Wunsch-Ballett im Konjunktiv Für Pfingsten 2020 waren festliche Ballettvorstellungen eingeplant – jetzt müssen Online-Ereignisse den Verlust kompensieren helfen

Die Wilis locken zu Giselle

Wehmütige Erinnerungen wecken gemischte Gefühle. Ein wunderbarer Abend war das: Jubel für Iana Salenko und Dinu Tamazlacaru nach „Giselle“ von Patrice Bart vom Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Was wäre los gewesen im Ballett in Deutschland, wenn die Corona-Krise nicht alle Spielpläne über den Haufen geworfen hätte? Das Publikum hätte vielen festlichen Vorstellungen entgegengefiebert, die vermutlich großen Applaus geerntet hätten. Manche hätten spannenden Debüts beiwohnen können, Andere wiederum hätten gern ihre Lieblingsbesetzung ein erneutes Mal genossen. Covid-19 aber machte allen einen Strich durch die Rechnung. Ausstellungsausfall flächendeckend– seit fast drei Monaten (seit Mitte März) leiden Fans und Künstler unter Entzug. Mitunter helfen gut gemachte DVDs, den Verlustschmerz zu überwinden, vor allem aber stöbern die Ballettfans im Internet, um sich zu trösten. Die Bayerische Staatsoper hatte offenbar so eine Art Vorahnung. Denn in ihrer „Jahresvorschau“ auf die Saison 2019/20, einem über 200 Seiten dicken Wälzer aus kräftigem Papier, zitiert sie den Essay „Trauer und Melancholie“ des Vaters der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Darin geht es um den „Verlust der Fähigkeit, irgendein neues Liebesobjekt zu wählen“ – eine Formulierung, die Publikum und Künstler derzeit ganz besonders wehmütig werden lässt. Das Bayerische Staatsballett verlor denn auch seine bis heute vorgesehenen Ballettfestwoche 2020 an Covid-19, und auch das Hamburg Ballett büßt derzeit ein Gastspiel ein, und zwar in Salzburg, also nicht mal weit von München. Trauer und Sehnsucht auch beim Staatsballett Berlin, wo Evelina Godunova und Dinu Tamazlacaru ein neues Paar in „Giselle“ gebildet hätten. Man wäre so gespannt darauf gewesen! Und beim Semperoper Ballett hätte man sich auf ein „Extra“ – auf einen Probenbesuch der Zuschauer im Ballettsaal – gefreut, während man beim Ballett Dortmund die für den Juniangekündigte „Internationale Ballettwoche Dortmund“ vorbereitet hätte. Trost Eines zu Eins gibt es beim Stuttgarter Ballett, wo „One of a Kind“ von Jiri Kylián live am 4. Juni 20 zu sehen gewesen wäre – immerhin läuft genau dieses Stück genau dann online in einer Aufzeichnung. Vielleicht sogar mit dem Stuttgarter Weltstar Friedemann Vogel, der jüngst Corona zum Trotz den Deutschen Tanzpreis erhielt. Herzlichen Glückwunsch! Und: endlich! Hipp, Hipp, Hurra! 

Onegin ist das wichtigste moderne Ballett.

Friedemann Vogel erhielt vor wenigen Tagen den Deutschen Tanzpreis. Herzlichen Glückwunsch! Hier ist er vor der Corona-Pandemie am Bühnenausgang der Oper in Stuttgart zu sehen – ein gücklicher Mensch, der mit seiner Kunst andere glückselig macht. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber dem Publikum stellt sich nichtsdestotrotz die Gretchenfrage: Kann ein Streaming immer ausreichend trösten?

Hier gehen die Meinung nicht weit auseinander. Die Mehrheit der Ballettomanen – und der Theaterfans überhaupt – beharrt darauf, dass eine Live-Vorstellung in einem dafür geeigneten Gebäude nicht zu ersetzen sei. Die Künstlerinnen und Künstler pflichten dem bei – und vermissen die Vorstellungen womöglich noch stärker als die Zuschauerinnen und Zuschauer. Viele empfinden ein Video dagegen als „kalt“ und frei von den notwendigen Emotionen. Ihnen fehlt dersanfte Thrill, der im Theater alle unter Adrenalin setzt.

Andererseits haben Aufzeichnungen und Streamings den Vorteil, dass man mit kühlerem Kopf und blankem Auge noch viel genauer hinsehen kann als bei einer normalen Vorstellung. Wer analytisch genießen kann, für den ist das Video ein besonderer Augenschmaus (und auch Ohrenschmaus) – und wenn man vor- und zurücksetzen kann, lassen sich einzelne Passagen bei der Wiederholung(und Auslassung anderer) umso intensiver anschauen. Ein Stück weit führt man selbst Regie, wenn man ein Video startet – ganz nach eigenem Gusto.

Den Live-Thrill möchte hingegen das Bayerische Staatsballett mit seinen seit dem langsamen Abflauen der Corona-Epidemie wieder wöchentlich auf leerer Bühne live getanzten „Montagskonzerten“ erhalten: jeweils montags zur Primetime auf staatsoper.tv um 20.15 Uhr, angepasst ans Puschenkino, also ans Fernsehen mit der „Tagesschau“. Für Video-Fans sind diese Shows dann später ebenfalls kostenlos online auf der Website (staatsballett.de) gespeichert.

Ein etwas anderer Don Quijote tanzt in München auf

Laurretta Summerscales und Yonah Acosta im inspirierten „Don Quijote“ beim Bayerischen Staatsballett: mal was anderes! Foto: Wilfried Hösl

Morgen, an Pfingstmontag, dem 1. Juni 2020, beginnt das Montagskonzert in München laut Plan sogar gleich mit Ballett, und zwar einem Solo und einem Pas de deux aus der klassischen Version von „Don Quixote“ in der Choreografie von Marius Petipa. Es tanzen: die zarte Virna Toppi (das Solo) sowie das adrett-erotische Ehepaar Laurretta Summerscales und Yonah Acosta. Bisher lagen die Online-Live-Tänze beim Bayerischen Staatsballett zwar weit unter dem von den Aufführungen in München her gewohnten Niveau. Aber vielleicht gelingt es ja dieses Mal, unverkrampftes Live-Flair zu vermitteln. Mit den Gala-Paradenummern aus dem für Virtuosität bekannten „Don Quixote“ könnte das gut klappen! Schade nur, dass die schmissige Musik von Ludwig Minkus der Ankündigung nach wohl wieder vom Tonband kommen wird.

Hieran sollte das Bayerische Staatsballett arbeiten und lieber weniger aufwändige Choreografien zeigen, die dafür aber zur Live-Musik mit den wenigen erlaubten Musikern funktionieren. Es soll ja sogar Tänzer geben, die sich zu Improvisationen vortrauen… Vielleicht könnte so das Format „Corona-Live-Online-Tanz“ aufgemotzt und um Vieles lebendiger werden.

Zumal die Münchner Ballettfans ihre diesjährige Ballettfestwoche gerade jetzt am meisten vermissen, denn sie hätte am 23. Mai beginnen und heute abend enden sollen. Eine Premiere mit Stücken von Alexei Ratmansky und David Dawson, die traditionelle Matinee der Heinz-Bosl-Stiftung, „Alice im Wunderland“, „Coppélia“, „Jewels“, „Schwanensee“, „Spartacus“ und just heute „Die Kameliendame“ von John Neumeier hätten die Ballettherzen erfreut.

Wer heute abend die Hauptrollen getanzt hätte, stand noch nicht fest, als das Corona-Virus auftauchte. Aber es wäre wohl eine besonders glanzvolle Vorstellung geworden, so darf man vermuten: als Abschluss des Festivals allemal.

Bei den letzten Münchner Aufführungen der „Kameliendame“ tanzten übrigens Anna Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett die Hauptpartien als Gaststars in München.

Jetzt zu Pfingsten hätte sie aber an anderer Stelle ein Gastspiel erwartet: mit ihrer hanseatischen Company im österreichischen Salzburg, im Großen Festspielhaus. „Orphée et Eurydice“, die poetisch-lyrische Ballettoper von John Neumeier, die 2017 in Chicago uraufgeführt wurde, hätte heute vermutlich für ein ausverkauftes Haus in Salzburg gesorgt.

John Neumeier macht eine Balletttoper

Anna Laudere und Edvin Revazov in „Orphée et Eurydice“ in der Regie und Choreografie von John Neumeier: große Moderne in zeitlosem Stil. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Es gibt ein Trostpflaster, allerdings eines mit Widerhaken: Vor einigen Monaten erschien die DVD Orphée et Eurydice“ mit John Neumeiers Werk (zur Rezension bitte hier). Aber: Mit ihr ist nicht die fulminante und letztgültige Hamburger Version der Ballettoper zu sehen, sondern die etwas weniger Tanz umfassende Fassung mit dem Joffrey Ballet aus Chicago.

Noch trauriger allerdings ist das Los der Berliner Ballettfans. Was für eine Vorstellung geht ihnen mehr oder weniger ersatzlos durch die Lappen: Am morgigen Pfingstmontag hätten Evelina Godunova und Dinu Tamazlacaru mit der unkaputtbaren „Giselle“ von Patrice Bart in der Deutschen Oper Berlin ein hochkarätiges Stelldichein gegeben.

Die "Gala des Étoiles" besticht mit Brillanz

Eine Ballerina, die sich in Berlin von Vorstellung zu Vorstellung entwickelt: Hier tanzt Evelina Godunova in den Armen von Francesco Daniele Costa, und zwar auf der „Gala des Étoiles“ 2019 in Luxemburg , wo Christian Kieffer sie fotografisch so gelungen einfing.

Godunova war noch nie in dieser Titelpartie in Berlin zu sehen, und man wäre, gerade weil man sie in der Hauptstadt wachsen und sich entwickeln sieht, wirklich sehr glücklich und gespannt auf diesen Termin gewesen. Zumal Dinu Tamazlacaru als Albrecht eine Paradebesetzung ist: Weltweit gibt es nur wenige Tänzer des Fachs  Danseur noble, die dieser für das romantische Ballett so bedeutenden Rolle soviel Leben und Seele zu verleihen in der Lage sind.

Ach! Oje! Man möchte weinen, wenn man daran denkt, was einem da nun fehlt…

Bisher bot auch das Corps de ballet vom Staatsballett Berlin (SBB) mit dieser „Giselle“-Version stets einen Hochgenuss, und Nikolay Korypaev als Hilarion (also als Rivale von Albrecht) sowie die auf ihre Art begnadete Marina Kanno mit dem ebenfalls auffallend talentierten Dominic Whitbrook hätten vermutlich die Dramatik und Rasanz der Inszenierung noch weiter bestärkt.

"Giselle" beim Staatsballett Berlin

Die Damen vom Staatsballett Berlin als Wilis beim Schlussapplaus nach „Giselle“ in der Deutschen Oper Berlin – ein Oh-und-Ah-Erlebnis für jeden Ballettfan! Foto: Gisela Sonnenburg

Und wer wohl die Myrtha getanzt hätte? Sie war für Pfingsten noch nicht besetzt, aber das SBB hat gleich mehrere versierte Verkörperungen der kühlen Jungfrauenchefin anzubieten. Und es handelt sich außerdem um eine beliebte Debüt-Partie,

Doch es nützt ja nichts: Alle Vorfreuden waren vergebens, man muss froh und dankbar sein, wenn die Corona-Infektion wegen der ausgefallenen Ballett- und anderen Vorstellungen deutlich weniger Menschen erwischt.

Online locken immerhin abwechslungsreiche Programme aus aller Welt. Und gleich zwei Konzerte auf einen Streich bietet die Staatsoper Unter den Linden online an: Mit Werken von Ludwig van Beethoven in Sextett- und Gesangsformation (mit Startenor Stephan Rügamer) einerseits und andererseits mit (Überraschung!): Brasilianische Lieder & Tangos! Da dürften auch die Online-Skeptiker entflammen und ganz lässig auf den Geschmack kommen.

Eingefleischten Ballettfans von John Neumeier sei derweil nochmal der Film „John Neumeier at Work“ empfohlen, der eine historische Doku von 1987 ist und bis morgen um 16.30 Uhr bei hamburgballett.de online steht – und außerdem als DVD (hier geht es zur Rezension) erhältlich ist.

Und jetzt für alle (wirklich für alle): FROHE PFINGSTEN!

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P. S. Nicht vergessen: Das Pfingstfest steht für das bessere Verständnis von Menschen aus verschiedenen Sprach- und Kulturkreisen, was auch die unterschiedlichen  Geschmacksausprägungen betrifft. Denken Sie beim nächsten Spaziergang daran – und bitte mit einem Lächeln auf den Lippen!
Gisela Sonnenburg

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