Die ewige Schönheit des Balletts „Kirov Classics“: Historische Leckerbissen aus dem damaligen Kirov Theater (Mariinsky Theater): mit Anna Polikarpova in „Chopiniana“

"Chopiniana" alias "Les Sylphides" ist das erste abstrakte Ballett.

Was für ein Anblick! Ballerinen des Kirov Theaters zu dessen Blütezeit kurz nach 1990 in „Chopiniana“ auf der DVD „Kirov Classics“, die soeben bei Arthaus Musik neu aufgelegt wurde. Videostill: Gisela Sonnenburg

Dieser Wald ist verzaubert. Und dennoch residieren hier keine bösartigen „Wilis“, keine Rachegeister, sondern bezaubernd naive, tanzbegeisterte Elfen in langen weißen Tutus. Ein Galan, der gekleidet ist wie ein romantischer Poet, mit Schillerkragen, schwarzsamtener Weste und weißen Strumpfhosen, macht ihnen allen und zugleich keiner den Hof. Drei Primaballerinen stehen ihm zur Seite, unterstützen sein Schwärmen und Sehnen nach einer anderen Welt. Walzer, Mazurka und Prélude: Das Damencorps, eine Mischung aus „Wilis“ und Schwanenmädchen aus „Schwanensee“, assistiert – und bietet eines der schönsten Ballets blancs. Von den klassisch-romantischen Balletten ist es dabei das letzte „Weiße Ballett“, das kreiert wurde, und zugleich ist es das erste abstrakte Ballett, das entstand. 1907 wurde die erste Version in der Choreografie von Mikhail Fokine in Sankt Petersburg uraufgeführt, ein Jahr später folgte eine Überarbeitung. Die Ballets Russes in Paris nahmen das Stück zu Klängen von Frédéric Chopin unter dem Titel „Les Sylphides“ 1909 ins Repertoire, es ist das Glanzstück des damals noch jungen Fokine. Auf der von Arthaus neu aufgelegten DVD „Kirov Classics“, mit hsitorischen Highlights von 1991, findet sich, als größter Leckerbissen, die komplette halbstündige „Chopiniana“ – mit Konstantin Zaklinsky und der noch ganz jungen Anna Polikarpova.

Nur das Booklet der ansonsten fantastischen DVD ist zu rügen, das sei vorab gesagt, und da hilft es auch nichts, dass die Musik zusätzlich als CD, praktisch etwa für Autofahrer, der DVD angefügt ist. Aber im Heftchen steht noch nicht mal die komplette Besetzung, was wenigstens in der Beilage einer früheren Auflage dieser DVD gewährleistet war. Die interessanten historischen Unterlagen, die es zu den Tanzstücken und vor allem zu „Chopiniana“ gibt, bleiben ebenfalls außen vor; lediglich banal-oberflächliche Texte zum Kirov Theater und zu einigen der beteiligten Künstler sind bei Arthaus nachzulesen. Da sparte man offenkundig doch am falschen Fleck. Man hätte das Booklet auf-, nicht abrüsten sollen!

"Chopiniana" alias "Les Sylphides" ist das erste abstrakte Ballett.

Sanft trippeln die Damen über die Bühne… die Stimmung ist entrückt wie in „Schwanensee“ und poetisch wie in „Giselle“… zu sehen in „Chopiniana“ auf den „Kirov Classics“, soeben von Arthaus Musik neu herausgebracht. Videostill: Gisela Sonnenburg

Zumal das tänzerische Programm von „Kirov Classics“ wirklich superbe ist – und, abgeklopft auf seine Weihnachtsfähigkeit, unbedingt auch festtagstauglich. Selten ist die ewige Schönheit des Ballett, wie ich das unaussprechliche Glück, das Ballett schenken kann, so gut eingefangen wie hier. Da überzeugt die Kombination von „Chopiniana“ mit einer modernen, anrührenden Version von „Petruschka“ (Musik: Igor Strawinsky) schon an sich als schlüssiges Kontrastprogramm, das zugleich einen Abriss der Ära des Balletts zur Zeit des Falls des Eisernen Vorhangs gibt.

Es gibt ja Fachleute, die sagen, dass das Kirov, das später wieder Mariinsky hieß, nie wieder so gut war wie damals.

Nicht nur das renommierte Ballett, sondern die ganze Stadt veränderte sich in der Zeit der Aufnahmen für diese DVD. Aus Leningrad wurde im September 1991 wieder Sankt Petersburg. Und die privaten Theater und Tanztruppen, die sich gründeten, erhielten Auftrieb und zwangen das Mariinsky Theater zugleich zu einem nicht nur positiven Wettbewerbsverhalten. Aber auf dieser DVD ist die Welt noch in Ordnung, und das Ballett, das man sieht, zählt zu den weltbesten – in jeder Hinsicht.

