Das Dresdner Ballettwunder Wenn István Simon die tolle „Manon“ Melissa Hamilton beim Semperoper Ballett küsst, dann brennt die Bühnenluft: Dresden als Ballettmekka

"Manon" ist auch in der dritten Besetzung in Dresden ein Knüller.

István Simon als Des Grieux: Auch in der dritten Besetzung ist „Manon“ beim Semperoper Ballett ein Knüller! Foto: Ian Whalen

Es ist soweit. Seit einigen Jahren erscheint mir das Semperoper Ballett in Dresden immer stärker zu werden, es war für mich unübersehbar, dass da eine international bedeutende Compagnie mit einem hoch interessanten Programm heranwächst. Jetzt muss ich es ausrufen, das Dresdner Ballettwunder, denn was hier mit „Manon“ von Kenneth MacMillan schon in der dritten Besetzung in knapp zwei Wochen geleistet wird, ist einfach phänomenal. Jeder Ballettoman, der das nicht gesehen hat, ist zu bemitleiden! In dieser Einstudierung stimmt im Großen und Ganzen alles: jedes Quäntchen an Stimmung. Jede Arabeske, jeder Blick. Jede Geste, jeder Hüpfer. Es stimmt jede glamouröse Hebung, jeder grandiose Sprung, jede herzzerreißende Pose, jedes komische Moment. Die Linien sind wunderschön und ausdrucksstark, und wenn sich Melissa Hamilton als Manon und István Simon als ihr Geliebter in die Augen schauen, erhält das Wort Liebe eine neue Versinnbildlichung.

"Manon" ist auch in der dritten Besetzung in Dresden ein Knüller.

Er beeindruckt sie mit Soli – hier beim ersten Mal, vor dem ersten Pas de deux. István Simon als Des Grieux und die unvergleichliche Melissa Hamilton als Titelfigur „Manon“ in der Semperoper in Dresden. Foto: Ian Whalen

Glück pur ist diese Liebe allerdings nicht. Wir haben es dabei mit einer dialektischen Bewegung zu tun: Einerseits lenkt die Verknalltheit des Jünglings, der sehr religiös ist, und dem leichten Mädchen, das nach Reichtum strebt, die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart. Der Moment an sich wird dadurch wichtig. Andererseits aber zieht diese Verbindung zwischen zwei Ungleichen zugleich in eine Welt aus Traum und Schein, lenkt also von der Realität, dem Barockzeitalter in Paris, ab.

Es ist wie im Hollywoodfilm mit spätromantischer Anmutung: Die Außenwelt verschwindet hinter dem gefühligen Einerlei der Liebenden – und sie müssen scheitern, aus tragischer Notwendigkeit.

Die höhere Wahrheit darin dürfte jedem schon mal nahe gekommen sein: Wenn zwei Menschen sehr verliebt sind, kann es nämlich sein, dass sie die Realität völlig aus den Augen verlieren. Sie nehmen sie einfach nicht mehr wahr.

"Manon" ist auch in der dritten Besetzung in Dresden ein Knüller.

Noch eine Arabeske: Des Grieux tanzt im Adagio-Stil, wenn er über etwas nachdenkt… hier István Simon in „Manon“ von Kenneth MacMillan in Dresden. Foto: Ian Whalen

Sie übersehen, was ihnen – und auch ihrer Liebe – schadet, und sie blenden die Gefahren wie auch die Möglichkeiten, sie zu überleben, rigoros aus. Sie wollen nur noch für den schnellen Genuss des anderen existieren – und verscherzen sich gerade dadurch die Gelegenheit, miteinander ein neues Leben zu beginnen. Sie werden von den äußeren Ereignissen überrollt, sie haben keinen Plan und keinen Schutz, der sie retten könnte. Sie haben nicht mal mehr die Kraft dazu, sich zu wehren. So ergeht es hier dem Liebespaar Manon und Des Grieux.

Zu Beginn ist alles noch so hoffnungsvoll. Munter entfaltet sich ein barockes Treiben, und sich hier zu verlieben, dürfte nicht allzu schwer fallen: Die Gelüste der Sinne werden ohnehin gereizt.

