Freud und Leid und unsterbliche Seele „Enlightened Child“ von Natalia Horecna widmet sich dem Komponisten Claude Vivier: mit dem Bundesjugendballett und dem Ensemble Resonanz

Das Bundesjugendballett beeindruckt mit "Enlightened Child" von Natalia Horecna.

Musik und Tanz entfalten Synergien: „Enlightened Child“ mit dem Bundesjugendballett und dem Ensemble Resonanz auf Kampnagel in Hamburg. Foto: Silvano Ballone

Er war ein ganz Wilder, und er starb besonders schrecklich. Der Avantgardist Claude Vivier, kanadisches Komponistentalent, studierte bei Karlheinz Stockhausen in Paris – und wurde 1983 von einem männlichen Prostituierten ermordet. Nach einem Bar-Besuch, wieder zu Hause, im Alter von nur 34 Jahren. Vivier verkörpert ein prägnantes Schicksal: schwul und promiskuitiv zu sein, war auch im westlichen Abendland für viele damals kein Zuckerschlecken. Überall lauerten Denunziation und Fallstrick-Gesetze, die das Ausleben der sexuellen Ausrichtung in den Untergrund, nah an die kriminelle Szene rückten. Als Adoptivkind war Vivier zudem vergebens auf der Suche nach seiner biologischen Mutter: Er visionierte sich dabei als jemand, der seiner eigenen Identität nicht wirklich sicher war. Aus diesen Konflikten heraus schuf er seine Musik, die seine leidvollen psychologischen Zwangssituationen in hoch ästhetische Klangkaskaden umsetzt. Im Rahmen des Hamburger Festivals „Greatest Hits“ entstand, mit dem Ensemble Resonanz und dem Bundesjugendballett (BJB), ein Stück der Choreografin Natalia Horecna, die zuvor schon zwei Mal mit dem BJB gearbeitet hat. Ihr Stücktitel „Enlightened Child“, „erleuchtetes Kind“, bezeichnet den jenseitssüchtigen Vivier: Sein religiöses Streben war für den Leid- und Triebgeplagten zugleich eine Hilfe wie auch eine Falle.

Vorab gesagt: Der Abend war ein Genuss. Vor oder nach dem Tanztheater stand indes die Informierung an. Gerade, wenn es sich um inhaltsreiche Stücke handelt, ist die Dramaturgie ja schon gewichtig. Hier übernahm ein gelungener Videofilm einen Teil dieser Aufgabe: Im Foyer der im übrigen nach wie vor sehr empfehlenswerten Hamburger Kultureinrichtung Kampnagel (deren Restaurant sich das freundlich-unkomplizierte Flair der 80er Jahre bewahrt hat und zudem eine vorzügliche Topinambur-Suppe serviert) stand während des viertägigen Festivals „Greatest Hits“ ein großer Bildschirm und bot Kopfhörer an. Es lohnte sich, der fast einstündigen Doku dort zumindest auszugsweise zu lauschen: „Claude Vivier – A Documentary Film“ des holländischen Filmemachers Cherry Duyns entstand 1997 und lässt von Zeitzeugen und Experten die Musik wie auch die Persönlichkeit des jung Verstorbenen erklären.

Das Bundesjugendballett beeindruckt mit "Enlightened Child" von Natalia Horecna.

Claude Vivier in der Doku von Cherry Duyns – die Installation stand mit Kopfhörern und Sitzplätzen im Foyer von Kampnagel in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg

Auch das lesenswerte Programmheft des Festivals „Greatest Hits“ machte über die Musik von Vivier interessante Mitteilungen. So erfuhr man, dass der weltbekannte Komponist Györgi Ligeti (der Ballettfreunden vor allem aus John Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“ bekannt ist) sozusagen voll auf Vivier abfuhr – rein musikalisch, aber leider erst posthum gesehen. 1991 gab Ligeti ein Interview, in dem er Vivier in den Komponistenhimmel lobte und dessen „erträumten Folklorismus“ hervor hob.

Tatsächlich finden sich in den Werken des Avantgardisten Einsprengsel von asiatischen Musikkulturen, die Vivier zu einem, wie wir heute sagen würden, Multikulti-As auf hohem Niveau machen. Noch mehr aber bezaubert sein origineller Umgang mit Streichern und Bläsern: wenn er diese zirpen, anschwellen und dröhnen lässt, als handle es sich dabei um Orgelmusik. Denn der typische Vivier-Sound ist zwar durchsetzt von Toneinspielungen und Zwölftongesang. Aber er liefert eben auch diese monumental erscheinende Klangkulisse, die seiner Musik die Anmutung einer omnipräsenten, überwältigenden, rhythmischen Umarmung verleiht.

