Wenn die Musik intim wird Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

"Beethoven-Projekt II" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Wie von einem Bildhauer geformt: Jacopo Bellussi (stehend) und Aleix Martínez vom Hamburg Ballett im „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Die Stimmung ist gehoben. Festlich. Feierlich! Für Fans vom Hamburg Ballett gleichen diese Tage jenen legendären Momenten, in denen Weihnachten und Pfingsten auf einen Tag fallen, wie man so sagt. Endlich gibt es wieder Tanz live, endlich wird wieder auf der Bühne in echt und vor Publikum – hochkarätig und mit Herzenslust getanzt und musiziert. Und: Endlich gibt es wieder ein neues Ballett von John Neumeier! Lange mussten wir darauf warten. Denn die Corona-Krise hat das „Beethoven-Projekt II“, das eigentlich im letzten Dezember zum 250. Geburtstag des Komponisten hätte uraufgeführt werden sollen, fast verunmöglicht. Es gab sieben weitere avisierte Premierendaten, die alle ins Wasser fielen bzw. der Pandemie geopfert wurden. Seit Oktober 2020 hob sich in der Hamburgischen Staatsoper nur noch bei Proben der Vorhang. Aber jetzt! Jetzt kommt Ballettboss John Neumeier auf die Bühne und verkündet, dass er mehr als nur glücklich ist, sein Publikum wieder bei sich zu haben. Über die zurückliegenden Monate, die außer mit Ängsten mit Arbeit, Plänen und Absagen und wieder  mit neuer Arbeit angefüllt waren, sagt er: „Wir waren in Bewegung, aber es war niemand da, um bewegt zu werden.“ Man darf vor Rührung weinen. Vor der Vorstellung, während der Vorstellung und danach. Es sind bewegende Tänze, die man erlebt, und das Zurückkommen ins Opernhaus – das für viele Menschen der wichtigste Ort der Welt ist – ist ein bedeutendes Ereignis.

Die Bühne ist hellblau ausgeleuchtet. Knapp am Himmelblau vorbei. Eine deutliche Ahnung von Melancholie schwingt mit. Links steht das Klavier. Es gibt einen hellen Tanzteppich auf schwarzem Grund. Sonst gibt es jetzt kein Bühnenbild. Purismus ist das neue Maß aller Dinge. Dann geht das Licht aus. Als es wieder angeht, befinden wir uns in Gefilden mit harten Schatten, die nur punktuell beleuchtet sind.

Die Welt auf der Bühne ist ein Paralleluniversum, in dem Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen und bis auf die Essenz der menschlichen Beziehungen kondensieren.

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Aleix Martínez und Hélène Bouchet im „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett: faszinierend! Foto: Kiran West

Licht und Choreografie, beides von John Neumeier, gehen hier mustergültig zusammen, sie ergänzen einander und kreieren die situativen Stimmungen, um die es hier geht.

Gemeinsam agieren sie mit der Musik und gegen die Musik. Und – ohne die Musik.

Der neue Neumeier beginnt mit Stille. Aleix Martínez, noch aus dem „Beethoven-Projekt“ von 2018 als rasante tänzerische Neuverkörperung von Ludwig van Beethoven und zugleich als Alter ego des Choreografen gut in Erinnerung, sitzt am Klavier. Aber es kommt kein Ton. Er scheint zu spielen – und wir alle hören, was Beethoven mit Ende vierzig hörte: nichts.

Der junge Mann klopft aufs Holz des Pianos. Schon mit 27 Jahren hatte Beethoven gravierende Gehörprobleme. Langsam wurde das einstige Wunderkind, das mit 7 Jahren sein erstes Konzert gegeben hatte, taub. Für einen Pianisten, Dirigenten und Komponisten war das eine schier unaussprechliche Katastrophe, zumal in einer Zeit, die noch keinerlei wirksame Hilfsmöglichkeiten bot.

Eine junge Frau, die Tänzerin Yaiza Coll, steht Beethoven-Martínez bei. Kein Wutausbruch erfolgt. Sondern die Bereitschaft, sich in ein immer schwerer werdendes Leben einzufinden.