Lescaut, der Bruder der Hauptperson, bestimmt – von Denis Veginy mit unter die Haut gehendem Sinn für die Brillanz der Groteske getanzt und dargestellt – das Geschehen. Es geht ums Verkuppeln! Bettler sind da und Dirnen, und ein Wagen mit Kahlgeschorenen mahnt: Achtung, das leichte Leben wird bestraft!

Aber die Genusssucht und auch der Überlebenszwang treiben viele hübsche Mädchen in die Prostitution, das war im Barock nicht anders als es heute ist. Kenneth MacMillan, der Choreograf, schuf in den 70er Jahren ein Tableau, das mit Kostümen und Bühnenbild in einem fiktiven Barock vor oder nach der Revolution von 1789 spielt (Ausstattung hier: Peter Farmer – geschmackvoll, ästhetisch, dennoch sinnenfreudig).

"Manon" ist auch in der dritten Besetzung in Dresden ein Knüller.

Elegant bis vulgär, wie es die Rolle verlangt: Courtney Richardson als Lescauts Geliebte in „Manon“ beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Ian Whalen

Als Lescauts Geliebte reüssiert in dieser Besetzung die außergewöhnliche Courtney Richardson, die ihrer tragikomischen Rolle entsprechende Doppelbödigkeit verleiht. Denn einerseits fühlt Lescauts Geliebte (die von MacMillan noch nicht mal einen eigenen Namen erhielt) sich erfolgreich: mit schicker roter Lockenperücke und glitzerndem Schmuck trumpft sie auf. Andererseits schickt ihr Liebhaber sie anschaffen, eben für die Perücke und den Schmuck. Richardson trifft, zwischen Vornehmheit und Vulgarität changierend, in ihrem Solo genau den tänzerischen Ton!

Die Hauptattraktion aber ist Manon! Melissa Hamilton entsteigt mit so viel Grazie ihrer Kutsche, dass man niederknien und sie verehren möchte. Aber es ist nur die natürliche Anmut eines einfachen jungen Mädchens, das – so war das im Barock – sich bereits fühlt wie eine Erwachsene…

Sie verabschiedet sich von ihren kleinen Geschwistern – und schaut zuversichtlich in einen neuen Lebensabschnitt. Endlich ist sie der Enge des kleinbürgerlichen Elternhauses entronnen! Sie entfaltet dabei allen Lebensmut, den ein Teenager nur fühlen kann.

Ihr Bruder Lescaut, dieser charmante Zuhälter, wird ihre Geschicke fortan lenken, denn ins Kloster will sie nicht – und die große Welt Paris hat schon lockend ihre Netze nach der für Luxus sehr empfänglichen Manon ausgeworfen.

Des Grieux hingegen kommt aus der religiösen Welt des Priesterseminars. Er glaubt an Gott und die heiligen Sakramente, er hat Ehrfurcht vor der Rangordnung der Katholischen Kirche, und die Liebe zu einer Frau, noch dazu niederen Stands, trifft ihn wie ein Schlag, aus heiterem Himmel. Umso ungeschützter nimmt sie seine Seele gefangen.

"Manon" ist auch in der dritten Besetzung in Dresden ein Knüller.

Er ist nur scheinbar in sich gefestigt: Des Grieux, psychologisch durchgefeilt getanzt von István Simon, hier unterlegend liegend mit dem stehenden, virtuos-grotesken Denis Veginy als Lescaut in Dresden. Foto: Ian Whalen

István Simon spielt das scheinbare Gefestigtsein dieses jungen Mannes wunderbar. Die Anmachen zweier Kurtisanen lehnt er genervt ab, mit Unverständnis im Blick – solche einfachen Reize des Fleisches sind nichts für ihn. Da zieht er seinen Katechismus, in dem er blättert, vor. Theologische Probleme scheinen ihm die wichtigsten in der Welt, das sieht man ihm an – und man ahnt, dass hinter der Fassade des eifrigen Studenten etwas brach liegt.

Als Manon erscheint, sieht er hin – und wieder und wieder und wieder… Ist sie eine Madonna? Kurz gelingt es ihm, sie für seinen Katechismus zu interessieren. Doch Lescaut treibt sie auseinander. Dann bemerkt Des Grieux, dass Manon für Anderes mehr Blicke hat. Ist das nicht normal für so ein junges Ding? Warum sollte sie eine Heilige sein?

