So langsam werden Überraschungen normal, die guten wie die bösen. Beim Hamburg Ballett fiel glatt erstmals in seiner Geschichte mit nur wenigen Stunden Absagezeit die Neujahrsvorstellung aus: Kein „Weihnachtsoratorium I – VI“ von John Neumeier am 1. Januar 22, denn zu viele Erkrankungen hinderten das Ensemble am Auftritt. Wir wünschen gute Besserung! In Berlin und Dresden dachte man sich wohl: „Willkommen im Club!“, denn auch dort liegt der Spielbetrieb im Ballett derzeit lahm. Aber schon am 6. Januar 22 wird sich laut Spielplan der Vorhang in Hamburg für Neumeiers „Dornröschen“ heben – mit Ida Praetorius in der Titelpartie, seit Jahresbeginn ist sie ganz offiziell die neue der vier Primaballerinen an der Alster. Herzlichen Glückwunsch und toi, toi, toi! In Berlin soll dann plangemäß am 11. Januar 22 und somit wenigstens ein Mal von der vorgesehenen Spielserie „Jewels“ von George Balanchine zu sehen sein: mit der absoluten Neuentdeckung Alexandre Cagnat in den „Diamonds“, an der Seite von Aurora Dickie. Man darf sich eine ganz wunderbare Überraschung davon versprechen, wahrscheinlich werden sie ein Paar de luxe abgeben!
Das sächsische Dresden braucht hingegen noch etwas mehr Zeit, um anzurollen, aber dann: Ab dem 5. Februar 22 steht das bezaubernde „Dornröschen“ in der Version von Aaron S. Watkin mit viel Originalchoreografie und klassischer Anmutung von Marius Petipa auf dem Programm.
Aber wenige Tage vorher, am 27. Januar 22, verspricht bereits das Aalto Ballett in Essen ebenfalls mit der Wiederaufnahme von seinem „Dornröschen“ in der Version von Ben Van Cauwenbergh so Einiges! Ballerinen wie Adeline Pastor brillieren hier nicht nur in der Titelpartie, sondern auch als dämonisch-furiose böse Fee Carabosse – ein schön-schauriger Gruseleffekt zum Start ins neue Jahr.
Es ist halt das Dornröschen-Jahr im deutschen Ballett, denn auch in Berlin ist das gute alte Märchenstück – in der Version von Marcia Haydée mit seiner Premiere am 13. Mai 22 – geplant. Und beim Stuttgarter Ballett kehrt es, ebenfalls in der Haydée-Fassung, am 7. Juli 22 ins Opernhaus zurück. Wenn die Tanzgötter es wollen – und ihnen Corona keinen Strich durch die Rechnung macht.
Wir sollten uns ja auch langsam daran gewöhnen, dass nicht alles immer so sicher ist, wie wir es bisher oftmals gedacht hatten. Darum bitte trotzdem weiterhin Kulturbesuche einplanen, mit der Gelassenheit im Hinterkopf, dass man vielleicht auch einen häuslichen Plan B aushecken sollte.
Im Leben von Dornröschen kam schließlich auch alles ganz anders, als zunächst gedacht…
Aktuell touren übrigens diverse russische Ballettensembles durchs Land, und was steht außer dem obligatorischen „Schwanensee“ auch bei ihnen im Angebot? Richtig: „Dornröschen“.
Bei soviel dornrosigen Ausblicken zeitigt aber auch ein kurzer Blick zurück noch Neues:
Einen Silvesterknaller leisteten sich die Berliner Philharmoniker. Ihr Chef, Kirill Petrenko, leide an Rückenschmerzen, hieß es nur zwei Tage vor der großen Show – und darum müsse er die Leitung des traditionellen Silvesterkonzerts, das live auf mehreren Kontinenten übertragen wurde, abgeben. Es sprang für ihn ein: der hochbegabte, auf eine bescheidene Art schillernde Lahav Shani. Er wiederum versprach und hielt nicht nur eine Überraschung, sondern sogar ein ganzes Bouquet an kleinen Sensationen. Dazu später mehr.
Die Meldung vom Wechsel am Dirigentenpult wurde tatsächlich in vielen großen und kleinen Tageszeitungen, Sendern und Portalen vermeldet, ganz so, als würde damit ein Erdbeben verhindert. Man hätte wohl darauf spekulieren können, auf diese Weise endlich mal richtig viel PR fürs Silvesterkonzert aus Berlin zu bekommen. Denn im Grunde weiß zwar jeder Klassikfreak, dass es dieses Konzert in hochkarätigen Aufnahmen gibt – Spezis wissen sogar, seit wann, nämlich seit 1977 – aber leider folgt auf Silvester unweigerlich Neujahr und somit das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker.