Zu „Chopiniana“ und „Petrushka“ kommen noch Ausschnitte aus „Paquita“ und „Markitenka“. Passagen aus „The Fairy Doll“ („Die Puppenfee“) und „Le Corsaire“ sowie der „Barber’s Adagio“ zur berühmt-traurigen Musik von Samuel Barber komplettieren die DVD. Es sind alles zweifelsohne Leckereien vom Feinsten, getanzt von Stars wie Faroukh Ruzimatov und Yelena Pankova. Auch Olga Melnikova, die später Erste Solistin beim Semperoper Ballett in Dresden war und heute in Dresden an der Palucca Hochschule für Tanz unterrichtet, ist da als Jungballerina in einem romantischen Pas de six zu sehen.

"Chopiniana" alias "Les Sylphides" ist das erste abstrakte Ballett.

Auch ein schöner Rücken kann entzücken… so in „Chopiniana“ von Mikhail Fokine auf der DVD „Kirov Classics“ von Arthaus Musik. Videostill: Gisela Sonnenburg

Den eigentlichen Höhepunkt aber begründet und besiegelt die „Chopiniana“, die hier formvollendet und so reich an Poesie daher kommt, dass man befinden muss: Mit diesem Ballett beginnt die Ballettgeschichte neu. Tatsächlich handelt es sich ja um das erste sinfonische, also abstrakte Ballett – und zum Beispiel Werke von George Balanchine, wie seine „Serenade“, sind ohne „Chopiniana“ (im Westen später meist „Les Sylphides“ genannt, nach dem Titel der Pariser Erstaufführung) überhaupt nicht denkbar.

In seinen Memoiren hielt Choreograf Mikhail Fokine fest: „Für eine Wohltätigkeitsvorstellung in Petersburg choreografierte ich 1907 einige kurze Stücke von Chopin, darunter den von Glasunow instrumentierten cis-Moll-Walzer. Ich wählte diesen Walzer, weil ich ein Ballett auf der Spitze und in den langen Tutus der Taglioni-Epoche machen wollte und die meisten anderen Walzer zu sehr Charaktertanz verlangen.“ Die Sache schlug ein wie eine Bombe – das Publikum war enthusiastisch. Musste man in „Schwanensee“, „Les Sylphides“ und „Giselle“ immer umständlich auf die atemberaubend schönen „weißen Akte“ warten, gab es sie hier direkt serviert.

"Chopiniana" alias "Les Sylphides" ist das erste abstrakte Ballett.

Ein sanfter Übergang von Kameraeinstellung zu Kameraeinstellung. „Chopiniana“ in den „Kirov Classics“, die von Arthaus Musik in Zusammenarbeit mit Monarda Arts gerade neu aufgelegt wurden. Videostill: Gisela Sonnenburg

Fokine weiter: „Dadurch ermutigt, schuf ich dann im März 1908 für eine Vorstellung des Marientheaters (Mariinsky, d. Red.) meine ‚Zweite Chopiniana’. Ich beabsichtigte, mit diesem Ballett den unberechtigten Vorwurf zurückzuweisen, dass ich den Tanz auf der Spitze ablehnte.“ Vielmehr wollte Fokine zurück zu den Wurzeln: „ Ich kam zu der Überzeugung, dass das Ballett und der Spitzentanz in dem Streben nach immer akrobatischeren Kunststücken die Wirkung eingebüßt hatten, die ihre Erfinder ihnen zugedacht hatten.“ Anhand von Fotos und Lithografien aus der romantischen Periode – die Ballerinen wie Marie Taglioni und Carlotta Grisi zeigen – kam Fokine die Erkenntnis, dass es nicht um Brillanz gehen müsse, sondern um die Vermittlung von Poesie. Darum ist der tanzende Mann hier – die eigentliche Identifikationsfigur, der Träumer, dessen Fantasie die weißen Damen entsteigen – auch wie ein Dichter gekleidet, frei nach Friedrich Schiller und Lord Byron sozusagen.

Interessant auch die Herstellung der Kostüme der Damen: „In der Absicht, Geld zu sparen, wurden die Kostüme nach einer besonders sparsamen Methode hergestellt. Von alten Ballettkostümen trennten wir die längsten Tutus ab, fügten zusätzliche hinzu und nähten sie mit den Miedern zusammen.“ Der Stil orientierte sich dabei an Zeichnungen, die Léon Bakst 1907 für Anna Pawlowa gemacht hatte. Das erwünschte Ergebnis in den Augen von Fokine: „Ich war von lauter Taglionis umgeben.“

Dabei kommt dem männlichen Part auch eine besondere Rolle zu. Mikhail Fokine: „Ich bin geneigt zu glauben, dass das Nijinskys Rolle in ‚Les Sylphides’ eine von seinen besten war.“

"Chopiniana" alias "Les Sylphides" ist das erste abstrakte Ballett.