Das allein kann einen schon begeistern, und man kann nur hoffen, dass die Musik von Vivier, nachdem sie das Schwerpunktthema des viertägigen „Greatest Hits“-Festivals war, mehr und mehr in die großen und kleinen Konzertsäle und auch zu den Ballettbühnen finden wird. Denn auch tänzerisch ist Viviers Arbeit allemal: Das nur achtköpfige Bundesjugendballett hat hier unwissentlich einen wichtigen Beweis geliefert.

Für die Choreografin Natalia Horecna war die Auftragsarbeit indes nicht ganz einfach. Sie war zwar in großen Compagnien Balletttänzerin, in denen es selbstverständlich auch einige „wilde“ Homosexuelle gab, aber einen Zugang zur, mit Verlaub, ziemlich versauten Schwulenszene der 80er Jahre hat sie geistig nur in bescheidenen Grenzen. Sex and drugs and Rock’n Roll: Die heimlichen Treffpunkte der Schwulen in Bars, Parks und Dark Rooms vor dem Bekanntwerden von Aids ließen an Ausschweifungen nichts zu wünschen übrig. In den tabuisierten Terrains der Metropolen wie New York, Berlin oder eben Paris mischte sich schon damals eine gewisse Verrohung im Umgang miteinander mit der Sucht nach immer mehr Konsum von Nähe und Intimität. Dieser Aspekt, der für Viviers Person durchaus wichtig ist, fehlt im Ballettstück allerdings ganz – Horecna hätte sich daran vielleicht auch verhoben.

Da hätten der BJB-Intendant, John Neumeier, oder der Künstlerische und Pädagogische Leiter des BJB, Kevin Haigen, vielleicht besser selbst Hand anlegen oder wenigstens Nachhilfe geben sollen.

So erleben wir Claude Vivier vor allem als eine musikschöpfende Seele mit unerklärlicher Todessehnsucht: als einen Mann, der immer wieder von seiner Kindheit träumt, der sie sich anders erträumt, als sie war, der sich in seiner Haut auch sonst nicht wohl fühlt. Vivier als Mensch, der sich weigert, erwachsen zu werden, und der aus der ständigen Suche nach sich selbst einen gewissen Charme der Hilflosigkeit bezieht.

Den Befreiungsakten in der Musik stehen eine perfide Lust am Leiden, eine masochistisch-depressive Verquältheit gegenüber. Horecna setzt diese in piekfeine Ballettbilder um; die Sehnsucht nach einem erneuerten Ich, die Claude Vivier umtrieb, kulminiert in der Ästhetik ihres Stils, der unverkennbar von John Neumeier, aber auch vom Nederlands Dans Theater, in dem Horecna tanzte, geprägt ist. Ein Schuss Contemporary Dance, mit vielen heftig durchgezappelten Bodenkontakten, verleiht dem Ganzen die Wirkung wirklich moderner Ballettarbeit. Ein Genie ist Natalia Horecna zwar nicht; aber grundsolide und von daher sehenswert ist ihre Arbeit als Choreografin unbedingt.

Da bezaubern die Details, nicht das Ganze.

Zu Beginn stehen sich zwei junge Tänzer gegenüber: Einer in Schwarz gekleidet (Joel Paulin) und auf einem kleinen Podest am Bühnengrund stehend, der zweite vorn mit nacktem Oberkörper zur hellen Pluderhose (Pascal Schmidt) tanzend. Zwischen ihnen steht der Dirigent (Jean- Michaël Lavoie), rechts und links hinten sind die Musiker gruppiert.

Das Bundesjugendballett beeindruckt mit "Enlightened Child" von Natalia Horecna.

Bei den Proben im Ballett-Zentrum in Hamburg: Das Bundesjugendballett mit Natalia Horecna, die gerade tatkräftig kreiert und vortanzt (mittig). Foto: Silvano Ballone

Links stehen außerdem abwechselnd die beiden Sängerinnen Allison Cook (Mezzosopran) und Jenny Daviet (Sopran). Sie und das Ensemble Resonanz vermochten im Saal K 6, dem größten auf Kampnagel, die vorderen Sitzreihen absolut zu begeistern, während in den hinteren (oberen) Reihen wohl nicht ganz so viel vom perlenden Klangvolumen ankam. Opernhäuser und Konzerthallen haben halt ihre Berechtigung, das sei an dieser Stelle angemerkt, aber mit etwas mehr Technikeinsatz hätte man vielleicht auch das kleine Manko auf Kampnagel noch beheben können.

