiheiten zu haben, laufen derzeit noch Verhandlungen. Aber bald wird wohl auch das Hamburg Ballett wieder stärker mit körperlichen Berührungen – und zum Ausgleich mit mehr Tests auf Covid-19 – arbeiten können. Damit rückt immer mehr „normales“ Ballett in die Aussicht!
Vorerst aber gibt es mit „Ghost Light“ Neumeiers way of life during corona crisis zu sehen – erhaben und erhebend, leicht chaotisch, alle mit einbeziehend und dennoch stark emotional.
Als es losgeht, ist die Stimmung konzentriert und ernst, und mit gleicher Anmutung schreitet die Primaballerina Anna Laudere auf die Bühne. Ihre schönen honigblonden Haare trägt sie offen, aber das Kleid darunter ist vielen Ballettkennern bekannt: es ist die schulterfreie violette Robe aus Neumeiers Ballett „Die Kameliendame“.
Laudere eilt zur Rampe vorn rechts und scheint von einem Hustenkrampf geschüttelt. Ganz so, wie die „Kameliendame“, die an Tuberkulose leidet, auch. Aber jetzt denkt man bei Husten an andere Krankheitserreger – und der Tod, die Todesgefahr, scheint keine romantisch verbrämte (Ballett-)Literatur mehr zu sein, sondern mahnt an die Gegenwart.
Viele sterben an der Pandemie, viele tragen Schäden davon: körperliche, seelische, existenzielle.
Dieser Gedanke geht hier nie verloren. Auch wenn die Nostalgie – die später von Michal Bialk am Flügel im Orchestergraben mit den leichthin schwermütigen Schubert-Klängen noch genährt wird – weithin ihre Schwingen ausbreitet, um einen in die Irrgärten der Erinnerung zu entführen.
„Die Kameliendame“ wird hier ohne Musik mehr nachempfunden als getanzt. Einzelne Versatzstücke der Choreografie finden sich neu zusammengesteckt.
Es ist wie Erinnerung der Erinnerung der Erinnerung…
Edvin Revazov als Armand, also als männlicher Held im Stück, kommt sachten Schritts auf die Bühne. Er ist der Ehemann von Anna Laudere, sie durften also auch unter strengsten Schutzmaßnahmen eng zusammen tanzen.
Er umfasst ihren Körper von hinten, sinkt zu ihren Füßen auf die Knie. Er liebt sie. Keine Frage.
Ihr Kleid raschelt. Sie wehrt sich nicht. Er hebt sie, trägt sie umher. Sie entschwinden so sanft, wie sie kamen.
Neue Geister kommen und gehen, manchmal ist es wie auf dem Bahnhof. Nach und nach können 55 Tänzerinnen und Tänzer endlich mal wieder Bühnenluft schnuppern und sich dem Publikum tanzenderweise zeigen.
Manche von ihnen sind hier die Stars. Darunter der im Ensemble noch ganz neue Finne Atte Kilpinen. Er hat tänzerisch Ähnlichkeit mit dem Russen Alexander Shpak vom Staatsballett Berlin. Dieselbe burschenhafte Anmut, eine ähnliche erotische Anwandlung bei Sprüngen und Pirouetten. Derselbe Drive.
In „Ghost Light“ sprang er für den verletzten Primoballerino Alexandr Trusch ein. Wir wünschen unserem „Truschi“, unserem „Sasha“, alles Gute für die Genesung! Und: Wir haben ihn so vermisst! Dass ausgerechnet dieser freundliche Supertänzer die Eröffnung der Saison nicht mittanzen konnte, ist ein Unglück für uns. Hoffen wir das Beste!
Und auch der Newcomer Alessandro Frola wird gegrüßt und mit allen guten Wünschen versehen, denn auch er konnte verletzungsbedingt nicht mit uraufführen. Nun ist das in einem Beruf wie dem Tanzen nicht ganz selten, aber wir drücken den beiden schönen Männern fest die Daumen zur Genesung!