Er wird erfinderisch, läuft, scheinbar in seinem Buch lesend, rückwärts auf sie zu. Es klappt, er rempelt sie scheinbar unabsichtlich an – und es gibt auch gleich einen angenehmen Körperkontakt! Man muss mutmaßen, woher ein Des Grieux diesen Trick kennt. Nun gibt es unter angehenden Priestern und Theologen bekanntlich häufig homosexuelle Spannungen und Interaktionen. Von daher wird Des Grieux schon selbst mal auf diese Art angerempelt worden sein, und vermutlich hat sein Gegenüber damals auch scheinbar ganz vertieft in einem Buch geblättert.

Für Manon aber ist das hier alles neu. Sie sieht nur den Blick von Des Grieux und seine stattlichen Schultern. Sie lässt sich darauf ein, mit ihm allein zu sein – und sie sieht ihm zu, als er versucht, sie mit einem Solo zu beeindrucken.

Seine hierin gezeigte anfängliche Zurückhaltung – die sich in einer Art Introvertiertheit äußert – weicht bald einer offenen Lust am Werben. Kein Wunder, denn er wird erhört, der Schöne. Melissa Hamilton vermag es, mit kleinsten Regungen eine maximale Wirkung zu erzeugen. Sie ist wahrlich eine große Künstlerin! Sie verliebt sich in Des Grieux, weil er ohne Rückhalt um sie wirbt. Weil er nicht eine halbe Stunde erotische Tändelei verlangt. Sondern weil er ihr sein Leben offenbart.

Melissa Hamilton genießt das. Wie ein Porzellanpüppchen sitzt sie da, aber jede kleinste Bewegung von ihr ist bedeutungsvoll.

Manon ist ihr als Rolle so vertraut, dass man jedes Mal, wenn man sie wieder als Manon sieht, den Eindruck hat, die Figur sei für sie kreiert.

"Manon" ist auch in der dritten Besetzung in Dresden ein Knüller.

Zart, ätherisch, am Ende wie vergeistigt: Melissa Hamilton als „Manon“ in der Semperoper in Dresden. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Es ist wirklich selten, dass eine international renommierte Ballerina, die ja ein großes Repertoire hat und sowohl klassische als auch zeitgenössische Stücke tanzt, sich eine Partie so derart anzueignen weiß. Oft ist ja auch der Widerspruch zwischen der Choreografie und dem Naturell einer Ballerina durchaus reizvoll. Aber hier haben wir es mit einer Passgenauigkeit zu tun, die einfach nur hinreißend ist!

So befeuern sich Hamilton und Simon, sie flirten ohne großen Aufwand, aber wenn sie einander in die Augen sehen und im anderen, metaphorisch gesagt, versinken, ist das vielleicht einer der Urgründe überhaupt, warum man sich für Kunst und speziell für Ballett interessiert.

Den sich langsam öffnenden Arabesken von István Simons Des Grieux, die von großer Liebesfähigkeit und auch Sehnsucht danach zu lieben künden, schließt sich denn auch der erste Pas de deux des Paares an.

Doch die Beziehung der beiden steigert sich, von Pas de deux zu Pas de deux.

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Sie steigern sich von Paartanz zu Paartanz, wie ihre Liebe: „Manon“ Melissa Hamilton und Des Grieux (István Simon) beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Ian Whalen

Hamilton ist hierin so feingliedrig wie eine Elfe, aber so lebensbejahend wie eine Folkloretänzerin. Sie hat diese Mischung aus ätherischer Anmut und temperamentvollem Gestus. Wer würde da nicht hinschmelzen!

Ihrem jeweiligen Partner passt sie sich an, als sei sie nur für ihn ausgebildet worden. Ich habe schon viele tolle Primaballerinen gesehen. Aber so eine Befähigung für den Paartanz wie bei Melissa Hamilton dürfte in der gesamten Ballettgeschichte äußerst selten sein.