Beim Eröffnungskonzert des Festivals soll die Akustik jedenfalls phänomenal gewesen sein, im selben Saal K 6: Das NDR Sinfonieorchester unter Matthias Pintscher spielte da Werke von Igor Strawinsky und Claude Vivier, eine ohnehin aufregende Kombination.

Zurück zum Tanz. Zu Beginn von „Enlightened Child“ ist es noch still. Die zwei Tänzer sind da, aber keine Musik. Der Tanz ruft die Musik, könnte man sagen.

Auf der Deutungsebene des Stücks ist das logisch: Die gequälte Seele im (tänzerischen) Dialog mit sich selbst oder dem imaginierten Gegenüber erzeugt die Klangkunst. So kann man den Schöpfungsakt von Musik darstellen, Horecna trifft mit ihrem Anfang voll ins Schwarze.

Das tanzende Ego von Vivier findet sich aufgeteilt auf mehrere Tänzer. Zunächst ist es Pascal Schmidt, der mit Joel Paulin zu einem tragisch gefärbten Pas de deux findet, der gemäß der Musik des Stücks „Wo bist du Licht!“ nur langsam an Aggressivität verliert und dann fast zu einem Liebestanz wird. Doch eine gewisse Düsternis und auch Gefahr scheint zwischen den Männern zu bleiben, die Hebungen verlieren nie ganz den Charakter eines Kampfes.

Als die Pauken die zirpenden Streicher unterbrechen, taucht ein weiterer Tänzer auf: Tilman Patzak, der fortan den Hauptteil der Persönlichkeit von Vivier verkörpert. Mit einem Halstuch und dem Schnittmuster eines Matrosenanzugs deutet sein Kostüm an, wie er sich seinen Männern präsentiert: als netter Junge, der zu haben ist. Von den komplizierten Seelenwindungen verrät das nichts, ja, es soll darüber hinweg täuschen.

Die Ausstattung von Christiane Devos, die mit Horecna bereits ein eingespieltes Team ist, trägt insofern viel zur Magie des Abends bei: Die Jungs sind in geschmackvolle Anzughosen gewandet, im Hintergrund wabern zeitweise seidenweiße Vorhänge, und die Mädchen tragen weißes Crepe de Chine, das in zwei Stufen herab fällt, wie von Isadora Duncan inspiriert.

Mit braven Zopffrisuren und absichtlich starren Gesichtern schreiten denn auch drei Mädchen herein, wie theatralische Rachegöttinen oder auch Todesengel – oder auch wie eine moderne Variante der Nornen, die zugleich an die Anfänge des modernen Tanzes (Duncan) erinnern.

Das Bundesjugendballett beeindruckt mit "Enlightened Child" von Natalia Horecna.

Drei Schicksalsgöttinnen umfangen den „erleuchteten“ Komponisten… so zu sehen beim Bundesjugendballett in „Enlightened Child“ von Natalia Horecna auf Kampnagel in Hamburg. Foto: Silvano Ballone

Zum tänzerischen Gerangel der Jungs – das diese mit vollem Einsatz schweißtreibend und auch emotional sehr passioniert abliefern – bilden die gestisch „stummen“ jungen Damen einen starken Kontrast.

Ihr Schreiten könnte für das Prinzip des Seins stehen, im Gegensatz zum Prinzip des Werdens, das die Männer hier verkörpern.

Die Suche nach der Weiblichkeit in Form der Mutter prägt denn auch die gemischtgeschlechtlichen Pas de deux. Leichte Erotik kommt auf, die aber sofort wieder im Keim erstickt wird.

Drei Paare bilden sich, die kanonisch Hebungen und Führungen durchexerzieren. Dabei ist klar: Jeder der drei Tänzer könnte Vivier sein, mit unstillbarer Sehnsucht im Blick – und ohne Aussicht auf Erfüllung.

Profil können die jungen Damen Minju Kang, Giorgia Giani und Teresa Silva Dias – dem Thema gemäß – nicht ganz so viel zeigen; auch Larissa Machado, die schöne schwarze Brasilianerin, die eines der neuen Talente im BJB ist, hat erst im weiteren Verlauf des Stücks ab und an mal die Gelegenheit, wirklich gut aufzufallen.