Kilpinen strengt sich derweil an – und kommt mit der anspruchsvollen, auch technisch zweifellos rasanten Choreografie gut zurecht.
Er ist zudem knallblond. So knallblond, dass es vermutlich gefärbt ist und sein Haarschopf das Auffallendste an ihm ist. Als käme er geradewegs aus einer finnischen Sauna, werbetechnisch gesehen. Ein leuchtender Hingucker auch ohne viel Kostüm.
Den Namen von Atte Kilpinen sollte man sich zudem merken. Er lernt offenbar sehr schnell und hat außer dem schönen Ausdruck auch eine unbestreitbare Bühnenpräsenz. Herzlich willkommen!
Alexandr Trusch fehlt einem dennoch. Muss nochmal gesagt sein.
Immerhin eine Pose von einem Foto mit Trusch aus dem Programmheft bleibt fest im Gedächtnis: Die erhobenen Unterarme neben dem nach hinten sich beugenden Gesicht – ganz so, als strebe der ganze Mann dem Licht zu, in einer einzigen Vorwärtsbewegung, mit einer Energie, die vom Kopf und vom Brustkorb, nicht nur von den Lenden, ausgeht. Wowowow, wie schön!
Aber auch für Primoballerino Jacopo Bellussi ist die Corona-Krise ein ganz besonderes Ärgernis. Im Spurttempo hatte er sich in den letzten beiden Jahren nach ganz oben getanzt, eine Hauptrolle nach der anderen übernommen und wunderbar flippig-graziös, mit erlesenen Linien und sportiver Spannung interpretiert.
Der „Hamlet“ wurde ihm durch die Theaterschließung genommen; jetzt tanzt er zwar einen distanzierten Pas de deux mit der wundersam femininen Hélène Bouchet, aber ihr gemeinsames Tanzstück zerfasert rasch, wird ein Pas de trois und findet doch kein Ende – und das, bevor es überhaupt so richtig losging.
Das ist das Problem in „Ghost Light“: Vieles bleibt beliebig, wie im Nebel, geisterhaft eben – und das ist anstrengend. Für die KünstlerInnen wie fürs Publikum.
Nun gut, Kunst darf anstrengend sein, also schauen wir bitte noch genauer hin.
Aleix Martínez, ein weiterer Supertänzer, der außerdem seit Jahren wie ein Besessener choreografiert, fällt besonders auf. Er tanzt hier oft im Vordergrund, mit einem Stuhl als Requisit, aber auch ohne das sperrige Möbel.
Martínez ist der Mann fürs Moderne beim Hamburg Ballett, kann man sagen. Nicht erst seit dem „Beethoven-Projekt“, das Neumeier 2018 mit ihm und auch für ihn schuf.
In „Ghost Light“ tanzt Aleix Martínez in einem weißen Kostümoberteil, das nicht wirklich vorteilhaft ist, aber an Neumeiers „Matthäus-Passion“ erinnert, aus der hier auch ein paar Schritte übernommen werden. Unvergessen sind Aleix‘ Synchronschritte mit Alexandr Trusch im selben Neumeier-Werk.
Vor allem aber tanzt Martínez jetzt die Wut und Verzweiflung während des Lockdowns. Er faltet und zerknüllt seinen trainierten Körper regelrecht, wirft sich in eins zusammen, um dann mit Verve scheinbar auseinanderzubrechen.
Wie ein geschnürtes Paket liegt er mal am Boden, dann wieder platzt alle Energie auf einmal aus ihm heraus.
Jazz-Musik würde dazu sicher auch gut passen.
Aber Michal Bialk hat Order, ausschließlich die wehmütig-hoffnungsvollen frühromantischen Fingerläufe von Franz Schubert zu spielen. Und zwar so, dass die Tänzer möglichst viel damit anfangen können.
Neue Interpretationen der oft ohrwurmartig bekannten Trillerklänge sind da nicht drin; auch die Tempi werden dem Tanz angepasst und nicht umgekehrt.
Für die Geister, die hier auf der Bühne regieren, hat die Musik ihre Wirkung.