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Mari Kodama am Piano, Anton Barachovky an der Violine, Aleix Martínez und Jacopo Bellussi im jüngsten Neumeier-Werk „Beethoven-Projekt II“ in Hamburg. Foto: Kiran West

Im lindgrünen Kostüm erscheint, mit der Anmutung einer Tänzerin, die Pianistin Mara Kodama. Sie, die Gattin des glamourösen Dirigenten des Abends, Generalmusikdirektor Kent Nagano, kann als Perfektionistin der Poesie gelten. Mit zarter Hand entlockt sie dem Piano die sensibel zu Klangkaskaden geformten Töne – aber erst, nachdem ihr aus Tänzerinnenhand die Noten übergeben wurden.

Die Ballerina Madoka Sugai trägt übrigens ebenfalls Lindgrün, sodass die beiden Damen wie Geschwister auf der Bühne wirken.

Dann entspinnt sich der innere Handlungsverlauf dieses Balletts. Es gibt keine klar verteilten Rollen. Aber deutlich ist, dass Aleix Martínez sowohl Beethoven als auch eine Möglichkeit von John Neumeier darstellt. Oder auch ganz einfach einen Menschen, der um seine berufliche Existenz fürchten muss.

Hélène Bouchet, diese außergewöhnliche Ballerina, die mit festem Sinn und grandioser Anmut ein modernes Vorbild von Weiblichkeit bietet, ist hierin die Hauptpartnerin. Sie trägt ein zipfeliges, dennoch zeitlos schönes Kleid in einem grau gebrochenen Blau, das den Schimmer von Rohseide hat.

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Hélène Bouchet in den Armen von Beethoven-Darsteller Aleix Martínez beim Hamburg Ballett. Foto vom „Beethoven-Projekt II“: Kiran West

Wie die „unsterbliche Geliebte“ – mit der Ludwig van Beethoven eine jahrelange Liebschaft unterhielt, die nicht nur von persönlichen Treffen, sondern auch von unzähligen Briefen genährt wurde – bietet diese Ballerina Trost und Nähe. Und doch ist die Beziehung nicht ohne Ecken und Kanten, im Gegenteil. Sie ist voller Abgründe aus Verlassens- und Verlustschmerz.

Mit Jeans und im schwarzen T-Shirt verkörpert Martínez eben diesen leidenden Mann und Künstler, und es könnte, es muss aber nicht zwangsläufig immer John Neumeier sein. Er ist auf jeden Fall jemand von heute, jemand, der sein Leben zwar fest im Griff hat und der scheinbar nicht so existenziell bedroht ist wie Beethoven – und der dennoch leidet. Qualen machen vor niemandem automatisch halt.

Später wird dieser Mensch sich vervielfachen, bis zu siebzehn Mal sehen wir dann die Jeans-‘n-black-shirt-Kluft als Ballettkostüm für junge, attraktive Tänzer. Und man muss sich ertappt fühlen: Ist es nicht ein heimlicher Traum eines jeden, einer jeden: sich selbst zu vervielfachen?

Das Ähnlichkeitsprinzip, das Studien nach bei der Vergabe von Posten und Jobs stärker ist als die Ratio, steckt tief in uns, ist wohl Teil des Selbsterhaltungsapparats.

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Schön und leidend: Aleix Martínez im „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Das neue Glanzwerk von John Neumeier kann sich da sowohl Bekenntnis als auch sanfte Ironie leisten. Insgesamt vereint es auf generöse Weise freie Assoziationen zu Leben und Werk des Komponisten Ludwig van Beethoven mit persönlich-autobiografischen Reminiszenzen des Choreografen John Neumeier.

Vor allem das Credo, das im zweiten Teil namens „Tanz!“ steckt – und der „Tanz!“ ist sowohl subjektivisch als auch als Aufforderung zu sehen – bezeugt, dass Neumeier hier auch ab und an sein Innerstes preisgibt, metaphorisch verschlüsselt zwar, aber es geht im Großen und Ganzen um die Wahrheit, nicht um Lüge.

Aber kann man das machen? Kann man das 18. und 19. Jahrhundert mal eben mit dem 20. und 21. Jahrhundert vermählen? – Man kann. Wenn man choreografieren und inszenieren kann wie John Neumeier.