Giorgia Giani mit ihrem Madonnengesicht eignet sich allerdings gut als Wunsch-Mutter in den getanzten Vivier-Fantasien. Zartheit und Zärtlichkeit bestimmen ihren Tanz. Und eine hingehaltene Hand, um den Kopf des anderen aufzunehmen, ist als Geste der Verbindlichkeit zwischen Menschen sehr schön erkannt. Und erinnert Neumeier-Fans an den „Black Pas de deux“ aus der „Kameliendame“, in dem diese Geste der Versöhnung dient.

Dennoch müssen die TänzerInnen hier sozusagen einsam bleiben; Einsamkeit ist ein Leitmotiv in der Arbeit von Vivier.

Da rührt es auch, dass die Protagonisten nicht barfuß oder in Schuhen auftreten, sondern in hautfarbenen Socken. Das hat was von notwendigem Schutz vor Kälte, vor menschlicher ebenso wie vor der winterlichen Bodenkühle.

Mit Vivier hat das durchaus auch zu tun: Er war auf der Flucht vor der Anonymität, vor der menschlichen Kälte, ebenso, wie er sie immer wieder suchte, wie aus einem Zwang heraus, aus dem Wunsch zur Selbstaufgabe. Seine Ambivalenzen sind ja nicht untypisch für die wilden jungen Leute seiner Sphäre.

Am meisten berührt „Enlightened Child“, wenn es Horecna gelingt, solche ambivalenten zwischenmenschlichen Beziehungen in Körperbilder umzusetzen. Da kriechen und wimmeln die Tänzer und bilden schließlich stehend einen Cluster. Haben sie wirklich was miteinander zu tun? Wollen sie das überhaupt? Dennoch bilden sie gemeinsam fast ein Bollwerk, so scheint es.

Das Bundesjugendballett beeindruckt mit "Enlightened Child" von Natalia Horecna.

Dirigent und Tänzer müssen sich abstimmen, wenn sie so eng kooperieren: bei „Enlightened Child“ von Natalia Horecna auf Kampnagel in Hamburg. Foto: Jann Wilken

Da will man sich einerseits liebhaben, andererseits aber vor allem voneinander profitieren. Da tanzt man gerne zusammen, will aber auch vor allem als Solist Eindruck schinden. In diesem Zwiespalt befindet sich das Bundesjugendballett ja generell, und in „Enlightened Child“ war das deutlich zu sehen.

Die Chancen, durch Soli zu berühren, wurden denn auch weitestgehend vertan; interessant sind die oftmals akrobatisch anmutenden Figuren am Boden und im Stehen dennoch anzusehen, kein Zweifel.

Tilman Patzak ist hier zu loben. Auch wenn er nicht immer zu wissen scheint, warum er unglücklich-sehnsüchtig mit den Armen rudert oder, am Boden robbend, mit Papieren (Notenblättern?) hantiert – er verströmt dabei den Wunsch, von sich eine Mitteilung zu machen, von sich zu „geben“, und das kommt an.

Auch Kristian Lever, der hier eine Vaterfigur darstellt, vergisst in vielen Momenten, dass er eigentlich gefallen will – zu sehr sogar, er muss als Bühnenkünstler noch etwas weiter aus seiner intensiven Ich-tanze-für-mich-Nische herauskommen.

In der Todesszene, die bereits im ersten Dritten des gut einstündigen Stücks geschieht, sind Tilman Patzak und Joel Paulin ein hervorragendes Team. Offenkundig wachsen so begabte Tänzer vor allem an schauspielerischen Schwierigkeiten, nicht etwa an technischen! Am Boden in „Löffelchen“-Stellung liegend, sparen sie die Darstellung des sexuellen Akts aus, aber Nacktheit als Symbol für Sex und ein Strick als Todessymbol springen auch ins Auge. Gekrümmt, wie ein Embryo, bleibt Vivier als Opfer liegen, in postkoitalem Schmerz oder auch schon ermordet.

Vor seinem Tod hatte Claude Vivier offenbar immer wieder finstere Ahnungen. Er hinterließ Aufzeichnungen, die von den Ängsten sprechen, dass ihm ein Junge einen Dolch ins Herz stoße. Ob er das konkret oder metaphorisch meinte, bleibt offen. Das Werk, an dem er arbeitete, kurz bevor er starb, behandelte die für ihn wichtigste Todesfrage: „Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele?“

Frieden und Unfrieden, Freud und Leid und eben auch die Unsterblichkeit der Seele spielen auch in der Dichtung von Friedrich Hölderlin um 1800 eine große Rolle.

