Lust und Last der Liebe Der Romancier, Essayist und Lyriker Erasmus Schöfer wird 90 Jahre alt – und zeigt in seinem neuen Band, wie poetisch er liebt

Erasmus Schöfer wird 90

Erasmus Schöfer lebt und arbeitet in Köln – und er hat es nie aufgegeben, seine ureigenen Auffassungen von Leben, Liebe und Literatur auf höchstem Niveau zu äußern. Foto: privat

Er ist ein reizender älterer Herr. Ein tapferer Held der klugen Gedanken. Ein wortmächtiger Sprachschöpfer. Und er wird heute, am 4. Juni 2021, 90 Jahre alt. Herzlichste Glückwünsche von Berlin und aus der ganzen Welt nach Köln! Und was bitte, lieber Meisterdichter, ist am wichtigsten, wenn man zurückschaut? Ja, genau: die Liebe. Erasmus Schöfer, als Romancier ein ebenso präziser wie fantasievoller Chronist der 68er-Generation, zeigt noch einmal seine in jeder Hinsicht glutrot brennende Fahne: in einem Buch über die Liebe voller Poesie. Das ist so gemeint: Es ist ein Buch voller Poesie. Und es ist so gemeint: Es geht darin über die poetische Liebe. Es handelt sich in jedem Fall um Gedichte, die in allen Lebensphasen des Schreibens entstanden sind. Die Titel dieser manchmal magisch kurzen, manchmal seitenlangen Sprachkunstwerke sind zwar oft schlicht: etwa wie „Lautlos“, „Der Aufgang“, „Sonnenblume“. Doch diese keineswegs auf das bloße Gefühl reduzierte Liebeslyrik, die mehr zu schweben scheint als dass sie bloß verfasst ist, hat es in sich. Pure Sinnlichkeit, liebendes Empfinden, auch konkrete Details aus dem Alltag sowie eine mal scheinbar einfache, mal opulent metaphorische Sprache ergänzen sich zu einer Ode ans Leben. Und an die Liebe, durchaus auch im Sinne von wilden Liebschaften. „Sisyfos Lust – Lauter ewige Lieben“ heißt der neue Band, beim Dittrich Verlag ist er zu haben, und mit der eigenartigen Schreibweise des antiken Helden, der seinen Felsbrocken den Berg hochrollen muss, um ihn dann immer wieder abwärts kullern zu sehen, hat es bei Schöfer eine besondere Bewandnis.

„Die Kinder des Sisyfos“ heißt nämlich in eben dieser Buchstabierung die Roman-Tetralogie des verdienten Kölner Kommunisten, die man als sein Hauptwerk bezeichnen kann.

Erasmus Schöfer wird 90

Rosen und Röschen beschwören den Sommer und die Liebe gleichermaßen – aber: „Rosen im Winter / heißen Dornstrauch“, so weiß es Erasmus Schöfer in seinem Band „Sisyfos Lust“. Foto: Gisela Sonnenburg

Aus unterschiedlichen Perspektiven und anhand von phänotypischen Schicksalen wird darin der Frage nachgegangen, warum die 68er-Bewegung scheiterte.

War es nur Korruption? Zuviel Hedonismus? Eine zu starke Gegenbewegung im rechten Lager? Ein Zerreißen der Solidarität im eigenen Lager bei Flügelkämpfen? Oder war es einfach die menschliche Unzulänglichkeit?

Schöfer legt Letzteres nahe.

Nur die Liebe, die stirbt nie – sie überlebt auch jede melancholische, manchmal abgrundtief traurige Anwandlung. Den Zusammenhängen zwischen Zeitgeist und Rebellion, Absturz und Neuanfang, die es in jedem Moment gibt, ist das Buch implizit gewidmet.

Die Geliebten, deren Perspektive Schöfer in einigen Gedichten gekonnt empathisch einnimmt, werden von ihm gefeiert: in den kleinen Details ihrer Schönheit wie auch in den unübersehbaren Beweisen ihrer Sinnlichkeit.

Weiche Schenkel und glühende Blicke, gierige Münder und ein „heißer Countdown im Hosensilo“ sind da Trumpf. Die Gerüche eines Lakens und die gekräuselten Härchen, die nach einer Liebesnacht darauf zurückbleiben: So etwas findet bei Schöfer ein harmonisches Miteinander.

Das ist einfach schön – und sorgt dafür, dass man die Herzensergüsse nur so verschlingt.