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Das „Beethoven-Projekt II“, das neue Ballett von John Neumeier, vereint ausdrucksvolle Zuckungen und Posen. Hier Aleix Martínez in der Hauptrolle. Foto: Kiran West

Welch ein Zeitensprung, welch eine Bildermacht ergibt sich hier, ganz ohne Kulissenschieberei: Gaze-Vorhänge und eine Rahmenkulisse trennen zwar später das hinten auf der Bühne befindliche Orchester von der vorne gelegenen Tanzfläche. Und oberhalb des Orchesters ist links eine Galerie angebracht, auf der mal ein Klavier steht, in der aber auch getanzt werden kann.

Bühne frei, das heißt hier: Wandelt die Bühne in Freiraum für Tänze!

Heinrich Tröger, der Bühnenbildner, musste sich auf vieles einlassen und manches doppelt und dreifach designen, weil die Corona-Pandemie so viele Pläne über den Haufen warf. Das, was geblieben ist, sitzt auf den Punkt.

Im ersten Teil des Abends, der sowohl anheimelnd wie auch etwas bissig „Hausmusik“ betitelt ist und somit auch leicht sarkastisch ans Jammertal der Lockdowns erinnert, geht es trotz der musikalischen Auswahl von betont ernsthaft anmutenden Stücken um kein flottes, verschnörkeltes Klassikthema – sondern um das Leben selbst als Leid.

Das erinnert einerseits an die künstliche Verknappung des Seins, wie wir sie jetzt im Corona-Zeitalter erleben, und andererseits an das Erleben der zunehmenden Schwerhörigkeit bei Ludwig van Beethoven.

Immer wieder greift sich Aleix Martínez an die Schläfe, an die Ohren, an den Kopf. Immer wieder scheint es ihm nicht wahr zu sein, dass er kaum noch oder nicht mehr hört.

Verzweifelte Sprünge – virtuos ausgeführt – wechseln mit traurigem Hängenlassen des Kopfes, der Arme. Wo ist Licht in dieser finsteren Welt?

Diesem Mann wird unter Höllenqualen alles zu Lärm und aller Lärm zur Stille. Wer jemals eine Depression hatte, mag sie hier ebenfalls erkennen.

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Ludwig van Beethoven in einer zeitgenössischen Darstellung, die im Beethoven-Haus in Bonn bewahrt wird. Faksimile/Programmheft „Beethoven-Projekt II“ vom Hamburg Ballett: Gisela Sonnenburg

Trost bieten einzig Freundschaft und Liebe, gesellschaftliche Anlässe werden hingegen zur Folter. Das Daheimbleiben als stets beste Lösung, als erzwungener Rückzugsort, als Hort des Lebens wie des Leidens.

Mögen die anderen Sekt trinken – Lakaien mit weißen Turbanen tragen sektglasbeladene Tabletts auf die Bühne, die von den Ensembledamen dankend begrüßt werden – so ist das Dasein für Beethoven doch ein viel existenzialistischeres.

Umso mehr Bedeutung erhalten die lebendigen Beziehungen, die er pflegt.

Außer den stilvoll-innigen, auch raffiniert mit Hebungen und – jawohl – Senkungen angereicherten Paartänzen mit La Bouchet erwartet Martínez aber auch eine Serie ausdrucksstarker Pas de deux mit einem anderen Mann.

Auch er spendet Trost, mehr noch: gibt Halt, wortwörtlich.

Und: Er lässt Martínez-Beethoven-Neumeier nicht allein, was die Geliebte-Bouchet sich immer wieder einfach herausnimmt. Nach den wahrhaftigsten Begegnungen verlässt sie Beethoven, lässt ihn mal wörtlich sitzen, mal einfach stehen, mal haut sie kopfüber ab, mal schleicht sie sich von dannen. Er ist ihr eben manchmal zu viel oder auch zu wenig – und sie braucht dann offenbar eine Pause von ihm.

Doch Beethoven lechzt nach ihr, greift aber ins Leere. Da ist Hilfe und Rettung durch einen  Freund dringend notwendig!

