Liebe ist nicht dasselbe wie Abhängigkeit. Aber an diesem Missverständnis scheitern viele große und kleine Lieben. Die Titelheldin „Anna Karenina“ ist auch so eine Frau, die es nicht schafft, ihr Leben allein zu meistern. Sie kann sich nur über ihren jeweiligen Mann oder Geliebten definieren – und sie bringt sich um, als sie glaubt, von beiden verlassen worden zu sein. Aus feministischer Sicht ist der Roman aus dem zaristischen Russland, von Leo Tolstoi geschrieben und zuerst als Fortsetzungsschmonzette in einer Zeitung publiziert, nicht viel wert. Aber auf der Bühne, als Ballett von John Neumeier, entfaltet der altbackene Stoff eine starke Wirkung, zumal Neumeier die Handlung in unsere Gegenwart verlegt hat: alle Facetten einer Amour fouwie auch ihr klares Gegenkonzept, nämlich die wirtschaftlich begründete Vernunftehe, werden detailreich ausgeleuchtet und vorgeführt. Beim Hamburg Ballett debütierte gestern – knapp zwei Jahre nach der Uraufführung mit der unvergleichlichen Anna Laudere und ihremPartner Edvin Revazov– die sich langsam, aber sicher zur Starballerina mausernde Chinesin Xue Lin in der Hauptrolle. Sie ist keine Besetzung, die auf den ersten Blick wie für diese Partie gemacht erscheint. Denn ihre Ausstrahlung ist sehr lyrisch, weniger dramatisch. Umso großartiger meistert Xue Lin den Anspruch, der abendfüllenden Mega-Rolle der Anna Karenina den ihr eigenen Swing, die ihr eigene Präzision sowie ein neuartiges, feminin-zartes, dennoch bodenständiges Rollenprofil zu verleihen. Jeder Beinschwung, jedes Fußstrecken verheißen eine Eloge der Liebe, jede Armbeugung eine Aufforderung zum Tanz. Bravo! An ihrer Seite, als verführerischer Graf Wronski, der Anna zum Seitensprung verleitet: der bildhübsche Shooting Star Jacopo Bellussi, dessen Rollenrepertoire in den aktuellen Saisonen ohnehin nachgerade explodiert. Bellussi ist hier schier endlos verliebt und stürmisch, gedankenvoll, aber mutig, so kraftvoll wie sensibel, sehr sinnlich und fast zu gut erzogen, um als Ehebrecher durchzugehen. Er ist ein Mann wie aus dem Bilderbuch der Wunschliebhaber – und von daher eine Traumbesetzung. Aber auch gemeinsam, im Paartanz, enttäuschen die beiden Newcomer nicht, sondern begeistern mit dezidierter Darstellung, passioniertem Tanz, reibungslosen Hebungen – und mit hinreißendem Charme.
Wiewohl – und das ist eigentlich unfasslich – sie nur eine gute Woche Zeit hatten, miteinander zu proben, weil ursprünglich statt Bellussi der dann aus wichtigen privaten Gründen ausgefallene Alexandr Trusch als Wronski vorgesehen war. Also doppeltes Bravo!
Und noch weitere Überraschungen birgt diese Hamburger Alternativbesetzung, die die anderen Casts vorzüglich ergänzt, etwa auch die Festival-Vorstellungen mit Stars vom Bolschoi und vom National Ballet of Canada. Jetzt aber weiter mit der gestrigen Show:
Carsten Jung als Karenin, also Annas Gatte, ist ein umwerfend machtbesessener, durch und durch amerikanisierter Politiker, der mit jedem Lächeln und jeder Handgeste Tausende von Wählern anzuwerben scheint. Zumindest glaubt er das, zumindest macht er uns glauben, dass er das glaubt – und das ist gar nicht mal so einfach auf der Ballettbühne!
Kaum zu fassen, dass dieses Brillanztier von Darsteller – Jung ist wirklich ein Theatermensch durch und durch – vor wenigen Jahren noch als Neumeiers „Liliom“ rührte, also als liebenswertes, aber gefährliches Sinnbild des sozialen Abstiegs, hineingepflanzt in eine nostalgische Jahrmarktkulisse.