Eine erfreuliche Wendung hat denn auch das Tänzerschicksal von Marcelino Libao genommen. Er darf sein superhübsches Solo darum auch gleich zwei Mal tanzen, im Abstand von etwa einer Stunde. Man würde es sogar noch ein drittes Mal annehmen, denn Libao tanzt es so ausgelassen, so schwungvoll, dass es eine Erquickung ist!
Er schlittert zu Beginn nach vorne, als wäre es ein Stück von David Dawson. Croisé- und Effacé-Positionen in der fünften Fußposition wechseln dann rasch, die Arme gehen dabei von unten nach oben und umgekehrt. Kleine Sprünge versprühen den Charme der Keckheit.
Ein tadelloser, wunderhoher Spagatsprung aus dem Stand ist dann auch noch dabei – und eine so geradlinige Fröhlichkeit und liebevolle Haltung, dass man meint, der Frühling in Person käme hier mit pinkpflaumigfarbenem Shirt in Fahrt.
Bravissimo, Marcelino!
Viel verzwickter hingegen ist die getanzte Beziehung von Matias Oberlin und David Rodriguez. Sie kuscheln und lamentieren, sie erstarren gemeinsam, sind ratlos; einer besteigt den anderen – notgeiler Sex zur gegenseitigen Beruhigung ist das wohl, ohne die notwendigen Rhythmen allerdings. Soll das Trost sein? Kann das Trost sein? Oder ist es nur Gewohnheit, traurig und steinern in Fels gemeißelt?
Wenn die zwei mal zum Stehen und Tanzen kommen, geht es besser, aber auch dann hat man den Eindruck, das Klammern gehöre zur Jungensbeziehung. Etwas mehr Luft zum Atmen – also Abstand – täte da sogar gut!
Viel braver, sogar zu brav verhalten sich dagegen die Mädchen. Sie tauchen oft in nett anzusehenden aufgereihten Scharen auf, wobei sie kostümlich jeweils zusammen passen.
Eine Gruppe gelb gewandeter, flatterhafter Girls impliziert sommerliche Schmetterlinge.
Die Mädels in hellem Bleu sind dann mal zu dritt, mal sieben an der Zahl. Ihnen geht die Puste nie aus, sie hüpfen und walzern und tänzeln und schreiten so leicht, dass man sie offenbar gerade aus der Wellnesszone für Nixen geholt hat.
Besonders grazil: Giorgia Giani, die sich für keinen noch so zierlich-verhaltenen Schritt zu schade ist, um was aus ihm zu machen. Top!
Es gibt eben auch solche Geister!
Die Kostüme hier sind aber nicht neu. Sie entstammen alle dem Fundus, denn John Neumeier entschied, dass keine Energie für unter Schutzmaßnahmen nur schwer durchzuführende Ankleideproben zu verschwenden sei.
Da nun aber auch choreografisch nicht selten mit Versatzstücken aus dem Repertoire gearbeitet wird, passen die textilen Grüße exzellent zum Thema des Abends.
Emilie Mazon darf denn auch mal als Marie aus dem „Nussknacker“ auftauchen, sogar ihren Titelhelden, den kleinen Holzmann, hat sie dabei im Arm. Und sie wandelt staunend unter den Tanzenden umher – der Abstand wirkt da ganz natürlich.
Mazon ist es auch, die als Einzige mal mit dem Geisterlicht spielt. Sie geht darauf zu, stutzt, schaut es neugierig, aber auch skeptisch an – und akzeptiert die Warnung, die es versinnbildlichen soll, ganz bewusst nicht. Aber für einen Moment überlegt sie, ob sie besser gehen solle – um dann erst recht zu bleiben. Sehr toll gespielt!
Mit Mazon steht ohnehin eine Rebellin des Balletts vor uns, die ihren abstrakten Parts beim Tänzeln nach Schubert-Musik eine gewisse Kontur verleiht. Persönlichkeit nennt man das – und auch Mut. Brava!
