Neulich fand ich beim Aufräumen eine goldene Spange mit kreisrundem Lochmuster, die original von 1970 und aus Spanien stammt. Sie befindet sich seit vielen Jahren in meinem Besitz, ich habe sie aber nur selten getragen. Sie sieht fast aus wie neu, das Metall glänzt, als sei es echtes 18-karätiges Gold (was es nicht ist), und das Design ist wirklich originell. Ein spanischer Traum von Haarspange also! Fast zeitgleich verkündete mir ein netter, nicht mehr ganz junger Mann, er werde nach Spanien fliegen, um „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier mit dem Hamburg Ballett open air und unter freiem Sternenhimmel zu erleben. „Ich werde berichten!“, versprach er. Ich war sofort Feuer und Flamme. Die Magie meiner spanischen Schnalle wirkte. Und es meldete sich sogar noch jemand, der hinfliegen wollte, triumphierend über sein Ticket. Die Stadtburg Alhambra in Granada / Andalusien gilt übrigens als schönstes Sinnbild früher islamischer Architektur, und die Gärten dort sind so gepflegt wie sonst kaum wo. Hier lernen die Gedanken tänzeln, könnte man sagen. Gestern und vorgestern war es dann soweit: Das Publikum erlebte eine Verbindung zwischen Kunst und Natur, wie man sie nur selten genießen kann. In den Gärten der ehrwürdigen Alhambra, wo eine Freilichtbühne aufgebaut ist, wuchern rechts und links in sattem Grün die Bäume und Büsche, und über allem wacht der spanische Nachthimmel. Um jeweils 22.30 Uhr Ortszeit begannen bei tiefer Dunkelheit der Nacht die Hamburger Vorstellungen im Rahmen des Granada Festivals.
Nachtvorstellungen haben ja sowieso ein ganz spezifisches Fluidum, denn man ist so spät am Abend schon leicht ermattet vom – heißen – Tag, und dann reißt einen die Kunst – hier im Verein mit Naturgeräuschen wie dem Rauschen des Windes in den Blättern – rasant aus der Müdigkeit heraus. Das gilt für Künstler wie für Zuschauer.
Wenn sich nicht beide aus Vorfreude auf die Vorstellung bereits im Hormonrausch befinden. Das sind dann die Momente, in denen sich alle Mühe, alle Anstrengungen lohnen.
Mit den teils romantisch-klassizistisch, teils hypermodern inspirierten Bühnenbildern und Kostümen von Jürgen Rose, mit dem edlen Spitzentanz der Damen, den romantischen Nebelschwaden und dem bunten Licht sowie mit hervorragendem Tanzspiel auch und gerade des Corps de ballet war denn auch alles, wie es sein sollte.
Manchmal wirkt so ein großes Handlungsballett ja beinahe unheimlich, weil alles wie am Schnürchen abläuft und die Geschehnisse auf der Bühne so schnell und doch deutlich vorbeiziehen.
Hier sausten noch ab und an Fledermäuse durch die Luft – und zur Musik ertönten zusätzlich fleißig zirpende Grillen. Natur und Kunst, wie gesagt… ein gelebter Traum.
Bei den Liebesverlangungen im Stück, bei den durch Verzauberung mittels einer mohnartigen Blume ausgelösten Verwirrungen, bei all dem Auf und Ab in der getanzten Handlung und den vorzüglich ausgeführten Hebungen und Sprüngen kann einem ja auch eh schon nur vom Zuschauen fast schwindlig werden.
John Neumeier erweist sich in dieser seiner Inszenierung und Choreografie einmal mehr als Shakespeare des Balletts. Für nicht wenige Ballettfans ist es das liebste Stück, das sie nicht oft genug sehen können.
Und lachen muss man so oft in Neumeiers Meisterwerk! Es soll Leute geben, die wirklich Ströme von Lachtränen beim „Sommernachtstraum“ vergießen. Poesie, Erotik und Humor feiern hier ein Bündnis sondergleichen! Es jetzt als Freilichttheater anzusiedeln, hat bei einem Stück, das zum Teil an einem ägyptischen Hof, zum Teil in einem Zauberwald spielt, natürlich besonderen Reiz.
Puck und die Elfen fanden so heim zur realen Natur, und die Herrschaften Hippolyta, Theseus, Hermia, Helena, Lysander und Demetrius kamen in einem vornehm-mediterranen Gefilde an, das vom Flair her dem Originalschauplatz des Shakespeare-Stücks im ägyptischen Theben sehr ähnlich ist.
Die Besetzung ähnelte jener, mit der das Stück als DVD und BluRay erschien: Anna Laudere und Edvin Revazov in den Doppelhauptrollen der beiden Herrscherpaare über die Menschen wie über die Elfenwelt, dicht gefolgt von Alexandr Trusch, dem Unvergleichlichen, als ihr Gespiele, mal als Puck und mal als Philostrat.
Dann Jacopo Bellussi, der Schöne, als Gärtner Lysander und Madoka Sugai, die Alleskönnerin, als in ihn Verliebte Hermia. Des weiteren Karen Azatyan, der Männliche, als komischer Militär Demetrius mit der süßen Xue Lin als sein Mädel Helena.
Nicht zu vergessen die putzigen Handwerker, angeführt von Mathias Oberlin als Zettel und Borja Bermudez (der das Hamburg Ballett leider zum Spielzeitbeginn verlässt) als Flaut und en travestie als Thisbe.
Soweit war alles in Butter oder auch in Olivenöl: Die Show wirkte fantastisch unter freiem Himmel, und dass es nun mal keine Live-Musik geben konnte, wurde durch eine solide Einspielung aus der Heimat Hamburg kompensiert.
Der Applaus toste entsprechend.
Nur mein erster freiwilliger Reporter meldete sich nicht mehr. Er blieb verschollen, war wohl dem berüchtigten spanischen Virus des Partyfeierns verfallen, ohne dass ihn eine gute Fee in Rosengestalt – wie in Neumeiers erneuerter „Dornröschen“-Version – aus dem gewöhnlichen Genussrausch in höhere Sphären entführte.
So hat meine spanische Goldschnalle zwar einen gewissen Hauch von Zauberkraft bewiesen, aber nicht genügend, um Menschen vor dem Absturz zu bewahren. Da müssen wir wohl noch üben. Bis zur Eröffnung der kommenden Spielzeit im September 2023 wird das was werden!
Gisela Sonnenburg / Anonymous