Doch was ist die Politbühne anderes als eine stolperfallenreiche Zirkusarena? – Jung zeigt, wie drastisch so ein repräsentativer, auf Massenbeifall ausgerichteter Beruf den eigentlichen Charakter eines Menschen auffrisst – und wie hilflos, ja passiv der Supermacho dann in seinem Privatleben ist.
Für die Wünsche seiner Gattin nach Liebe – von Xue Lin mit der einleuchtenden Schüchternheit einer zunächst noch vollauf loyalen Ehefrau vorgetragen und darin ganz anders anzusehen als die stark fordernde, selbstbewusste Anna Laudere (wobei beide Interpretationen ihre Gültigkeit haben) – hat so ein Machtmensch jedenfalls kein Ohr mehr. Jede Schlagzeile einer Zeitung mit vermeintlichen News interessiert Karenin mehr als die weibliche Schönheit mit Sehnsucht nach Zuwendung.
Da hilft dann auch das schickste Modellkleid nicht mehr: Neumeiers Anna Karenina wurde von dem Designerlabel AKRIS alias von dem Schweizer Albert Kriemler ausgestattet, doch die von Mangel geprägten Gefühlslagen können solche schlicht-schönen Prachtroben nur noch betonen.
Und so ist es kein Wunder, dass es in mehrfacher Hinsicht knallt, als die schöne Anna mit dem hübschen Wronski kollidiert. Am Bahnhof rempelt er sie an, nicht eben sachte, dafür entschuldigt er sich auch gleich, hebt ihre vor Schreck fallen gelassenes Jacke auf – und es funkt und funkt und funkt zwischen den beiden…
Zeitgleich lässt John Neumeier einen Arbeiter tödlich verunglücken, auch wörtlich nur wenige Meter weiter. Dieser Muschik genannte Mann trägt eine Latzhose aus dem Straßenbau (Müllmänner tragen dasselbe leuchtende Orange), und einer der Schultergurte ist gelöst, wie in Neumeier-Ausstattungen bei Latzhosen für Herren üblich.
Später fällt auf, dass die Hosen des Muschik zerrissen sind, der ganze Mann wirkt abgewrackt und ruiniert, sein Tod war wohl der Endpunkt eines arbeitsamen Lebens als Ausgebeuteter.
Und so verkörpert er zugleich einen Racheengel, mischt sich – für die anderen unsichtbar – als Todesbote ins szenische Geschehen, tanzt und akrobatisiert und lässt sich nicht wegdiskutieren.
Alexandre Riabko tanzt jetzt – nach der Erstbesetzung bei der Uraufführung mit Karen Azatyan, der fälschlicherweise auch hier im Programmzettel steht – diese anspruchsvolle Partie: mit genau richtig dosierter männlicher Muskelkraft, mit zarten Händen, mit starker Konzentration. Ein proletarischer Bote aus dem Jenseits, aus einem Reich der Schuld der Lebenden, und er ist darin glaubhaft wie jede Figur, die hier in „Anna Karenina“ ins Rampenlicht tritt.
Wie auch Patricia Friza als frustzerfressene Hausfrau Dolly, die Schwägerin der Anna Karenina. Nur ihre fünf Kinder hindern sie daran, ihren notorisch fremdgehenden Ehemann Stiwa – fabelhaft geludert von Dario Franconi– zu verlassen.
Diese fünf Kinder sind ein kleines Märchenballett für sich.
Gabriel Alain, Angelina Jung, Emiliya Koleva, Caspar Sasse und allen voran Elise Brachvogel stammen denn auch von der hoch renommierten Ballettschule vom Hamburg Ballett – John Neumeier, und sie bieten in der Szene, in der sie ihre schon im Abreisen begriffene Mutter in die Familie zurückholen, soviel Grazie und Geschmeidigkeit, soviel Ausdruckskraft und Gefühlsstärke auf, dass man nicht anders kann, als diese superjungen Künstler zu bewundern.
Tänzelnd und spielend, mit und ohne Requisiten, zueinander wie zur Bühnenmutter schauend sind sie sowohl in ihre Darstellung vertieft als auch hellwach dem Publikum zugewandt.