Die zarte Xue Lin tanzt ebenfalls mit allem Einsatz, ganz klar und puristisch und somit im Gegensatz etwa zu Mazon, aber eben auch hoch interessant. Sie und auch Ana Torrequebrada, die im kurzen Probenröckchen auftritt, erinnern nolens volens an Neumeiers geniale Schubert-Arbeit von 1977, also an das „Streichquintett in C-Dur von Franz Schubert“, das zum legendären Programm-Abend „Wendungen“ gehörte.
Silvia Azzoni hingegen, die ewig Anmutige, enttäuscht sowohl als La Sylphide mit Blütenkranz im Haar als auch in einem unvorteilhaften rosa Leotard. Irgendwie scheint ihr nicht ganz klar zu sein, was sie tanzen soll. La Sylphide aus „Nijinsky“, diesem absoluten Jahrhundert-Ballett von John Neumeier? Oder nur deren Geist? Und dann: sich selbst? Aber wer ist sie, wenn sie mit Alexandre Riabko, ihrem Mann, auf der Bühne steht?
Das Ghost Light wirkt dann gelegentlich wie einer Straßenlaterne. Mann und Frau treffen sich unter ihr, wissen aber nicht wirklich, was sie voneinander wollen.
Riabko hat es da noch am einfachsten. Er hat seine Titelrolle aus „Nijinsky“ am Körper (das Anzug-Kostüm) – und im Kopf sprich in den Armen. Seine Ports de bras sind dem Ballett über den schizophren gewordenen Superballerino der Ballets Russes entlehnt, jenem Neumeier-Ballett, das auch als DVD Furore macht.
Das Leiden an der Welt steht hier im Vordergrund.
Und ein Alexandre Riabko kann das immer toll tanzen, gerade mit kleinen, effizient eingesetzten Bewegungen.
Wenn er hingegen zwei Flugrollen veranstalten muss und dabei mit vollem Karacho auf den Boden knallt, dann fehlen dazu einfach die Orchesterklangfarben, um das zu unterstützen oder auch um die Aufprallgeräusche des fliegenden Körpers zu überdecken.
So ein bisschen Schubert-Geklimper passt da beim besten Willen nicht – es wirkt gewollt und nach Zirkus, wenn zu sanfter, plätschernder Musik oder auch in die Stille solche akrobatischen Fallnummern kommen.
Das Fallen ist auch eine Metapher an sich hier.
Der schon im Vorfeld der Premiere berühmt-berüchtigt gewordene Pas de deux zwischen Primaballerina Madoka Sugai und ihrem Freund Nicolas Gläsmann beginnt mit ihr und einem anderen Mann – dieser aber fällt voll nach vorn, nachdem er wenige Kontaktschritte mit ihr hinter sich hat.
Gläsmann taucht auf – und sofort geht die Liebe los. Es ist ein akrobatisch sehr interessantes Werk, das hier als Paartanz entstand, halsüberkopf formuliert sich die ernsthafte Verliebtheit und auch das Vertrauen zwischen den Partnern.
Er hebt sie oftmals weit hoch, sie steht in der Luft wie eine Königin – und er dreht sich und geht mit ihr, als sei sie leicht wie eine Feder.
Aber letztlich, als sie wieder Bodenhaftung hat, fällt auch er Knall auf Fall vornüber auf den Boden – diese Frau scheint ihren Partnern kein Glück zu bringen.
Wenigstens ist es wohl nichts Ernstes – oder nur die Angst vor Corona, nicht das Virus an sich – und wir sehen, dass er weiter lebt.
Ein grandioser Pas de deux sieht dennoch anders aus. Hier könnte noch nachgearbeitet werden – etwas, das Neumeier-Tänzer hoffentlich eher gern als nicht so gerne hören.
Den Höhepunkt der Liebeskunst im Paartanz verbuchen, wie könnte es anders sein, Anna Laudere und Edvin Revazov für sich. Sie schaffen es auch, vom nur Geisterhaften wegzukommen und ihren Figuren Fleisch und Blut zu verleihen.
In moderner Kledage tanzen sie ein modernes Paar, das sich einerseits vorzüglich füreinander eignet, andererseits aber auch voneinander fortstrebt.