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István Simon vom Semperoper Ballett ist ein eleganter, fürsorglicher Des Grieux mit der speziellen Sehnsucht nach Liebe im Blick. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Simon ergänzt das mit seiner hervorragend ausgebildeten ballettösen Männlichkeit. Er hebt, ohne plakativ zu stemmen, er führt, ohne zu zerren. Er leitet, ohne zu schubsen, und er wirbelt seine Partnerin herum, ohne sie wie einen Gegenstand zu behandeln. Sie sind ein organisches Paar, die beiden, und wüsste man nicht, dass Ballett nun mal eine sehr schwer auszuübende Kunst ist und hier ganz sicher harte Arbeit hinter dem künstlerischen Resultat steht, man könnte glauben, die zwei hätten sozusagen im Traum zueinander gefunden und weiter kein Problem miteinander.

Es ist ja selten, dass ein Primoballerino über seine Rollenfigur sprechen kann, als sei er zugleich der Dramaturg. István Simon ist so ein Ausnahmetänzer – und das ist er ohnehin in mehreren Hinsichten (siehe auch das Portrait von ihm im ballett-journal.de, Link siehe Abspann).

"Manon" ist auch in der dritten Besetzung in Dresden ein Knüller.

Ein Werbetrailer des ROH zeigt auch dieses historische Foto von „Manon“. Eine Wowowow-Pose!  Später dozierte der Startänzer Zoltan Solymosi in Budapest… und schulte dort István Simon. Quelle: youtube / Courtesy: ROH / Videostill: Gisela Sonnenburg

Mit der Rolle des Des Grieux wuchs er gewissermaßen auf. Denn einer seiner Lehrer an der Ballettakademie in Budapest war Zoltan Solymosi, der als Erster Solist beim Royal Ballet in London den Des Grieux tanzte – mit berühmten Ballerinen wie Darcey Bussell und, vor allem, der Jahrhundertballerina Sylvie Guillem.

Solymosi, so Simon, habe ihm im Repertoire-Unterricht beigebracht, wie man eine Rolle aufbaut, wie man auf der Bühne mit dem Publikum kommunziert und wie man eine Aura erzeugt. Ich schätze ja Künstler sehr, die offen darüber sprechen, dass auch die große Faszination ihrer persönlichen Ausstrahlung zu einem gewissen Maß das Ergebnis von handwerklich-künstlerischer Arbeit ist, und keineswegs einfach nur ein angeborenes Talent.

Die MacMillan-Spezialisten Karl Burnett und Patricia Ruanne kamen als Gast-Coachs nach Dresden, um mit den Tänzern die „Manon“ zu lernen. Und während Burnett das gesamte Ballett einstudierte, konzentrierte sich Ruanne, in der Schlussphase der Proben, auf die Kernstücke. „Sie gab allem eine Seele“, sagt István Simon.

Und er ergänzt: „Ich möchte auch unserem Dresdner Ersten Ballettmeister Gamal Gouda danken. Auch er hat viel mit uns gearbeitet – und uns mit seiner Kompetenz unterstützt.“

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Eine lebenslustige Dame der Halbwelt: Courtney Richardson als Lescauts Geliebte beim Semperoper Ballett in „Manon“. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Die Teamarbeit ist wichtig, um die Essenz einer jeweiligen Bewegungsphrase auch wirklich herauszukristallisieren und zum Ausdruck zu bringen. „Fine tuning“, feines Justieren, nennt István Simon das – Balletttänzer begreifen sich ja als die lebenden Instrumente ihrer eigenen Kunst.

István verließ sich zudem nicht allein auf das, was im Ballettsaal stattfand. Er recherchierte auch den Charakter und die Struktur seiner Rolle. Auch, wie die Menschen im Barockzeitalter lebten, interessierte ihn.

Zwei Dinge schienen ihm dabei herauszustechen: zum Einen, dass Des Grieux sehr jung ist und kaum über Lebenserfahrung verfügt. Zum Anderen aber, sagt István Simon, hat er im Stück keine Möglichkeit, sich zu entwickeln. Er soll ein abschreckendes Beispiel darstellen – und all das durchleiden, das man durch bewussteres oder klügeres Verhalten eigentlich vermeiden sollte.

„Ich möchte auch offen lassen, ob er Manon wirklich liebt oder ob es nur die übergroße erotische Anziehungskraft zwischen den beiden ist, die ihn beherrscht“, sagt der Primoballerino, ganz unprätentiös.