Auf dieses Können kommt es an beim Ballett, und so darf man stolz vermelden, hier mal wieder die Zukunft des Balletts gesehen zu haben!
Ein anderer junger Mann hat den Sprung von der Schule ins Ensemble längst geschafft, auch wenn er jetzt wieder ein Kind darstellt: Marià Huguet tanzt mit wunderbar hitzigem Temperament Serjoscha, den Sohn von Anna und Karenin.
Während Xue Lin als Anna Karenina im Paartanz mit Jacopo Bellussi als Wronski ihre glanzvolle, feminin-erotische Leichtigkeit entdecken und ausleben darf, trägt die Beziehung zu ihrem heranwachsenden Sohn sie in den Bereich des Sorglos-Verspielten, in den eines Lebens ganz im Augenbick. Es ist ein Genuss, das zu sehen!
Heutzutage dürfen alleinerziehende Mütter übrigens ohne Zustimmung des mit Umgangsrecht ausgestatteten Erzeugers – unabhängig davon, ob er Zahlungen leistet oder nicht – nicht mal den Wohnort wechseln. Sie sind gesetzlich angebunden an die wandelnde Herkunftsquelle einiger Spermazellen, und krakeelende frühere Einflussnehmer wie Matthias Matussek haben dazu beigetragen, dass Männer im Famiienrecht in Deutschland immer mehr das Sagen haben, während die Frauen auf ihr naturgegebenes Privileg der Schwangerschaftsaustragung reduziert werden.
Frauen, wenn ihr Kinder wollt – überlegt es euch zweimal. Es gibt viele gute Gründe, diese Menschheit nicht in den Ruin durch eine zu hohe Bevölkerungsdichte zu treiben.
Und es gibt noch mehr gute Gründe, den biologischen Vater geheim zu halten, um die Last der Erziehungsverantwortung allein zu bewältigen. Sie wiegt dann sogar oft geringer, als wenn sich der Vater auch noch auf die Schultern der Frau setzt. Aber, zugegeben: Das ist auch eine finanzielle Frage, und den meisten Frauen wird eine angemessene Bezahlung ihrer Tätigkeit oder sogar ein angemessener Arbeitsplatz generell verwehrt.
Frauen, lernt aus den gruseligen Damenschicksalen in „Anna Karenina“! Wehrt euch! Organisiert euch! Gründet eine Partei! Gründet Vereine! Schließt euch zusammen und macht mobil! Holt euch endlich eure Rechte statt immer wieder nur einen Versorger oder einen mies bezahlten Job!
Wacht auf, liebe Mädels!
Dann ist auch der zweite Akt von „Anna Karenina“ noch viel besser zu genießen.
Hier gibt es nämlich ein weiteres Pärchen, das es lohnt, angesehen zu werden, es ist eines, das vermeintlich glücklich ist. Die vorgeführte Normalität entpuppt sich indes beim genauen Hinsehen als nichts anderes als eine Vernunftehe, wirtschaftlich begründet und emotional gut durchdacht.
Aber bis es dahin kommt, ist es spannend.
Der in jeder Vorstellung berauschend schön tanzende Aleix Martínez als motivierter, offensichtlich biomäßig inspirierter Landbesitzer Lewin ist auf Brautschau. Und verguckt sich glatt in die süße Kitty, die indes dem hübschen Wronski nachläuft und sogar eine Verlobung mit ihm erreicht hat.
Aber weil Wronski sich Knall auf Fall in die verheiratete Anna verliebt hat, lässt er Kitty spüren, dass er sie langsam abserviert.
Der schon berühmt gewordene Stuhl-Pas-deux zwischen Anna und Wronski, in dem sie seine Feuerzeugflamme keck ausbläst, lässt keinen Zweifel an der Tragfähigkeit ihrer Liebe. Im Hintergrund klappern weiße Türen, im Vordergrund schäkert Amor mächtig mit den Waffen der Erotik. Kitty hat dagegen keine Chance, und das begreift sie rasch.
Lewin ergreift sofort die Initiative. War er noch lustig-grotesk, clownesk-fanatisch, als er sich um sie erstmals bewarb, lernt er schnell dazu.
