Nicht selten scheint sich das Leben im Kreis zu drehen. Wiederholt sich denn nicht alles? Schon wieder war es Weihnachten, Silvester, Neujahr; schon wieder hat man den „Nussknacker“ in allen Varianten und Farben vorgesetzt bekommen. Aber die Fassung dieses beliebten Balletts von John Neumeier ist eben dann doch immer wieder für Überraschungen gut. Wenn man nicht gerade ein neues Detail entdeckt, dann reißt einen eine neue Besetzung fast vom Sitz. So der 22-jährige Spanier Borja Bermudez vom Hamburg Ballett, der trotz seines zarten Alters bereits die abendfüllende Mammutpartie des Ballettmeisters Drosselmeier so sicher und ausdrucksstark darstellt, als habe er damit schon ganze Saisonen bestritten. Mit der zierlich-niedlichen Italienerin Giorgia Giani in der Partie der kindlichen Marie an seiner Seite entführt er uns in eine Welt des Balletts, die der ästhetischen Bühnenversion eines Traumes gleicht, der persönliche und kulturelle Belange vereint.
Das Besondere an Bermudez‘ Darstellung: Er betont die Väterlichkeit, die Fürsorglichkeit seiner Figur. Stetig achtet er darauf, dass die kleine Marie auch alles mitbekommt und versteht. Hat sie hierzu noch eine Frage? Hat sie darauf schon geachtet?
Er ist wie ein junger väterlicher Freund: ein Visionär, der das ihm Vertrauen schenkende Mädchen nicht abspeisen oder nur irgendwie bespaßen will. Sondern er will ihr die Werte und die Schönheiten des Balletts vollauf vermitteln.
In der ersten Szene – auf Maries Geburtstagsfeier im Ambiente ihrer Zeit, der Belle Époque, aus der Designerhand von Jürgen Rose– schenkt Drosselmeier ihr ein Paar Spitzenschuhe.
Damit entspricht er ihrer heimlichen Fantasie, eine Ballerina zu werden. Wie ihre Schwester Louise, die mit lächelnd-sympathischer Heiterkeit von der gebürtigen Brasilianerin Leslie Heylmann getanzt wird.
Louise ist ja bereits Tänzerin – und unter Drosselmeier ein Star am Hoftheater.
In Maries nächtlichem Traum finden sie sich alle wieder.
Da klettert Drosselmeier mit Marie doch glatt durch den Orchestergraben, um auf kürzestem Weg ins Theater zu kommen. Auf der Bühne wird dann erstmal geprobt. Louise erscheint mit einer Stola, die sie warmhält und auch schmückt, und sie zelebriert ein federleicht wirkendes, dennoch schweißtreibendes Training an der Barre, der Ballettstange.
Drosselmeier korrigiert sie, mit dem Gehstock, wie es vor über hundert Jahren üblich war.
Marie staunt und staunt und staunt… Das ist Giorgia Gianis Marie: Sie kann kaum fassen, was für Traumwelten sich ihr da eröffnen. Wie schön ist es, wenn die Ballerina ihr Bein empor streckt und eine elegante Pose einnimmt! Und wie entzückend ist es , wenn die anderen Ballerinen in ihren weißen Tanzkleidern und mit ihrem schwarzen Band am Hals synchron und einvernehmlich ihr Bestes geben.
Aber dann passiert etwas: Ein Mädchen vertanzt sich, marschiert in die falsche Richtung – und wird von Ballettchef Drosselmeier harsch kritisiert. Noch schlimmer aber trifft es sie kurze Zeit später: Der Ballettmeister verweist sie des Hauses, sie ist gefeuert, und nur Marie und ihre beste Freundin können sie nun noch wenigstens etwas trösten.
Die wirklich harte Berufswelt des Theaters klingt hier an, und gerade im Ballett wird ständig dafür gesorgt, dass die Ensemblemitglieder höchste Ansprüche erfüllen können. Ein Fehler zuviel – und man wird ausgetauscht.
So gibt es sicher viele Tänzer, die gern die Partien von Drosselmeier, Marie und Louise übernehmen würden. Aber nur drei können diese pro Abend darstellen (es sei denn, es handelt sich um eine der wenigen schwer berühmten Silvester-Vorstellungen, an denen John Neumeier das Stück aus Spaß in vierfacher Besetzung auftanzen lässt, was ein unglaublicher Triumph ist).
Für Marie ist diese ganze Welt aber noch neu, und mit aufgerissenen Augen verfolgt sie alles, was hier geschieht. Da ist sie ganz in Gedanken versunken, als sie plötzlich – langsam einige Schritte rückwärts gehend – mit jemandem zusammenstößt. Oh, es ist der bewunderte Kadett Günther, der ihr schon auf ihrer Geburtstagsfeier so sehr gut gefiel!
Der Argentinier Mathias Oberlin hat nun die Ehre, als lebendes Abbild des Nussknackers, den er Marie zum Geburtstag schenkte, dem Mädchen die erhebenden und auch beglückenden Gefühle des Paartanzes nahe zu bringen.