Aber: „Des Grieux ist ein sehr schwieriger Charakter, gerade weil er sich nicht ändert im Stück.“ Der Glaube an die Liebe zu Manon ersetzt ihm den Glauben an Gott und die Kirche. Darüber hinaus hat Des Grieux keine Möglichkeit, seinem Leben einen tieferen Sinn zu verleihen. All sein Streben gilt fortan der übermächtigen Liebe. Vulgo: Der junge Held Des Grieux liebt Manon und folgt seiner Heldin darum bis ins Bordell – und schließlich sogar bis in die USA, wo sie als verhaftete Prostituierte in eine Strafkolonie geschickt werden soll.

Und: „Er findet für seine Liebe nie wirklich einen Weg.“ Vor dem Hintergrund des tragischen Schicksals, das absehbar ist, genießt das Liebespaar jeden Moment miteinander umso mehr.

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Noch ein Vorhang! Applaus für Melissa Hamilton und István Simon nach „Manon“. Foto: Gisela Sonnenburg

Der zweite Pas de deux dieser beiden ist ein Höhepunkt der Weltliteratur des Balletts. Sie glauben – ganz naiv, ganz weltflüchtig – an eine gemeinsame Zukunft, sie leben aber vor allem ganz dem Augenblick. Jede Hebung ein Liebesschwur! Wir sehen Romeo und Julia nach ihrer ersten Nacht, sozusagen – und die Macht des Eros umhüllt sie wie ein unfassbarer Zauber.

Als Lescaut, der Bruder Manons, ihr aber bald einen reichen Verehrer vermittelt, glänzen dessen Geschenke ebenso unwiderstehlich. Manon kennt die Sexiness, die von Luxusartikeln ausgeht. Ob Des Grieux davon auch nur die leiseste Ahnung hat?

In Manon kämpfen diese beiden Prinzipien wie zwei Rettungsanker in einem ansonsten verlorenen Leben: ihre Liebe und ihre Sucht nach Luxus.

Und mögen die Küsse zwischen Manon und Des Grieux gerade in dieser Besetzung von Melissa Hamilton und István Simon noch so voll Liebe und Passion sein – für eine Manon hat das Glitzern des Reichtums immer auch seine Berechtigung.

"Manon" ist auch in der dritten Besetzung in Dresden ein Knüller.

Denis Veginy tanzt den durchtriebenen, aber charmanten Lescaut in „Manon“ – bravissimo! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

So unterliegt Des Grieux im Streit darüber, ob Manon für Geld und Geschmeide fremd gehen soll. Lescaut, also Denis Veginy, macht ihm unmissverständlich klar, dass Manon sowohl ihn, Lescaut, als auch Des Grieux auf diese Art ernähren soll. Der junge Liebende lässt sich mit Gewalt überzeugen – und außer mit Betrug im Spiel, was ihm wiederum Lescaut vorschlägt, sieht er keine Möglichkeit, in Manons Welt dazu zu gehören. Aber auch damit scheitert Des Grieux, er wird erwischt – und Manon wird, letztlich auch durch seine Schuld, wegen Hurerei verhaftet.

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Auch brillant: Die Tänzer der Bettler in „Manon“ in Dresden, allen voran Houston Thomas, der hier mit seiner Beute, einer Taschenuhr, wedelt. Foto: Ian Whalen

Lescaut aber wird vom Schicksal übermäßig hart bestraft: G. M., der betrogene Verehrer der Manon, erschießt ihn, nachdem man ihn gefoltert hat, um ein auch Manon belastendes Geständnis von ihm zu erpressen.

Des Grieux sieht sich im Strudel der Geschehnisse nur noch als Liebender. Er folgt Manon als ihr angeblicher Ehemann.

Zu Beginn des dritten Akts kommen sie in Amerika an. Die munteren Dirnen aus den Bordell sind zu einer ergreifenden Schar traumatisierter Mädchen mutiert.

"Manon" ist auch in der dritten Besetzung in Dresden ein Knüller.

Buntes Treiben im Bordell, in dem man große Welt spielt… Das Semperoper Ballett in Dresden mit „Manon“. Foto: Ian Whalen

Barfuß, mit kurz geschnittenen Haaren, in abgerissenen Kleidern, verelendet, erschöpft, fast verhungert – Strafgefangene wurden im Barock nicht gut behandelt. MacMillans Choreografie verleiht ihnen dennoch Würde, legt aber auch den Finger in die Wunde: Man strafte die Frauen für das Begehren der Männer ab.

Sie halten sich den Kopf, lassen ihn kummervoll kreisen. Sie sehen keinen Ausweg mehr, es geht, wie in so vielen Straflagern in der Menschheitsgeschichte, nur noch ums blanke Überleben.

Das Corps des Semperoper Balletts tanzt auch diese Szenen mit so inbrünstiger Hingabe und detailgerechter Einstudierung, dass man zutiefst gerührt ist. Da sind die Wachmänner, die in hohen Grand Jetés ihre Gesundheit und ihre Überlegenheit demonstrieren. Aber sogar in ihrem verelendeten Zustand geht von den einstigen Freudenmädchen noch etwas Sinnliches aus.

"Manon" ist auch in der dritten Besetzung in Dresden ein Knüller.

Auch die Kollegen applaudieren: Solisten und Corps de ballet beim Schlussapplaus mit den Darstellern des Liebespaares vorne, am 19. November 2015 in der Semperoper in Dresden. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Die Außenwelt aber wird zunehmend düster in diesem Stück, und als Realität gibt es bald nur noch Feindschaft. Die Liebe als einzig heller Fleck in einer ungerechten, hartherzigen, armseligen, von Elend geprägten Umwelt.

„Es geht ja um eine korrupte, bösartige und vorrevolutionäre Gesellschaft, in der die Liebe keinen Platz hat“, sagt István Simon. Und man könnte sich an die Neureichenverhältnisse von heute erinnert fühlen, wenn er weiter feststellt: „Diejenigen, die die Macht haben, kennen in ‚Manon’ kein Maß mehr.“

Manon wird von Des Grieux gestützt. István Simon ist hier ganz der fürsorgliche Gatte. Wenigstens ist das Paar zusammen – und Melissa Hamilton tanzt die schon vergeistigte Manon mit einer solchen Hingabe, dass man auf die Bühne springen und sie retten möchte.

Die lange Überfahrt nach Amerika – unter grauenvollen Bedingungen – hat Manon geschwächt. Dennoch strahlt unter dem Schmutz ihre Schönheit. Und als der Gefangenenaufseher in New Orleans von ihr sexuelle Dienste verlangt, kann sie sich nicht lange wehren. Das arme Mädchen wird nochmals Opfer. Laurent Guilbaud stellt den hämischen Aufseher sehr glaubhaft dar, mit Lüsternheit und Skrupellosigkeit.

Als Des Grieux im Büro des Aufsehers auftaucht, ist ihm auf den ersten Blick klar, was geschehen ist. Er bringt den Täter mit einem Messer um. Planlos, kopflos. Die beiden müssen sofort fliehen – und Manon verendet, in den Armen Des Grieux’, in den Sümpfen von Louisiana.

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Raphael Coumes-Marquet beim Schlussapplaus: Er tanzt mit großer Ruhe und Souveränität den dekadenten G. M., den reichen Verehrer Manons, der ihren Bruder erschießt. Foto: Gisela Sonnenburg

Ihre Erinnerungen und ihr letzter großer Pas de deux – ein Meisterwerk der Choreografie, hier mit großartiger Kühnheit und visionärer Kraft interpretiert – sind die letzten frohen Bilder, die wir sehen.

Da kommt Manon anfänglich kaum noch auf die Füße, doch dann wirft István Simon sie in Spiralwürfen empor, fängt sie sicher auf, und sie finden sich in nachgerade paradiesischen Posen wieder.

Hamilton und Simon tanzen diesen Schluss-Pas de deux mit einer Leidenschaft, als sei es der letzte Tanz überhaupt der Weltgeschichte. Mit jedem Atemzug, so scheint es, beschwören sie noch einmal ihre Liebe. Manons Kräfte werden immer schwächer, aber immer wieder nimmt sie sich zusammen, powert noch einmal, noch einmal, noch einmal – und sie stirbt bei ihrem letzten Sprung in seine Arme. Er bettet sie nieder, er kann es kaum fassen, sein Grauen ist unseres – Manon ist tot.