Doch erst, als Kitty nervlich zusammenbricht und sich in einer Heilanstalt durch ein ergreifendes Liebeskummersolo wälzt, kann er behutsam in ihr Leben eingreifen: Er tröstet sie, gibt ihr Halt, wortwörtlich.
Greta Jörgens als Kitty ist eine der Entdeckungen in dieser Besetzung: Wild und schön, fein und expressiv gestaltet sie diese Partie, macht sie streckenweise zur eigentlichen Hauptfigur. Keine Sekunde von ihrem Spiel möchte man missen, keine Beinstreckung, keinen Wimpernschlag entbehren. Top!
Emilie Mazon, die diese Rolle kreierte, tanzt sie noch sinnlicher, noch realistischer, aber Greta Jörgens steht ihr hier qualitativ nichts nach, sie begreift die Figur der Kitty allerdings weniger aus dem Stand heraus als aus der Bewegung in Gegensätzen.
Beides ist hoch interessant! Und so modern, als sei der mittlerweile 80-jährige Neumeier bei der Kreation vor zwei Jahren ein Jungspund gewesen.
Seither ist das Eine oder Andere im Stück verändert worden, es ist ja eine Koproduktion von drei Balletttruppen auf drei Kontinenten, ansässig in Hamburg, Moskau und Toronto. Bei jeder neuen Einstudierung lässt es sich Meister Neumeier nicht nehmen, Details einzufügen oder zu ändern. So ändern sich manchmal auch Schwerpunkte, werden einzelne Aspekte in den Vordergrund gerückt.
Lewin indes ist nicht nur einfach verliebt. Er hat sich eine standesgemäße junge Lady ausgesucht, die zudem flexibel genug ist, auf den Verlobten zu verzichten, um sich mit dem neuen Verehrer dem Landleben zu widmen. Der Traktor kommt zum Einsatz, die vermögenden Jungreichen stilisieren sich gemeinsam zu Vorzeigebauern. Und bald auch – ein Bündel Baby im Arm macht’s möglich – zu einer Vorzeigefamilie, in der alltäglicher Krach leicht verdaut und überwunden wird.
Dass Lewins Landarbeiter außerdem als Schattensilhouetten vorm rotgoldenen Sonnenaufgang, geleitet von Cat Stevens‘ monolithischem Song „Morning has broken“, ein Sensenballett exerzieren, hat seinen eigenen Geschmack. Spontan erntet das gefühlige Bild Applaus, gerade weil hier nicht für irgendeine Brotsorte geworben wird.
Fürs Frauenbild ist die Kitty indes ebenso wenig ergiebig wie die Figur der Anna oder der Dolly. Tolstoi traute den Weibern offenbar nicht, ihr IQ liegt in seinen Werken leider stets deutlich unter den realistischen Möglichkeiten, und Selbständigkeit ist für all diese Damen offenbar ein Fremdwort, auch im 21. Jahrhundert in Neumeiers Tolstoi-Ballett.
Frauen und auch Männer, nehmt das als Zeichen und als Warnsignal!
Der Gesellschaft fehlen die Potenziale der weiblichen Intelligenz und Fähigkeiten, wenn man sie auf Sex und Brutpflege sowie auf Familienunternehmungen reduziert.
Es gibt genügend wissenschaftliche Untersuchungen, die das weibliche Gehirn dank seiner hervorragenden internen Vernetzung als weitaus fähiger darstellen als das männliche Hirn, in welchem die beiden Hirnhälften deutlich weniger miteinander harmonieren.
Und es sind nicht nur die so genannten Soft Skills wie Empathie und Zuneigung, an denen Frauen ein Plus zu bieten haben. Es sind auch starke Befähigungen in der Logik, die den Männern oftmals abgehen und sie im Pläneschmieden deutlich unterliegen lassen.
Weitblick mit Umsicht ist schließlich auch eine Kunst, die dem männlichen Tunnelblick meist schlicht fehlt.
Und wer weiß, ob Frauen im Umweltschutz nicht ertragreicher denken und handeln können, als es sich die männlichen Firmenbosse auf beiden Seiten der Wirtschaftsmedaille so ausmalen.
Die Fähigkeit, auch mal zu verzichten, wenn das sinnvoll ist, müssen allerdings beide Geschlechter noch in viel höherem Maße lernen, als es derzeit der Fall ist.
Das ahnte wohl auch schon Leo Tolstoi. „Solange es Schlachthäuser gibt, solange wird es Kriege geben“, prophezeite er. Das kann man nicht oft genug zitieren. Und es beherzigen, indem man kaum Fleisch und Fleischprodukte kauft und verzehrt. Es gibt wirklich köstliche, viel gesündere Alternativen!
Und so wird ein in „Anna Karenina“ isoliert stehendes kleines, aber mit hohen Beinen melancholisch bezauberndes Solo von Yaiza Coll im weißen Nachtgewand mit einem Brief in der Hand zu einem Menetekel der Frauenkraft an sich; sie stellt Tatjana aus der Tschaikowsky-Oper „Eugen Onegin“ dar, die die unter Eifersucht leidende Anna Karenina zur Zerstreuung besucht. Gut gemacht!
Und doch siegt in Anna Kareninas Leben nicht immer die Liebe.
Die Botschaft der Liebe hat sie nie verstanden: Es geht nicht darum, sich in Abhängigkeit zu begeben und solchermaßen von einer Beziehung zur nächsten zu taumeln. Es geht auch nicht darum, sich von Eifersucht, Depression oder Langeweile auffressen zu lassen.
Die Botschaft der Liebe heißt Leben, und zwar im Guten.
Konflikte sind dazu da, dass sie gelöst werden, Probleme ebenso. Auch das gehört zur tätigen Liebe – ebenso wie der Wille, sich selbst nicht nur in den Vordergrund zu schieben, sondern auch auf die Gefühle und Interessen anderer Rücksicht zu nehmen.
Merkwürdigerweise praktiziert das sogar ein kühler Technokrat wie Karenin noch eher als seine himmelhochjauchzende, zu Tode betrübte Exfrau.
Das liegt an der literarischen Abstammung der Figuren, an ihrem – wenn auch poetisch gesonnenen – Schöpfer. Denn:
Leo Tolstoi war halt ein Mann, der zudem deutlich patriarchal ausgerichtet war – und aktive Taten gestand er nur Männern zu, Frauen aber niemals.
Karenin, der machtgeile Politheld vom Anfang, fühlt sich vereinsamt, nachdem Anna ihm in einem atemberaubenden Pas de trois von Wronski endgültig abspenstig gemacht wurde. Das Kind, das Anna auf der Bühne auf einem goldenen Metallbett gebar, taucht dann zwar nie wieder auf, ist aber wohl doch der Scheidungsgrund: Es ist von Wronski.
Zum Glück für Karenin hat er eine Sekretärin und Assistentin, die in der Lage ist, ihm jeden Gedanken von den Augen abzulesen.
Nicht nur Helmut Kohl ehelichte in zweiter Ehe aus solchem Grund seine Vorzimmerdame.
Auch Karenin entwickelt zu seiner emsigen Helfershelferin zärtliche Gefühle, und der Paartanz, der die beiden erotisch zueinanderfinden lässt, entbehrt nicht der passionierten, elegant-vielfältigen Momente.
Mit Mayo Arii ist der Part der Lydia aber auch passgenau besetzt. Sie fügt sich in die Rolle ein, als wäre sie ihr Leben, hingebungsvoll und von Kopf bis Fuß stimmig.
Mit dem kräftigen Carsten Jung bildet die superzarte Mayo Arii ein aufregendes Paar, und für Kenner vom Hamburg Ballett ist es ein schöner Zusatzgenuss, diese Bühnenpärchenkombination zu entdecken.
Aber natürlich ist auch diese Verbindung zwischen Chef und Angestellter nicht wirklich frei gewählt. Es handelt sich um eine Form der Zweckehe, die, in Ergänzung zur Vernunftehe von Lewin und Kitty, ebenso auf Vertrauen wie auf gemeinsamer Kasse aufbaut.
In beiden Fällen arbeitet die Frau dem Manne zu – ganz, wie es die Bibel und der Koran und all die anderen patriarchalen religiösen Machwerke und eben auch Tolstoi es beschreiben.
Fortschritt sähe natürlich ganz anders aus. Da bleibt auch mal der Mann daheim, wenn die Kinder schreien, und da darf die Frau sogar deutlich mehr verdienen oder mehr zu sagen haben als der Gatte, ohne, dass deshalb der Himmel der glücklichen Liebe einzustürzen droht.
Und das letzte Wort hat dann durchaus im Normalfall die Frau, während der Mann es genießt, dass sie Vieles besser beurteilen kann als er selbst.
Die Akzeptanz weiblicher Fähigkeiten ist aber leider derzeit noch keine besonders ausgeprägte männliche Tugend. Sonst hätten einfach viel mehr Frauen Möglichkeiten, beruflich nach oben zu kommen, auch, wenn sie nicht in die entsprechenden Positionen hineingeboren wurden oder sich gar nach oben schlafen, mit Trauschein oder ohne.
In Tolstois Welt ist die moderne Frau an sich sowieso überhaupt nicht vorstellbar, und daran krankt auch seine Verflechtung der Familienlegenden. Es handelt sich um Herrenmärchen, die davon ausgehen, dass Mädchen und Frauen weniger können als Männer und ihnen unterlegen sein sollen.
Die einzige Waffe der Frauen ist dann ihr Sexappeal.
Am Ende becirct denn auch die edle, in Pink sehr sexy wirkende Prinzessin Sorokina den süßen Wronski, Emily Mazon macht das ganz hervorragend und sehr überzeugend, und mal ganz abgesehen davon, dass dieser getanzte Flirt besonders hübsch anmutet, kränkt er die sich seit ihrer Scheidung gesellschaftlich isoliert sehende Anna Karenina zutiefst.
Sie hat ihren Platz im Leben verloren, und neuerdings – seit der kanadischen Erstaufführung von Neumeiers „Anna Karenina“ in Toronto, soweit ich weiß – verfolgt auch noch ein Paparazzo sie mit Blitzlichtkamera. Die geschiedene Politikergattin als Fressen für die Leser der Boulevardzeitung. Also: Keine BILD mehr kaufen, sonst gibt es womöglich verstärkt Selbstmorde von schönen Frauen…
Jedenfalls stirbt Anna im Moment eines solchen Kamerablitzes, sie fällt hinab, in einen Schacht, während vorn an der Rampe – wie schon den ganzen Abend – die Spielzeugeisenbahn ihres Sohnes eine symbolische unaufhörliche Lebensfahrt ableistet.
Eine Lady Di war sie nie, aber so banal zu sterben, hat Anna Karenina eigentlich auch nicht verdient.
Also, liebe männliche Choreografen, die ihr die Geschichte von Anna Karenina ja immer wieder inszenieren mögt: Beim nächsten Mal lasst die gute Frau doch bitte einfach leben.
Denn nicht jede, die sich vom Gatten trennt, endet in Wahnsinn oder Selbstmord. Wirklich nicht. Bleibt mal bei der Wahrheit, ihr Herren der Schöpfung, und gebt der Freiheit der Frauen ihre reelle Chance. Wenigstens auf der Bühne!
Wenn dann auch noch das Orchester insgesamt besser spielt als gestern das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, dessen Streicher trotz des sonst stets makellosen Dirigats von Simon Hewett teilweise den Geist aufzugeben schienen – was weder den sanft schwelgenden Musiken von Peter I. Tschaikowsky noch den schrägen Klängen von Alfred Schnittke wohltat – wäre schon mal fast alles in Butter.
Einige jazzige Passagen von Schnittke, die an die Zeit der sexuellen Revolution in den Seventies des letzten Jahrhunderts erinnern, spielte das Orchester gestern übrigens ausnehmend schön, mit gebotenem Stakkato, aber nicht zuviel Zersetzung in den einzelnen Klanggruppen.
Der jubelnde Applaus bestätigte den Debütanten wie den in ihren Parts versierten Künstlern vom Hamburg Ballett: „Anna Karenina“ ist auch in dieser Besetzung ein voller Erfolg.
Gisela Sonnenburg