In dessen Schatten standen die Berliner von Beginn an, zumal das erste große Konzert zum Jahreswechsel aus Wien sogar selbst ein Silvesterkonzert war, zum Ende des ersten Jahres des Zweiten Weltkriegs 1939. Die Wiener haben nun auch noch den prächtigen Saal des Wiener Musikvereins, welcher noch prächtiger mit Blüten aus ganz Österreich geschmückt wird, wenn die Fernsehkameras und Mikrofonhalter fürs Neujahrskonzert anrücken. In Berlin hingegen ist die Philharmonie von Hans Sharoun zwar zeitlos schön, aber eben auch entsprechend schlicht anzuschauen.
Dieses Jahr waren viele Stammzuschauer:innen des Wiener Events – das Neujahrskonzert wird im ZDF am Vormittag des ersten Tag des Jahres live übertragen – ein wenig enttäuscht.
Aber dafür können die Liebhaber:innen von schmissigen Walzern, schwermütigen Violinen und spritzigen Strawinsky-Klängen sich in der arte-Mediathek noch bis zum 30. Januar 22 an der Hauptüberraschung der Saison im Konzertwesen laben: am Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker.
Denn wer oder was auch immer den Hexenschuss (Lumbago) von Kirill Petrenko ausgelöst haben mag – für das Konzert mit Lahav Shani hat es sich gelohnt, hinzuhören.
Die „Fledermaus“-Ouvertüre kam hier leichtfüßig und fast locker-flockig einher, aber weniger zügig und gehetzt, als sie meistens gespielt wird, dafür großzügig austariert, sogar voluminös und auch detailreich ausformuliert. Welch ein Genuss! Das war nicht nur Operette, das war auch ein tragikomisches Exempel des guten Geschmacks. Bravo, Herr Shani!
Aber das Beste kam erst noch: Das bekannte 1. Violinkonzert op. 26 von Max Bruch, in g-moll geschrieben, fand hier mit Janine Jansen an der Geige zu sich selbst, indem es so aufgebauscht und zugleich fedrig, so hinreißend traurig und doch so gleitend wie für Icescating gemacht präsentiert wurde, ganz so, als sei es ein heimliches Stück von Richard Wagner. Auch hier war das Tempo spürbar verlangsamt, was dem Stück aber erst recht mehr Weihe verleiht. Was sonst an diesem Werk ein wenig selbstmitleidig klingt, wurde nun zur ehrbaren Tragödie erhöht!
Unbedingt empfehlenswert, wie gesagt: bis Ende des Monats noch auf arte.tv zu haben!
Ein weiteres Neujahrskonzert, ebenfalls auf arte in der Mediathek zu sehen und zu hören, kam aus dem Teatro La Fenice in Venedig – hier modulierte Fabio Luisi einmal mehr die Vorzüge des eleganten Belcanto, wenn er mit Präzision und Hingabe zugleich vorgetragen wird. Die Sopranistin Pretty Yende – schon in Paris und an der Met erprobt – riss ebenfalls zu Begeisterungsstürmen hin, während das Aterballetto in der Choreografie von Diego Tortelli mehr wie Dekorationstanz in nicht-tanzbaren Klamotten wirkte.
Fabio Luisi dirigiert derweil auch Ballette von Christian Spuck in Zürich – hoffen wir, dass der fabelhafte Luisi, wenn Spuck in Berlin als Ballettintendant residiert, von ihm auch fürs Staatsballett Berlin an den Taktstock gebeten wird.
Dasselbe würde man sich allerdings auch für Lahav Shani bzw. für sein Publikum in Berlin wünschen, allerdings wäre das für Shani vermutlich etwas sehr Neues: Ballett nicht nur im Konzertsaal zu dirigieren. Wenn man allerdings seinen „Feuervogel“, der den zweiten Teil des Silvesterkonzerts ausmacht, hört, so überkommen einen jedoch Gelüste, diese fast impressionistische Interpretation auch mal mit Ballett zu goutieren.
Schalten wir darum noch einmal zurück zum Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker, das 2021 unter der Leitung von Lahav Shani wirklich ganz famos war, und lauschen wir dem dort so hold gezeigten „Feuervogel“, wie er sachte mit den Flügeln schlägt, aufgeregt umherflattert, ängstlich zittert, sich aber durch die Aufgeschlossenheit für seine Belange von einem Menschen zähmen lässt und plötzlich für alles Gute am Leben steht.
Für Freiheit, Mut, Loyalität, Respekt, Freundschaft, Liebe, Rettung… Für Tugenden, für die auch wir in diesem Jahr mehr denn je einstehen sollten!
Gisela Sonnenburg
P.S. Wie am 4.1. bekannt gegeben wird, müssen beim Hamburg Ballett alle Vorstellungen bis einschließlich 10.1.22 wegen Infektionen mit der Omikron-Variante von Covid-19 im Ensemble ausfallen – das erste „Dornröschen“ des Jahres findet dort also am 13.1.22 statt!
Und in der Semperoper in Dresden darf der Vorhang laut Bekanntgabe am 5.1. erst wieder ab dem 15.2.22 hochgehen – hoffen wir, dass es dabei bleibt!