Welch ein Jubel, was für eine gute Stimmung! Nach dem Hamburg Ballett ist nun auch das Staatsballett Berlin (SBB) zu seinem Publikum live zurückgekehrt, und zwar gestern abend mit einer Neuausgabe seiner hauseigenen Gala-Reihe. „From Berlin with Love IV“ heißt sie und wird laut aktuellem Planungsstand noch zwei Mal, heute abend sowie am 23. Juni 21 in der Deutschen Oper Berlin zu sehen sein. Im Grunde aber sind es zwei Galas oder auch zwei Teilprogramme, die von einer bewirteten Pause getrennt werden. Aber nur der erste Teil ist das, was sich das Gros des Publikums als Gala-Programm wünscht: Highlights aus Klassikern, sensibel kombiniert mit zeitgenössischen Stücken. So etwas ist immer ein Fest für die Stars und Sternchen, vor allem aber für ihre Zuschauer:innen, die sich nur zu gerne von Nummer zu Nummer hochschaukeln und in Euphorie versetzen lassen.
Aus Tänzersicht ganz schwierig ist es, da den Anfang zu machen, wenn man weiß, dass das Publikum hohe Erwartungen hat und noch eine Menge Hochkaräter folgen werden.
Mit dem luftig-leichten „Blumenfest von Genzano“ von August Bournonville ist aber fast nichts falsch zu machen. Murilo de Oliveiro und Yuria Isaka beweisen, dass sie zwar keine waschechten Dänen sind, aber ansonsten eine Menge drauf haben.
„Dänisch“: im ballettösen Sinn ist das hier gemeint, denn Bournonville ist der große dänische Choreograf des 19. Jahrhunderts, der unter anderem mit zierlichen, oft eher niedrigen, dafür intensiv gespannten Sprüngen und mit bescheiden-freundlichen Ports de bras einen eigenen Stil kreierte.
Hier ist alles anders. Hier wird hoch gesprungen, wunderbar hoch, und hier himmelt sich das Pärchen an, als sei es völlig out of order vor Verliebtheit. Und siehe da: Als Einstiegshappen in eine groß angelegte Gala ist das genau richtig. Mit wahrhaft blumigem Flair tänzeln Murilo und Yuria über die Bühne, so anmutig wie ein Strauß Blumen von der Sommerwiese.
Anmut in perfektionierter Facon bietet dann ein Auszug aus „Ein Sommernachtstraum“ in der Version von Heinz Spoerli. Drei Paare tanzen hier die Unabdingbarkeit der Liebe, in silberblauen Bodysuits (die unweigerlich an die Version von John Neumeier mit den Kostümen von Jürgen Rose erinnern). Die schwebend-minimalistische Musik kommt dabei von Philipp Glass. Die drei Paare sind: die langbeinige Sarah Brodbeck und der gediegene Konstantin Lorenz, die elegante Evelina Godunova und der männliche Yevgeniy Khissamutdinov sowie die niedliche Alizée Sicre und der kraftvolle Alexei Orlenco. Einfühlsam und explosiv zugleich, erfinden diese sechs Körperkünstler:innen die Liebe immer wieder aufs Neue.
Es folgt der Grand Pas Classique, den Victor Gsovsky 1949 für Yvette Chauviré und Vladimir Skouratov ersann. Klarheit und Raffinesse, Brillanz und viel Balance ergeben darin ein vor Virtuosität funkelndes Gebilde, das scheinbar in jede Gala hineinpasst. Aya Okumura tanzt hinreißend an der Seite von Daniil Simkin, und beide bemühen sich, der Techniklastigkeit dieses Grand Pas de deux eine gewisse Ausdruckskraft entgegen zu setzen. Bravo!
Und dann folgen zwei moderne, zeitgenössische Stücke, die dennoch superbe in diese Gala passen. Der Choreograf Arshak Ghalumyan, bisher vor allem als Solist vom Staatsballett Berlin bekannt, trifft vor allem mit „Mare Crisium“ nach der gleichnamigen Musik von Karl Jenkins den Geschmack des Publikums.
Fünf junge Damen – Iana Balova, Sarah Hees-Hochster, Krasina Pavlova, Eloise Sacilotto und Pauline Voisard – springen und hüpfen, schleifen und bearbeiten den Bühnenboden in rasantem Tempo, ohne zu stoppen, so scheint es.
Schmissig und schwungvoll folgen sie der Steigerung der Musik, die aufgeregte Stuten durch die Savanne galoppieren lässt. Der britische Jazz-Komponist verbindet U- und E-Musik, um mit effektvollen Mitteln den Begriff der Programmmusik neu aufleben zu lassen.