Text und Titel von Viviers Stück „Wo bist du Licht!“ entstammen einer Hölderlin’schen Arbeit. Der ebenfalls ziemlich anal fixierte deutsche Dichter lieferte Vivier wohl immens viel Inspiration.

Das Bundesjugendballett beeindruckt mit "Enlightened Child" von Natalia Horecna.

Qual und ein Funken Hoffnung: Claude Viviers Kämpfe mit sich selbst… beim Bundesjugendballett auf Kampnagel in Hamburg. Foto: Jann Wilken

Und wer nachts nicht schlafen kann, weil er sich nach einem jugendlichen Liebhaber sehnt, dürfte sich von Hölderlins Text ebenfalls wie ertappt fühlen: „Wo bist du, Licht? / Wo bist du, Jugendliches? / Wo bist du, Licht?“ und „Wohin? Wohin? / Ich höre dich da und dort, du Herrlicher!“ und weiter „Es blühet mein Auge dir. / Wohin? Wohin?“ Da kann man sich den heißen Besuch einer nächtlichen Bar in den Morgenstunden doch wirklich gut vorstellen…

Doch ab dieser Textstelle überlagern bei Vivier Fantasielaute den eigentlichen Text. Vivier hatte sich nämlich eine erfundene Sprache („langue inventée“) zugelegt, ähnlich wie der Berliner Maler Matthias Koeppel, dessen „Starckdeutsch“-Bücher allerdings eher heiter-komischen Charakter haben.

Für Vivier hingegen war Humor im leichten Sinn fast ein Fremdwort, vielleicht auch eine Waffe – Absurdität mag ihren Raum in seinem Universum gehabt haben, aber Heiterkeit muss aus seiner Sicht abschreckend, oberflächlich und sogar heuchlerisch gewesen sein. Das Leben eine Operette? Mit Vivier: niemals!

Natalia Horecna formulierte zu ihrem Stück sogar, dass „Ironie oder Sarkasmus“ Viviers erotischer Welt wohl mehr Schmerz zufügen könnten als körperliche Ursachen. Dass Vivier etwas verspannt war, mag sein. Aber Sinn für raffinierten Spott würde ich ihm schon zugestehen.

Etwas Sarkasmus oder Sinn fürs Absurde hätten denn auch dem Tanz zu den beiden weiteren Stücken, „Bouchara“ (nach einer historischen Stadt in Usbekistan benannt) und „Zipangu“ (nach einem Synonym Marco Polos für Japan genannt) auf die Sprünge geholfen.

„Bouchara“ beschreibt die schwermütig-erhebende, lyrische Liebe zu einem jungen Mann, die zugleich als Erlösung und Fluch erlebt wird. Hierbei verschießt Natalia Horecna ihr Pulver – der Traum von einer heilen Familie, der Claude Vivier immer wieder heimsucht und rasch zum Alptraum mutiert, lässt keine Energie mehr nachwachsen.

Das Bundesjugendballett beeindruckt mit "Enlightened Child" von Natalia Horecna.

In den Paartänzen hier geht es nicht um Partnerschaft… „Enlightened Child“ von Natalia Horecna auf Kampnagel in Hamburg. Foto: Silvano Ballone

„Zipangu“ müsste nun die Liebe als Fremdheit feiern, müsste emphatisch und depressiv zugleich sein und den Liebenden gar keinen Ausweg mehr suchen lassen wollen. Aber daran scheitert Horecna, und wie immer, wenn sie etwas nicht packt, wird sie kitschig. Da wiederholt sich der Anfang, und da hat man eigentlich nach dem zweiten Stück schon den Eindruck, das ganze Programm sei zuende. Aber dann küsst der Dirigent einen Tänzer – und erneut entspinnen sich ein Tanz, eine Musik, die aber jetzt leider wie hinterher gekleckert wirken.

Nur das Schlussbild ist wieder schön, da verharrt Tilman Patzak als Claude Vivier am Boden, zwischen dem Dirigenten und dem leeren, kleinen Podest am Bühnengrund. Das Toben hat ein Ende, ganz unspektakulär – nach all der Dramatik ein wohltuend einfaches Moment.
Gisela Sonnenburg

HINWEIS: Das Eröffnungskonzert von „Greatest Hits“ mit Werken von Igor Strawinsky und Claude Vivier wird am 4. Januar 2016 um 20 Uhr auf NDR Kultur (Radio) gesendet.

www.bundesjugendballett.de

 

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