Weiblichkeit und Abstraktion: „Chopiniana“, das erste abstrakte Ballett, begeistert auf der neu aufgelegten DVD (mit angefügter CD) „Kirov Classics“ von Arthaus Musik / Monarda Arts. Videostill: Gisela Sonnenburg

Dem muss man vielleicht nicht zustimmen, wenn man an „Le Spectre de la Rose“ denkt, das ebenfalls von Fokine choreografiert worden war. Aber nachdenklich stimmt das Urteil des Choreografen über sein eigenes Werk dennoch. Er begründet die Magie der männlichen Partie in „Les Sylphides“ („Chopiniana“) ja auch: „Dem Ballett liegt kein Libretto zugrunde… Aber Nijinskys Partie darin würde ich immer als Rolle bezeichnen und nicht als einen rein tänzerischen Part… er war hier die Personifikation einer poetischen Vision.“ Und weiter: „Die Rolle verlangt einen Jüngling, einen Träumer, der den schönen Dingen des Lebens zugewandt ist.“ Um diese gemeinte, durchaus rätselhafte Qualität auszudrücken, so Fokine, „bedarf es einer besonderen tänzerischen Spiritualität.“

Mit Konstantin Zaklinsky, der 1988 schon mit Natalia Makarova in London getanzt hatte, ist diese Spiritualität sicher erreicht. Sein Flair erinnert an den späteren Superstar Vladimir Malakhov, wiewohl er sich in „Chopiniana“ bewusst zurück halten muss. Denn wie Fokine es benennt: Es geht hier nicht um das Zurschaustellen à la „Seht her, wie gut ich tanze!“ Sondern: um das „Eintauchen in eine phantastische Welt“.

Und das gilt nicht nur für den Part des Herren. Auch die Damen hier kommen von weither, um uns zu poetisieren.

Mit Anna Polikarpova ist sozusagen auch ein Überraschungsstar dabei. Die spätere Primaballerina von John Neumeier beim Hamburg Ballett, die 2014 ihren Bühnenabschied nahm und als Lehrerin auf Neumeiers Ballettschule anheuerte, zeigt im „Prélude“ von „Chopiniana“ ihre vor allem feminine starke Ausstrahlung. Sowie ihre Präzision, ihre Geschmeidigkeit und ihre Hingabe an die Musik. Da ist jede Linie der wirklich wunderschön geformten, gar nicht mageren Ballerina eine Wohltat, sie ist ein kleines Weltwunder für sich, vom hoheitlich anmutigen Köpfchen bis zur elegant gestreckten Fußspitze.

"Chopiniana" alias "Les Sylphides" ist das erste abstrakte Ballett.

Feinste Linien: Die Tänzerinnen des Kirov galten und gelten als mit die besten überhaupt… auch, was den Ausdruck angeht. Zu sehen in „Chopiniana“ auf der DVD „Kirov Classics“ von Arthaus Musik. Videostill: Gisela Sonnenburg

Allerdings verriet mir Anna mal, dass ihre Fußarbeit erst in Hamburg für sie selbst wirklich zufrieden stellend wurde. Die Ballettmeisterin Giselle Roberge, so Anna Polikarpova, habe ihr beigebracht, ihren Füßen mehr Aufmerksamkeit zu schenken und durch das bewusste Hinsehen beim Trainieren noch mehr Gefühl und Pose in den Fuß zu bekommen.

Ausgebildet wurde „Poli“, so ihr neckisches Kürzel, aber auch nicht ganz schlecht: am berühmten Vaganova Institut im damaligen Leningrad. Sie stammt übrigens aus Tomsk, aus Sibirien, und es ist der gezielten Talenteförderung der Sowjetunion zu verdanken, dass sie Ballerina wurde. Aber als sie auf einer Gala den „Mirror-in-a-mirror“-Pas de deux aus „Othello“ von John Neumeier sah, war es um sie geschehen. Sie schickte ein Video von sich nach Hamburg. Und sie wurde zu einem Vortanzen eingeladen. Weil dieses aus zeitlichen Gründen nicht zustande kam, engagierte Neumeier sie 1992 nur nach dem eingeschickten Video – das ist einmalig in der Geschichte des Hamburg Balletts.

"Chopiniana" alias "Les Sylphides" ist das erste abstrakte Ballett.

Ein Penché erster poetischer Güte: Anna Polikarpova und Konstantin Zaklinsky in „Chopiniana“ auf der DVD „Kirov Classics“, soeben bei Arthaus Musik neu erschienen. Videostill: Gisela Sonnenburg

Aber die Zeitläufte damals waren eben auch besondere. Der Kalte Krieg war soeben beendet, die Islamisten ließen sich noch nicht mal am Horizont der Geschichte blicken, und alle waren hoffnungsfroh gestimmt. Wer seinen Glauben an eine bessere Welt nicht verlieren will, dem sei diese DVD ans Herz gelegt!
Gisela Sonnenburg

„Kirov Classics“, Special Edition, DVD + CD, Arthaus Musik (mit Monarda Arts), Cat. No. NTSC 101 798

Fokines „Memoirs of a Ballet Master“ sind leider vergriffen.

 

 

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