In der Choreo von Ghalumyan geht es weniger um eine Handlung als vielmehr darum, wie sich die verschiedenen Temperamente der tanzenden Frauen darstellen: gemeinsam, im Solo und wieder gemeinsam in der Gruppe. Ob man so fitte, manchmal auch leicht aggressive Damen als bewunderungswürdig oder als angsteinflößend einstufen möchte, bleibt jeder Zuschauerin und jedem Zuschauer selbst überlassen.
Das zweite Stück von Arshak Ghalumyan schließt hier gleich an, es ist der Pas de deux „Promenade“ nach der ersten der beiden berühmten, lässig perlenden „Deux Arabesques“ von Claude Debussy. Innige Posen, die Dame oftmals kopfüber, mit den Beinen empor gehalten, zeigen ein Paar bei der erhabensten Form von Beziehungsarbeit. Alizée Sicre und Alexei Orlenco geben sich hierin die Ehre!
Am Piano erfreut hier übrigens Alina Pronina – an allen Pianostücken. Wunderschön! – Ansonsten muss man bei dieser Gala mit Aufnahmen vom Band vorlieb nehmen, was wegen der Präzision der Tänzer, die so zu ihrer „Probenmusik“ auftanzen können, aber auch Vorteile hat.
Ganz anders in der Stimmung ist dann das „Duetto inoffensiv“ von Mauro Bigonzetti. Zwei Frauen, eine in Weiß, die andere in Schwarz gewandet, zelebrieren eine kapriziös-sinnliche Melange aus Freundschaft und Rivalität, aus Liebe und Abhängigkeit. Am Ende springen sie Hand in Hand in den Orchestergraben, als wollten sie damit aus ihrem alten Leben aussteigen und einen Neuanfang starten.
Zwei heißblütige Primaballerinen ergötzen sich in diesem seltenen Stück aneinander sowie das Publikum: Elisa Carrilla Cabrero und Yoland Correa. Wow!
Und so abgründig der Frauen-Paartanz auch ist, so arglos kommt die Musik von Gioacchino Rossini einher. Eine reizvolle Spannung! Wieder verleiht Alina Pronina den Melodien eine besonders einschmeichelnde Note, ohne die Bassakkorde zu vernachlässigen.
Als Spitzenhighlight zum Abschluss des ersten Teils des Abends, des eigentlichen Gala-Teils also, tanzt Dinu Tamazlacaru, dessen letzte Spielzeit beim SBB von Corona nachgerade zerfetzt wurde, das Solo „Gopak“ des Librettisten und Choreografen Fedor Lopuchow.
„Gopak“ heißt im Ursprung „Hopak“ und bezeichnet einen ukrainischen Volkstanz. Voilà:
Folkoristisch wie eine ganze Volksfestgesellschaft und spritzig wie ein Wasserfall bündelt das Solo mit Kosakenflair viele tolle große Sprünge. Um schließlich den Tänzer in einer Pose am Boden enden zu lassen, den Arm freudig hoch gereckt.
Keine Frage, dass der Applaus nur so tost!
Nach der Pause kommt jedoch der gewollte Stimmungsabfall.
„Half Life“ von Sharon Eyal und Gai Behar bringt zwar das reduziert Leben von Zeitgenossen, für die außer der Arbeit für Geld nichts im Leben wirklich ansteht, auf den Punkt. Aber das könnten auch wenige Minuten zeigen. Rein formale Minimalismen langweilen, sind öde, vergeuden die Lebenszeit.
Mit dröhnenden Bässen, die wirklich zu laut durch die Deutsche Oper wummerten, wird das Publikum zudem berieselt, als wolle es eigentlich lieber in einen Club als ins Ballett. Nun findet man solche Zuschauer:innen in der Oper nur unter jenen Tänzer:innen im Parkett, die ihren dreizehn Kolleg:innen auf der Bühne Mut machen und reichlich zujubeln.
Das eigentliche Publikum aber ist mit so simpler Kost schlicht unterfordert. Und genervt.
Eine Damenstimme verlangte denn auch während der Premiere laut und deutlich: „Aufhören!“
Das nun ausgerechnet dann erleben zu müssen, wenn nach monatelanger Pause endlich mal wieder live und in echt getanzt werden darf, ist schon bitter. Aber leider auch eine verdiente Strafe, denn klug kann man diese Zusammenzwingung zweier Programmhälften, die sich an zu unterschiedliche Zuschauerkreise richten, um versöhnlich zu sein, nicht eben nennen.
Und so bleibt für manche ein Nachgeschmack, verbunden mit einem Dröhnen im Ohr, während die meisten sich bemühten, nur den Genuss dieses Abends im Gedächtnis zu behalten.
Den Tänzer:innen vom SBB, ihren Ballettmeister:innen und der kommissarischen Intendanz sowie allen weiteren Mitwirkenden und Beteiligten an dieser Neueröffnung der Berliner Ballettsaison sei herzlich gedankt!
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg