Zu Beginn sieht man – und das ist ein Symbolbild – die Silhouetten von zwei Fensterputzern. Der Choreograf und sein Tänzer sind hiermit vielleicht gemeint: Sie klären den Blick auf die Welt, vermitteln Aus- und Einsichten ohne überflüssigen Schmutz und Regenspuren des Alltags. John Neumeier, so erläutert der Off-Sprecher, tanzte früher beim Scottish Ballet (was man heutzutage gar nicht weiß) und dann beim Londoner Royal Ballet, wo ihn Marcia Haydée für das Stuttgarter Ballett von John Cranko entdeckte. In Frankfurt am Main reüssierte Neumeier dann als damals jüngster Ballettdirektor der Republik, um sein Werk ab 1973 in Hamburg fortzusetzen. Aus dem Tänzer war endgültig auch ein Choreograf geworden. „John Neumeier at Work“ – diese jetzt bei Arthaus Musik neu erschienene filmische Doku von André S. Labarthe stammt aus dem Jahr 1987 und bildet eine Collage aus Mitschnitten von Proben, Aufführungen und Interviews. Neumeier spricht über sein Vorbild Antony Tudor, über seine Wegfindung zu Stücken wie „Artus-Sage“ und der „Matthäus-Passion“ und zu Hintergründen des internationalen Kulturbetriebs. Auch Rudolf Nurejew ist kurz im Bild – vor allem aber sieht man den Tanzschöpfer Neumeier bei der Arbeit.
„Jeder, der etwas Interessantes zu sagen hat, ist allein, ist nicht einzuordnen.“
Mit diesem Statement outet sich der gebürtige Amerikaner Neumeier als Außenseiter, der gegen Gepflogenheiten und Konventionen des choreografischen Erfolgssystems durchaus aufbegehrt. Proben für seine „Artus-Sage“ zu Musik von Jean Sibelius finden auf Kampnagel in Hamburg statt, das Stück „Magnificat“ kreiert er vor laufender Kamera in den heiligen Probenhallen der Pariser Opéra.
Die „Matthäus-Passion“ wird in Hamburg geprobt und in der Hamburgischen Staatsoper aufgeführt, die harte Findungsarbeit für das große Solo des Judas nimmt gebührend Raum in der Video-Doku ein. Die damals für Neumeier tätige Choreologin Susanne Menck ist immer an seiner Seite, sie notiert, schaut, notiert, während der junge Victor Hughes, der heute gelegentlich Stücke von Neumeier mit Compagnien auf der ganzen Welt einstudiert, das Tonband im Ballettsaal bedient.
Die Atmosphäre intensiver Arbeit überträgt sich rasch; nachhaltig sich vertiefend ist hingegen die Wirkung der metaphysischen energetischen Quelle, die dem Tanz entspringt.
Ähnlich ist die Konzentration bei den Proben in Avignon, wo John Neumeiers „Magnificat“ outdoor uraufgeführt wird.
Rudolf Nurejew, damals Direktor des Pariser Opernballetts, ist auch gekommen, um hier zuzusehen. Bei sengender Hitze tanzen die Körperkünstler vor seinen Augen die Schrittfolgen, die von einem Zwiegespräch der ersten Frau Eva mit ihrem Gott künden.
Der Film gipfelt in den nächtens gefilmten Schlusspart des Stücks – einen Pas de deux von kühner akrobatischer Schönheit – und in den Applaus beim Festival in Avignon. John Neumeier, im feschen Anzug, aber ohne Krawatte und mit 48 Jahren im besten Alter, erfüllte damals alle Erwartungen an einen trendigen, dennoch den traditionellen Werten verpflichteten Künstler: als Außenseiter und Mainstreamer in einer Person.
Unbedingt lohnenswert, diese DVD – sie ist ein Zeitdokument und eine Referenz zugleich.
Gisela Sonnenburg
„John Neumeier at Work“ – A Film by André S. Labarthe, engl., mit deutschen UT, Arthaus Musik, 2019, Cat. No. NTSC 109352