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Melissa Hamilton als „Manon“ und István Simon als Des Grieux: Sie lieben sich – und erinnern, zum Beispiel in dieser Pose am Ende ihres ersten Pas de deux – an die Urbesetzung mit Anthony Dowell und Antoinette Sibley. Foto: Ian Whalen

„Fair is foul and foul is fair“, „gut ist schlecht und schlecht ist gut“, lautet einer der berühmtesten Sätze Shakespeares, er stammt aus den Hexenversen in „Macbeth“. Die Verkehrung der Sitten erzeugt auch in „Manon“ einen starken Druck innerhalb der Gesellschaft – und es ist kein Zufall, wenn die wahre erotische Liebe als einzige Anschubkraft dagegen aufgeführt wird.

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Ein Video des Royal Ballet aus London zeigt eine historische Fotografie: Anthony Dowell und Antoinette Sibley in „Manon“, am Ende des ersten Pas de deux. Videstill von youtube / Courtesy: ROH: Gisela Sonnenburg

Wenn man zudem alte Fotos besieht, fällt einem auf: In manchen Momenten, so im ersten und im Schluss-Pas de deux, erinnert das Duo Hamilton-Simon an die Urbesetzung in „Manon“, also an Antoinette Sibley und Anthony Dowell, die 1974 das Stück zur Uraufführung brachten: Da ist so ein Flair von unterschwellig dunkler Spannung unter einer hell gleißenden Glücksvorstellung zu spüren…

Auch mit der Musik passt sich das ein, und auch hier, also akustisch, wehren sich die dunkel schimmernden Bereiche gegen die munteren, bedenkenlosen Glücksversprechen der hellen Melodien.

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Kenneth MacMIllan 1974 bei der Probe – der Werbetrailer des ROH zeigt auf youtube auch dieses Foto. Videostill: Gisela Sonnenburg

Die Sächsische Staatskapelle spielt in dieser Besetzung unter dem schier jede einzelne Note auskostenden britischen Dirigenten Martin Yates, der die gesamte Partitur 2011 neu orchestrierte. Er genießt die schwelgend-erblühenden Kompositionen von Jules Massenet, betont aber, im Gegensatz zu Paul Connelly, der – ebenso passioniert – die Premiere dirigierte, die dunklen Lagen.

Es ist aber auch schwer, Musik zu finden, die im Ausdruck so „französisch“ ist wie Massenet: also stolz und sanft, verspielt und pathetisch, lieblich und hehr zugleich. Hier perlen diese Klänge in aufeinander fallenden Harmonien mit ebensolcher Eleganz und solcher Gutmütigkeit, wie ihre melodischen Stränge sich nur darum spreizen, um sich dann wieder zusammen zu finden. Wäre das Bühnengeschehen nicht so ansprechend, man müsste die Augen schließen, um das Spiel der Musiker noch konzentrierter zu genießen.

Man wünscht sich eine Einspielung dieses Harmoniewunders! Und warum nicht gleich eine DVD oder ein Album mit der ganzen Aufführung?! Nicht nur die Musik-, auch die Tanzkünstler hätten es verdient. Und vor allem: das Publikum.

Denn die „Manon“-Aufnahme des Royal Ballet aus London von 2008 – mit der heutigen künstlerischen Direktorin des English National Ballet, Tamara Rojo, in der Titelrolle – ist längst vergriffen.

DVD-Produzenten, hergehört: Hier wird ein Notstand ausgerufen! Holt Euch die Rechte für „Manon“ – und bringt sie mit der Semperoper auf den Markt! Zwei Aufführungen in der kommenden Spielzeit müssten genügen, um eine zeitlos-schöne Inszenierung unkompliziert dem breiten Publikum zugänglich zu machen.