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Aleix Martínez und Jacopo Bellussi bei der schönsten Freundschaftspflege à la „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Jacopo Bellussi steht da mit all seinen Merkmalen eines First-class-Ballerinos: wie ein Fels in der Brandung. Er ist es, der kommt, wenn der Freund ihn braucht. Er braucht kein Top, er zeigt seine Stärke.

Und er ist es, der den Freund hält, er leitet ihn, er hebt ihn, trägt ihn, wirbelt ihn durch die Luft  – als wäre Martínez leicht wie eine Feder. Was für tolle Männerbünde, da wird frau ein wenig neidisch.

Die Figurinen, die sich aus den beiden Jungs ergeben, wenn sie wie ein einziger Organismus eine Balance suchen und finden, wenn sie sich verhaken und verkanten oder einfach einer den anderen lenkt, sind von erlesener Schönheit.

Bellussi absolviert eine Promenade auf ganzer Sohle, das linke Bein in einer formschönen Attitüde gehalten – und währenddessen hält und dreht er auch noch Aleix Martínez. Was für ein Duett!

Neumeier als Bildhauer am lebenden Objekt – diesen Eindruck hat man nicht zum ersten Mal beim Hamburg Ballett, aber ganz besonders intensiv, wenn Aleix Martínez und Jacopo Bellussi der Männerfreundschaft ein tänzerisches Gesicht geben.

Doch auch die Einsamkeit, in die Beethoven aufgrund seiner Erkrankung immer wieder zurückfällt, ist drastisch anrührend gezeigt.

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Aleix Martínez und seine Doubles – Beethoven ist einsam, obwohl er nicht allein ist. So zu sehen im „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Fulminant wird das von Martínez gesprungen, gezappelt, gelitten, gelebt. Es ist ja kein Zufall, dass er auch in Neumeiers „Beethoven-Projekt“ von 2018 die Titelfigur tanzte. Schon damals changierte die Rolle zwischen einer Selbstreflexion Neumeiers und seiner Analyse von Beethoven. Jetzt hat sich der Anteil des Leidens darin fast verselbständigt – unschwer lässt sich immer wieder der Einfluss der Corona-Pandemie erkennen, wenn man über die Szenerie nachdenkt.

Und da mag das Ensemble noch so freudig erregt springen und körperlich tirilieren, Beethoven umgarnen oder einfach umgeben, und zwar paarweise, in Gruppen oder als Einzelpersonen: Beethoven ist durch seine Krankheit bitterst allein.

Er muss sein Schicksal akzeptieren, will er nicht untergehen.

Es ist ein Leben voller Kontraste, voller Härten, aber auch voller Wunder.

Die Musik hat Beethoven für Vieles entschädigt, auch, als er sie nicht mehr anders als mit seinem inneren Gehör, mit seiner Vorstellungskraft, hören konnte.

Die pointierten, weichen Klänge, die er schuf, bilden auch hier eine schier unerreichbare Messlatte der Klassik.

Mari Kodama wurde schon als exzellente Beethoven-Interpretin erwähnt. An der Violine brilliert in der einleitenden Musik der Sonate für Klavier und Violine Nr. 7 c-moll op. 30, Nr. 2, zudem Anton Barachovsky.

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Ergreifend: Klaus Florian Vogt (links) und Aleix Martínez (am Boden) im „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Und wo szenisch das tiefste Leid empfunden wird, formuliert auch die Musik einen Höhepunkt kultivierter Passion: „Christus am Ölberge op. 85“ ist das einzige Oratorium, das Ludwig van Beethoven verfasste. Und es hat so viel in sich!

Es formuliert das Leid Christi, als er erkennen muss, dass er allein die Sünden der Menschheit auf sich nehmen wird. Er spricht in der Arie mit seinem Gottvater, Jehova, verlangt, dass dieser ihm Stärke gibt – und spricht aus, was ihn bewegt: „Ich leide sehr, mein Vater!“ Und weiter: „Meine Seele ist erschüttert von den Qualen, die mir dräu’n.“ Bis zu: „Nimm den Leidenskelch von mir!“

Klaus Florian Vogt, dieser überaus stimmlagenbegabte Sänger, macht aus diesem Stück Gesang ein Fest für sich. Tatsächlich hat man ihn so gut vielleicht noch nie gehört. Er muss geprobt haben wie für drei Wagner-Opern auf einmal. Das Ergebnis ist umwerfend schön!