Schließlich will sie gehen, aber er stellt sich ihr in den Weg. Dann verlässt sie ihn doch – und kommt später zu ihm zurück.
Was davon Traum und was Wirklichkeit ist, was der Geisterwelt und was der realen Theaterwelt zuzurechnen ist, darf man selbst entscheiden.
So ein Hin und Her soll es bei labilen Menschen jedenfalls des öfteren geben, beneidenswert sind sie darum nicht, aber es ist spannend, ihnen bei ihren kleinen Beziehungskatastrophen zuzusehen.
Eine eher symbolhafte Pose für ihre Beziehung zur Welt im Allgemeinen und zu Männern im Besonderen nimmt Patricia Friza ein, die derzeit wohl am meisten vom Chef Neumeier geliebte Muse.
Ihr Stil – irgendwo zwischen magerem Suppenhuhn und „moderner“ Hausfrau angesiedelt – scheint seinem durchaus kritischen heutigen Frauenbild am nächsten zu kommen. Naja, es ist wohl auch gar nicht mal so falsch – nicht wenige Frauen definieren sich über ihre Herkunft oder ihre Verheiratung, aber nicht über das, was sie selbst sind.
Tatsächlich gelingt es der Friza regelmäßig, das masochistische Leiden ebenso gut darzustellen wie die heftige Abwehr dessen – ob als Opfer in „Le Sacre“ oder als Dolly in „Anna Karenina“.
Zwischen beiden Figuren ist ihr Part in „Ghost Light“ angesiedelt, angereichert von einer Prise „Matthäus-Passion“, und manchmal sieht es verdammt gut nach „Le Sacre“ aus, den sie im übrigen auch in „Nijinsky“ tänzerisch ausgiebig zitieren darf.
Welche Rolle sie aber im Gesamtgefüge des Stücks „Ghost Light“ hat, bleibt offen.
Das ist bei folgendem Jungsduo anders: Karen Azatyan und Atte Kilpinen (für Alexandr Trusch) zanken sich. Fast folkloristisch, fast etwas derb rangeln die beiden, und wenn es um einen Stuhl geht, umso besser!
Aber das Tanzen versöhnt sie rasch, und aus Rivalität wird Freundschaft. Das könnte tatsächlich auf wahre Ballettverhältnisse zurückgehen – in einem Ensemble zu tanzen, heißt nicht, dass es beziehungsmäßig immer einfach ist.
Auch Félix Paquet – im Holzfällerhemd aus der „Glasmenagerie“ – und Christopher Evans – ganz als existenzialistischer Prinz in Schwarz gekleidet – machen Höhen und Tiefen einer Männerfreundschaft durch. Synchrone Hochsprünge inbegriffen!
Am Ende sitzt Primoballerino Christopher Evans besinnlich unter dem Geisterlicht, als wäre er daheim bei seiner Stehlampe. Erwartung spielt auf seinem Gesicht – und die Geister, die er in Gedanken wohl rief, treten aus den Seitengassen, es sind die anderen Tänzer.
So versöhnlich kann ein Spiel mit Geistern also sein – in New York City brennen derweil in 23 Theatern die Ghost Lights, und zwar Tag und Nacht.
Hoffen wir, dass bei den nächsten Wahlen in den USA nicht wieder die irrationale Angst, sondern die Vernunft und das Verstehen gewinnen. Dann wird es hoffentlich auch dort bald Atempause für die Geister geben, dank eines besseren Covid-19-Managements – für Aufführungen in den Theatern, wie es sie in Deutschland zunehmend geben wird.
Wir danken allen, die diesen Kunstgenuss hier und jetzt mit Achtsamkeit ermöglichen!
Gisela Sonnenburg
P.S. Im Oktober 2020 präsentierte das Hamburg Ballett im Festspielhaus Baden-Baden die erneuerte Version des Stücks, zur Rezension bitte hier: http://ballett-journal.de/hamburg-ballett-arte-ghost-light-john-neumeier-live-stream/
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