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Beim Wiener Staatsballett reüssierten Maria Yakovleva in der Titelrolle der „Manon“ und Friedemann Vogel als Gaststar als Des Grieux. Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Die Inszenierung von MacMillans „Manon“ beim Wiener Staatsballett, die 2013 in Wien premierte, wurde für eine DVD- oder auch erstmal TV-Aufzeichnung offenbar schon verpasst. Auch sie wurde von Martin Yates dirigiert und auch mit der wunderbaren Ausstattung von Peter Farmer versehen. In den Hauptrollen brillierten Irina Tsymbal und Vladimir Shishov alternierend mit Maria Yakovleva und Friedemann Vogel als Gast – auch ein Paar mit starker Wirkung, wie auf Fotos zu ersehen ist.

Massenets Ruhm begründet sich übrigens auf seine Oper zum selben motivischen Stoff, namens „Manon“, die 1844 premierte – und die mit dem Ballett gleichen Namens aber nichts zu tun hat. Im Gegenteil: In MacMillans Ballett wird absichtlich auf die bekannten Melodien aus „Manon“ verzichtet. Der Choreograf wünschte es so.

Ein ehemaliger Tänzer namens Leighton Lucas und die als am Klavier mit Ballett erfahrene Repetitorin Hilda Gaunt collagierten aus über zwei Dutzend Musiken von Massenet, darunter zahlreiche Opern, eine filmreife, theaterwirksame und vor allem tänzerisch unterstützende Bühnenmusik.

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Jubel für alle: Solisten, Corps und Dirigent Martin Yates am 19. November 2015 in der Semperoper in Dresden. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Die garantierte schon bei der Uraufführung von „Manon“ (1974) ein begeistertes Ohr der Zuschauer. 2011 wurde diese Traummusik für Tanz dann ja nochmals – von dem Dirigenten Martin Yates – in ihrer Orchestrierung neu überformt. Seither geht sie so eingängig in die akustisch ausgerichteten Sinnesorgane, dass man diese Partitur zum Pflichtkonzert für Schulkinder machen sollte, um ihnen ein Gefühl für hochwertige klassische Musik zu geben.

Und für Schulkinder im Teenageralter ist diese Liebesgeschichte allemal geeignet. Man kann durch sie lernen, man kann aber vor allem auch begreifen, wie liebesfeindlich eine heuchlerische Gesellschaft ist und wie wenig sinnvoll es ist, Erotik und Herzensfreuden zu trennen.

Sie hätten ja vielleicht sogar eine klitzekleine Chance gehabt, dieser Des Grieux und seine Manon. Wenn sie schlau gewesen wären und beizeiten miteinander durchgebrannt wären. Und zwar weit weg! Wenn sie robust und arbeitswillig gewesen wären und sich jenseits der Heimat als Knecht und Magd verdingt hätten. Allerdings: Wäre das ein Leben für sie beide gewesen? Für den vornehmen Theologiestudenten und die bildschöne Luxushure?

In einem Gesellschaftssystem, das Frauen keine andere Chance lässt, als sich meistbietend zu verkaufen, als Nutte oder als Ehefrau, und in dem auch junge Männer keine andere Chance haben als das zu tun, was ihre Familien von ihnen verlangen, lässt es sich nicht gut lieben.

"Manon" ist auch in der dritten Besetzung in Dresden ein Knüller.

Melissa Hamilton und István Simon beim ersten Applaus nach „Manon“ am 19. November 2015 in Dresden – ergreifend! Foto: Gisela Sonnenburg

Das ist die bittere Wahrheit des Balletts „Manon“, die zeitlos ist, und die – zumal angesichts diverser heutiger Parallelkulturen, die die sexuelle Freiheit und Selbstbestimmung der Frauen als Sünde brandmarken – an Aktualität nichts eingebüßt hat.
Gisela Sonnenburg

Nur noch am Sonntag, den 22. November, um 19 Uhr in der Semperoper in Dresden – und weil sich Ballettwunder nur langsam und im Flüsterton herumsprechen, gibt es sogar noch Karten!

Zur ausführlichen Premierenrezension geht es hier:

www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-manon-premiere/

Zum Bericht über die zweite Besetzung geht es hier:

www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-manon-zweitbesetzung/

Zum Portrait von István Simon geht es hier:

www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-istvan-simon/

Zum Trailer vom ROH bitte hier:

Und weitere Infos bitte auch hier:

www.semperoper.de

 

 

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