Ganz demütig und dennoch standhaft gibt Vogt eine wirklich angenehme Erscheinung auf der Bühne ab. Anders als in seinen Heldenrollen wie als „Lohengrin“ oder in „Die tote Stadt“ (zu beidem finden sich Rezensionen im Ballett-Journal) ist sein Part hier nicht dramatisch. Ruhig steht er da, schaut ernst drein, legt alle Kraft in die Stimme.

Kindhaft, dennoch männlich, klar, dennoch emotional – so schätzt man Vogts Vocals, und die Kraft dieser menschlichen Stimmschönheit fließt auf wunderbare Weise mit ein in das Gesamterlebnis vom „Beethoven-Projekt II“.

Aleix Martínez zuckt dazu, quält sich am Boden, versteckt sich scheinbar hinter einem dieser  durchsichtigen Plexiglas-Stühle, die es seit „Anna Karenina“ häufiger in Neumeiers Stücken gibt.

Der Künstler als Gotteskind, als Sühnender, als Sündenbock – als Leidender per se.

Aber was wäre eine schöne Stimme, was wäre schöner Tanz ganz ohne Orchester?

Kent Nagano leitet sein Philharmonisches Staatsorchester Hamburg endlich – nach so langer Pause – wieder vor Publikum in der Oper, und die Kaskaden perlen, wie es sich gehört.

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Heiße Sprünge im zweiten Teil vom „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier mit Atte Kilpinen und dem Ensemble vom Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Im zweiten Teil, eben „Tanz!“ überschrieben, steigert sich zudem die „Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92“ zu einem tänzerisch unerhört schönen Fest des Lebens.

Zuvor jedoch zählt noch einmal das Klavier ganz viel. Die nach ihrem Mäzen so genannte „Waldstein-Sonate“ („Klaviersonate Nr. 21 C-Dur op. 53“) lässt die Tänzer:innen noch einmal das pralle irdische Leben trotz aller Komplikationen und Traurigkeiten auskosten.

Schmerz wandelt sich in die Bemühung, ihn zu überwinden.

Vier Paare – die Damen in warmem Knallgelb, die Herren in frivolem Schwarz – zelebrieren hier das Leben, weil sie wissen, dass es endlich ist.

Die Kostüme von Albert Kriemler vom Modelabel AKRIS und das indes wegen der Pandemie nur spärlich zu sehende Bühnenbild von Heinrich Tröger betonen die Bedeutsamkeit der Atmosphären, wie sie allein von den Tänzer:innen ausgehen.

Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann, Yaiza Coll und Marc Jubete, Patricia Friza und Matias Oberlin sowie Yun-Su Park und David Rodriguez stehen hier mit voller Wucht für die Gesamtheit derer, die ungehindert Leben leben wollen.

Das lebendige Gelb der Damen – das sich auch manchmal im Licht wiederfindet – und die schwarze Sexiness der Herren bilden genau jenen Kontrast, von dem man sagen kann: Gegensätze ziehen sich an.

"Beethoven-Projekt II" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Auch in Rot tanzen die Damen: Im „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Auch Beethoven setzte oft auf Kontraste, um bestimmte Effekte zu erzielen und die unterschiedlichen Ebenen einer Musik deutlich zum Vorschein kommen zu lassen.

Ob dunkle Akkorde oder helle Läufe:

„Die Musik wird intim“ – diese Erfahrung will John Neumeier mit seinem „Beethoven-Projekt II“ vermitteln. Und das gelingt ihm, gerade weil er nicht jede Note einzeln vertont.

Gänsehautmomente und ein freier Fantasielauf sind da die Garanten.