Erasmus Schöfer wird 90

Ein Taubenpaar, das sich liebende Distanz bewahrt statt zu klammern – jedenfalls, wenn es einfach nur so von seinem Lieblingsplatz aus in die Gegend schaut. Foto: Gisela Sonnenburg

„Draußen die Welt scheint angehalten / Das Gurren blauer Tauben / Das Rieseln der Sonne von den Ziegeln / Als wär der Friede ausgebrochen“: Solche Verse machen Lust zu lieben. Im selben Gedicht heißt es: „Wo er sich eingrub in meinen Bauch / summt das Echo unsrer Lust“ – nichts wirkt daran peinlich oder kitschig, schon gar nicht voyeuristisch oder pornografisch.

Und doch geht es um jenen intimen Moment der Vereinigung zweier Menschen, der manchmal wie der Sinn des ganzen Daseins erscheint.

Doch auch Naturerfahrung beherbergt das poetische Werk Schöfers. „Der Weltraum vor meinem Fenster / belebt von den Künstlern der Luft / Aber nie so viele fliegende Schwäne / wie diesen gewaltigen Winter / Sie tragen mein Herz im Schneekleid / das so schwer ist von Lust nach Entfernung / nach Aufbruch nach Morgen“.

So ergreifend und wie im Close-up gefühlt sind diese Zeilen, dass man kaum aufhören mag zu zitieren. Mit dem „gewaltigen Winter“ ist aber keineswegs die zweite Jahreshälfte gemeint. Schwäne sind Zugvögel.

Aber der eisige Herzenswinter, der einen isoliert und alleine erscheinen lässt, ist für Lyriker ein bedeutsamer Zustand.

Erasmus Schöfer wird 90

Stiefmütterchen zeigen den Frühling an – und gehören zur Gattung der Veilchen. Damit sind sie immer eine charmante Art, „Vergissmeinnicht“ zu sagen, wenn man sie verschenkt. Foto: Gisela Sonnenburg

Und auch bildende Kunst bietet der Band.

Auf dem Titel tanzt ein keck gezeichnetes Revuegirl, und im Innern des Bandes prangen florale Elemente.

Ilse Straeter, eine renommierte Essener Künstlerin, schuf Aquarelle mit aufs nasse Papier gehauchten Farbschlieren. Sie passen hervorragend zu der gefühlig aufgeladenen Atmosphäre der Schöfer‘schen Poesie.

Sattes Orange mischt sich da mit Himbeerrot, von algigem Grün kontrastiert. Auf dem Cover spreizt  sich gar ein munteres Tanzmädchen mit rotem Fuß und roter Hand: ganz ohne Farbnebel. Straeters Blauschattierungen scheinen zudem den Himmel oder auch sein Spiegelbild im Wasser in vielerlei Facetten einzufangen.

Schließlich erläutert das Nachwort von ihrem Ehemann Ulrich Straeter in prägnanten Gedankensträngen die Bedeutung und Herkunft der Dichtung von Erasmus Schöfer.

Wer die wortsatte Sisyfos-Tetralogie noch nicht kennt, wird jetzt, nach dem Vernaschen der Gedichte, ohnehin großen Appetit darauf verspüren. Nur zu!

Der Dittrich Verlag gibt diese spannenden, jeweils rund 500-seitigen Romanbände, die sorgsam editiert sind, derzeit für weniger als zehn Euro pro Stück ab. Wer kann da noch widerstehen, wenn man Sprache liebt?!

Dank an den Poeten für seine hartnäckige Wortschmiedekunst – und Dank an den Verlag für  das finanzielle Wagnis, den 90. Geburtstag eines Ungebrochenen so hoch zu hängen.

Erasmus Schöfer wird 90

Rot wie die Liebe und wie das politische Bekenntnis des Dichters Erasmus Schöfer, dazu ein Grau wie nicht Schwarz und nicht Weiß zeigt das Cover: „Sisyfos Lust – Lauter ewige Lieben“ punktet außerdem mit kleinen Kunstwerken der Künstlerin Ilse Straeter und ist jetzt im Handel. Faksimile: Dittrich Verlag

Aber was wäre ein Buch auch wert, wenn es nur als ein weiterer kalkulierter Bestseller im bunten Kulturzirkus von heute zur Welt käme? – Im Vergleich zu den vielen Retortenbüchern, die heutzutage auf den Markt geschwemmt werden, nimmt sich die Sprachmacht des Erasmus Schöfer unendlich erholsam aus.

Wir danken nochmals und verneigen uns vor dem Jubilar in Demut!
Gisela Sonnenburg

„Sisyfos Lust – Lauter ewige Lieben“ erschien soeben im Dittrich Verlag, 72 S., ISBN 978-3-947373-65-9, 18 Euro

https://www.velbrueck.de/Belletristik/Neuerscheinungen/Sisyfos-Lust.html

„Die Kinder des Sisyfos“ – vier Romane – sind derzeit rabattiert zu haben:

https://www.velbrueck.de/Belletristik/Die-Kinder-des-Sisyfos-Erasmus-Schoefer/

 

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