Dabei erlebt sie erstmals die typische Ballerinenaura: Wie schön es ist, sanft angehoben und durch die Luft getragen zu werden! Marie äußert ihr Glück sogleich mit rudernden, dennoch graziösen Beinstreckungen, die ihr die Anmutung geben, sie würde sich aus eigener Kraft durch die Luft bewegen können.
Hier – im Traum – lebt sie problemlos das Miteinander mit einem jungen Mann, und die starke Ahnung von Liebe, die sie überkommt, macht aus dem kleinen Mädchen eine junge Frau.
Giorgia Giani zeigt das mit hinreißender Wendigkeit, das Naiv-Staunende geht bei ihr reibungslos in das Weiblich-Genießende über.
Und es gibt noch mehr zu bestaunen!
Drosselmeier, der sie an die Hand nimmt, ihr ihren Platz zuweist, der ihr Haltung und Korrekturen gibt und ihr einflößt, nur ja anmutig und wahrhaftig zu tanzen – da ist er nämlich Purist: aufgesetzte, zuckersüße Kitschigkeit mag er gar nicht – zeigt ihr außer einer Probe auch noch eine ganze Ballettrevue. Der Clou: Manchmal darf Marie darin sogar mittanzen!
Die Vorstellung besteht fortan – bis zum Aufwachen Maries in ihrem Elternhaus – aus Auszügen aus Drosselmeiers Balletten. Denn im Zeitalter der vorletzten Jahrhundertwende waren die Ballettmeister auch zugleich die Choreografen.
Marius Petipa, nach dessen Plänen und Konzepten „Der Nussknacker“ mit der Musik von Peter I. Tschaikowsky 1892 uraufgeführt wurde, war derweil der ballettöse Tausendsassa seiner Zeit. Die Figur des Ballettmeisters Drosselmeier ist Petipa nachempfunden – der Künstler, der in seiner eigenen Welt lebt und doch die Surrogate seiner Gegenwart kennt, als kreatives Genie.
Und nachdem sich Dutzende von bildhübschen Tänzerinnen und Tänzern in Aufsehen erregenden Kostümen tänzelnd vorgestellt haben, zeigt eine kleine Gruppe nach der anderen, wie fetzig, wie rasant, wie anrührend, wie überirdisch schön Ballett sein kann.
Besonders begeistern dabei die Chinesin Xue Lin und der Kolumbianer David Rodriguez als antik-ägyptisches Paar aus „La Fille du Pharaon“. Sie als Pharaonentochter, er als zum Prinzen verzauberter Forscher, zelebrieren die beiden mit schier unfasslich intensiver Anspannung bei gleichzeitiger Schwerelosigkeit ein edelmütiges Ritual: das Bekenntnis zu einer Liebe, die über alle Grenzen und Zeiten hinweg gültig sein und als solche verstanden sein wird.
Es handelt sich hierbei um eine Neubesetzung, und ohne den vorherigen Cast mit der Australierin Priscilla Tselikova und dem Deutschen Florian Pohl in ihrer ebenfalls großartigen Wirkung zu schmälern, verströmen auch Xue Lin und David Rodriguez hierin ein überwältigend erotisch-erhabenes Flair.
Und noch jemand fällt unbedingt positiv auf, und zwar jemand, der erst seit 2019 Teil vom Hamburg Ballett ist: Alessandro Frola, der derzeit noch als Aspirant rangiert, der aber bereits etwa mit dem Lysander in „Ein Sommernachtstraum“ alle Qualitäten eines superben Solisten, wenn nicht Ersten Solisten gezeigt hat.
Im „Pas de huit“, dem lieblichen Walzer in Neumeiers „Nussknacker“, berückt das gezügelte, aber nicht unterdrückte Temperament des Italieners, und dass auch er – wie die meisten Tänzer im Hamburg Ballett – in der Ballettschule von John Neumeier auf den Beruf vorbereitet wurde, kommt ihm natürlich nur zu Gute.
Die Ballettschüler und Studenten in Hamburg haben nun mal zusätzlich zum vorzüglichen Unterricht auch den Vorteil, hautnah und sogar in denselben Sälen mit den Profis der Compagnie zu arbeiten. Besuche der Vorstellungen oder auch deren Teilnahme auf der Bühne ergänzen diese Nähe. Insofern bestätigt die Realität das Bühnengeschehen: Alle Generationen wirken hier zusammen.
Qualität entsteht nun mal nicht in der Retorte und auch nicht unter Bedingungen einer als Vielfalt verkleideten Nachlässigkeit. Konzentration und Zielvorgabe sind absolut wichtig; und auch, wenn sich Manches scheinbar wiederholt, so ist doch jede hochwertige Vorstellung so einmalig und bedeutungsvoll wie eine Premiere.
Gisela Sonnenburg / Jan-Frieder Bergmann