Neumeier übernimmt Stimmungen der Musik oder er reibt sich an ihnen; er ersinnt den Tanz als neue Stimme dazu; er lässt die Gefühle und Bilder sprechen, die die Musik in ihm erweckt. Die Musik ist jener Strom aus rhythmisch-melodischer Energie, die uns alle verbindet. Das macht das „Beethoven-Projekt II“ fasslich. Die subjektiven Vorstellungen, die sich dabei ergeben, sind das Intime, das Eigentliche, das Wesenhafte, das in Choreografie umgesetzt wird.

Es ist die Authentizität, die John Neumeier zu einem der größten Genies aller Zeiten macht.

Die Pause wird bewirtungslos mit mehr Ruhe als sonst verbracht. Maßvoll und puristisch zu sein – diesen Wert lehrte uns die Epidemie besonders.

Danach, im zweiten Teil, zeigt sich die Macht der Fantasie.

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Das „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier überrascht im zweiten Teil mit Ausgelassenheit und Frohsinn: Ida-Sofia Stempelmann und Atte Kilpinen tanzen hier. Foto: Kiran West

Ida-Sofia Stempelmann liegt wie ein modernes Dornröschen auf dem schiefersteinigen Dirigentenpodest. Als Kent Nagano eintritt, erwacht sie – und freut sich ihres Lebens mit einfachen, aber rasant ausgeführten Bewegungen.

Aus dem Schnürhimmel fallen Notenblätter der Partitur. Die junge Tänzerin sammelt sie ein und überreicht sie dem Dirigenten – Applaus flammt auf für diese von Neumeier so liebevoll inszenierte Geste.

Doch der Kern dieser in Tanz umgesetzten „Sinfonie Nr. 7 a-dur op. 92“ von Beethoven ist ein anderer. Es ist der ewige Traum von der Jugend, von den Jugenderinnerungen, es geht um die Kraft, die man aus diesen bezieht.

Beethoven (also Martínez) sieht sich jung, schön und wild im schwarzen Seidenrock auferstanden; als Jugendausgabe seiner selbst wird er exzessiv und großartig von Atte Kilpinen getanzt.

Zusammen mit der zünftigen Ida-Sofia Stempelmann wirbelt er in Volkstanzmanier durch die Reihen der im Gleichmaß Glücklichen. Welch einen Unterschied macht es, ob man tief leidet und auch das Glück so tief empfindet – oder ob man um den maßvollen Punkt Null herum stehen bleibt.

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Verschiedene Glücksentwürfe sind im „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier zu sehen. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Dazwischen blitzen viele Facetten von Lebens- und Erfahrungsmöglichkeiten auf.

Die Tänzer:innen hier sind nicht nur Formationen bestimmter Figuren. Sie alle bringen sich selbst mit ein, prägen ihre Parts darum persönlich.

Und weitere Paare illustrieren darum das von Beethoven erträumte Glück. Dabei gönnen sie sich Zeitsprünge durch die Gegenwart.

So tanzt der bewunderte Primoballerino Alexandr Trusch mit Madoka Sugai einen Pas de deux, der sowohl real als auch nur geträumt sein könnte.

Da steht er mit nacktem Oberkörper in cremeweißer Hose – und schaut auf die imaginäre Armbanduhr. Wartet er auf jemanden? – Da fliegt sie auch schon herein, die durch ihren Tanz bildhübsche Madoka, in flammendes, fetziges Rot gewandet.

Ein Grand jeté schaut bei ihr ja aus, als würde sie so jeden Morgen zum Frühstück heraneilen. Mit dieser unerhörten Leichtigkeit des Seins tanzt sie denn auch einen Paartanz mit Trusch, und die beiden – die man in „Don Quixote“ ebenso virtuos, wenn auch ganz anders, nämlich in klassischer Petipa-Nurejew-Choreografie gesehen hat – bilden mal wieder ein ganz entzückendes Pärchen.

Blitzschnell nähern sie sich an, verkeilen sich ineinander, lösen sich – und sind synchron wie als Einzelgänger:innen immer irgendwie miteinander verbunden.

Für diese hohe Kunst des Paartanzes bedarf es besonderer Kräfte, mentaler wie physischer, motorischer wie emotionaler. Es ist fantastisch zu sehen, wie schön all dies auch nach dem fast verlorenen Jahr funktioniert.

Als Madoka ihren Bühnenpartner schließlich verlässt und sich mit einem wieder mal berückend weit gesprungenen Grand jeté verabschiedet, schaut er nochmal auf seine Uhr. War alles nur ein Traum?

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Exzellent im „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett: Anna Laudere und Edvin Revazov. Foto: Kiran West

Solche Gedankenströme, die Erinnerungen oder Hoffnungen sein könnten, verbinden auch ein weiteres gut bekanntes Paar: Anna Laudere und Edvin Revazov.

Sie trägt ein elegant geschnittenes Abendkleid in optimistischem Blau, er passt sich mit dunkler Farbe in der Kleidung an. Und sie spielen das ewige Spielchen von Mann und Frau: Sie lieben sich, sie gehen fast auseinander – aber letztlich sind sie das grandios-charmante Paar schlechthin.

Fast überflüssig zu erwähnen, dass ihre Beine wieder mal vollends in den Bann schlagen.

Und wenn sie und ihr Partner die Unterarme zu einer Art Fensterladen vor sich halten, dann ist das so mystisch wie aufregend.

Die zarte Ana Torrequebrada hat hingegen ein Solo voller Lebensglück, mit laut im Takt schnipsenden Fingern und mit kecken Sprüngen. So fröhlich, so ausgelassen, so ekstatisch glücklich kannten wir sie, die auch auf Tiefe und Melancholie spezialisiert ist, noch gar nicht!

Wunderbar, wenn ein Ballett die verschiedensten Fähigkeiten seiner Protagonist:innen so schön vorzeigen kann.

Das Schnipsen wiederholt sich später in der Gruppe, es ist Ausdruck der sich hier konzentriert findenden Lebenslust.

Und wenn Alexandr Trusch mit einer witzigen Brille reinkommt, um sich auch noch eine Banane zu schälen, sonst aber den schalkhaften Zuschauer zu mimen, fühlt man sich gleich an seine Interpretation vom Puck erinnert, die er im soeben fertig gestellten Film „Ein Sommernachtstraum“ in der bewährten, überaus geliebten Choreografie von John Neumeier zeigt.

Und warum er eine Banane auf der Bühne isst? – Weil in unserer Gesellschaft zu viel und zu ungesund gegessen wird. Da ist eine einzige Banane immer eine gute Alternative.

Eine sich steigernde Vitalität führt schließlich zu einem rundum kunterbunten Finale, mit über 30 Tänzerinnen und Tänzern auf der Bühne, die so flippig agieren, als kämen sie soeben aus einer Probe für ein anspruchsvolles Musical – es ist, als wolle Neumeier das Corona-Virus in die Schranken weisen.

Vollends spektakulär ist dann das letzte Bild, von Aleix Martínez und Jacopo Bellussi getanzt:

Beethoven schwebt als Drehhebefigur, als ein lebendes modernes Denkmal, horizontal in der Luft, gehalten von seinem starken Partner. Man schmunzelt und freut sich, wenn man weiß, dass Neumeier glücklich mit einem jüngeren Mann verehelicht ist.

Die Liebe als erste und letzte Kraft im Leben, die alles zu wenden und zu halten weiß…

Magische Zeichen und furiose Tänze beim Hamburg Ballett: mit dem „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier

Applaus und Glück: Nach der Premiere vom „Beethoven-Projekt II“ von John Neumeier (links mittig, rechts neben ihm Dirigent Kent Nagano) mit dem Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Schlussendlich bricht ein Jubel aus, der sich hörbar seit Oktober letzten Jahres staute.

Standing ovations und Freude über Freude! Obwohl oder weil derzeit nur 400 Menschen den Zuschauersaal der Hamburgischen Staatsoper füllen dürfen – diese 400 sehen allerdings vorzüglich – ist die Stimmung einfach frenetisch.

Und draußen sagt jemand trefflich: „Endlich dürfen wir wieder!“ Oh ja!
Gisela Sonnenburg

In diesem Beitrag stecken elf Stunden Schreib- und Redaktionsarbeit plus ungezählte Stunden der Recherche. Bitte spenden Sie jetzt:

 

www.hamburgballett.de

 

 

 

 

 

ballett journal