Es hat wohl seinen Sinn, dass der Totensonntag nicht im Januar, Februar oder März angesiedelt ist. Es sind – zumal die acht bis neun ersten im Kalenderjahr – die tristeten Wochen im Abendland: früher eiskalt und mit zahlreichen Frosttoten einherkommend, sind sie heute grau und trübe, kahl und verhangen. Dagegen ist der November (in dem der Totensonntag liegt) noch ein richtiger Wonnemonat! Um die Stimmung aufzuheitern und Verluste durch Tod oder andere Unbill zu überwinden, hilft nun eine neue DVD: die Ballettoper „Orphée et Eurydice“ in der Inszenierung durch John Neumeier von 2017 mit dem Joffrey Ballet aus der Lyric Opera in Chicago. Noch stärker als beim Live-Erlebnis der Inszenierung – die ja auch beim Hamburg Ballett läuft – fällt beim analytischen Betrachten des Bildschirms eine kongeniale Harmonie von Musik und Tanz auf, wiewohl Neumeier hier eine neue, eigens konzipierte Geschichte erzählt, mit der antiken Sage vom Schicksal des Orpheus als Leitfaden. Allerdings handelt es sich nicht um die choreografisch voll entfaltete Hamburger Version, sondern um die Vorstufe aus Chicago. Dennoch: Die bei c major entertainment erschienene DVD ist vollauf gelungen und ein Genuss, zumal es auf diesem Gebiet – der Vermengung von Oper und Ballett – viel zu wenig gibt.
Als der erfolgreiche Komponist Christoph Willibald Gluck 1774 die Pariser Version seiner barocken Oper „Orphée et Eurydice“ fertig stellte, konnte er nicht ahnen, was ein Meister der ballettösen Körperkunst dereinst daraus machen würde.
Nachdem Neumeier bereits 1978 eine absolut gelungene, allerdings den Schwerpunkt auf die Vorstellung eines ätherischen Elysiums legende Inszenierung der Oper als Tanzstück mit Gesang absolvierte, legte er mit der erst 2017 in Chicago, 2018 in Los Angeles, dann 2019 in Hamburg premierenden Arbeit eine komplette Neuinterpretation vor.
Man kann den Mut darin nur bewundern – und auch die Souveränität, mit der die Kontraste von Sinnlichkeit und Spiritualität, von Hoffnung und Tragik hier grandios aufeinanderprallen, um sich gegenseitig in ihrer Wirkung zu potenzieren.
Orphée ist hier kein antiker oder barocker Sänger, sondern ein heutiger Choreograf, und seine Gattin Eurydice ist seine Muse, seine Ballerina. Allerdings ist die Liebe nicht ganz so ungebrochen wie in den Überlieferungen. Vielmehr haben der Boss und seine Ehefrau Differenzen; sie spielt die Diva und rauscht beleidigt von der Probe ab.
Stille. Es gibt einen Knall, das rote Auto bleibt stehen, Eurydice rollt leblos heraus, Sirenen heulen auf.
Ein Anruf auf dem Handy informiert Orpheus von Eurydices Unfalltod.
Zeit, darüber nachzudenken: Das Auto ist nicht nur der ärgste Umweltfeind, sondern auch eine Waffe, die in ihrer Wirkung beharrlich unterschätzt wird.
Der Abgrund aus Trauer und Reue, der sich nun Orphée eröffnet, stürzt ihn zugleich in ein psychedelisches Abenteuer.
Sein Abstieg in die Unterwelt, im barocken Sein aus Schein und Wollen noch fast realistisch markiert, ist ein Alptraumerlebnis erster Güte.
Dmitry Korchak– der die Partie auch in der Hamburgischen Staatsoper singt – wandelt hier durch die Tänze und Kulissen, lässt sich ergreifen und ergreift auch uns. Stimmlich wie auch szenisch hat er die Rolle vollauf angenommen, füllt sie mit Leben.
Andriana Chuchman – auch sie dem Hamburger Publikum bereits bekannt – ist eine vereinnahmende Schönheit, optisch wie stimmlich, und zwar mit viel glaubhaftem, natürlichem Flair.
Lauren Snouffer als Amor – und wo wäre ein trauernder Seigneur wie Orphée ohne einen solchen Mittler, eine solche Mittlerin zur Unterwelt – ist burschikos und beständig, aufmunternd und dennoch auratisch-geheimnisvoll.
Sind es nicht jene Zwischen-allen-Stühlen-Gestalten, die uns stets am meisten berühren?
Tänzerisch ist im Niemandsland zwischen Seelenheil und schändlichem Unglück ebenfalls viel los, denn John Neumeier versteht es, ganze Universen mit relativ wenig Aufwand zu errichten und aufzufächern.
Von einem Raum der Unterwelt steigt Orphée in den nächsten, holt seine Eurydice und lässt sie ihm folgen… bis er sie verbotenerweise ansieht und damit ein zweites Mal verliert, dieses Mal endgültig.
In Neumeiers Kreation ist dieses eine Art Wahn, den der Künstler Orphée durchläuft, um letztlich Frieden mit seinem Schicksal zu machen. Die Überwindung der Trauer hat hier aber einen realen Grund.
Die Kunst rettet ihn: In Orphées neuem Ballett „Die Toteninsel“ nach dem bekannten Gemälde von Arnold Böcklin lebt die Muse Eurydice weiter – wie auch im Herzen und in der Erinnerung ihres Witwers.
Der Schock des Todes ist somit endlich überstanden, und das Leben will stattfinden: auch und gerade im Angedenken an die Toten.
So weit, so gut. Aber: Vor allem ist diese DVD für Tanzwissenschaftler interessant.
Denn sie zeigt die erste Version von Neumeiers Arbeit, die 2018 in Chicago entstand, während 2019 in Hamburg die letztlich gültige, deutlich abweichende Fassung premierte.
Der Unterschied ist durchaus wesentlich: Während in Chicago das Joffrey Ballet nur als Ensemble auftritt und überwiegend wie grandios arrangiertes Füllmaterial wirkt, gibt es in der Hamburger Version fantastisch-eindrückliche Szenen mit dem dort zusätzlich auftretenden Ballettpaar Orphée und Eurydice. Edvin Revazov und Anna Laudere faszinieren in diesen Rollen.
Die zwei wirken keinesfalls wie eine Verdoppelung des Bühnengeschehens, sondern wie eine zusätzliche Ebene: Die tänzerische Idealisierung der Liebe gibt der Inszenierung zusätzlich kräftige Würze.
Die fehlt nun allerdings auf der DVD, und man fragt sich, warum nicht die Hamburger Version aufgezeichnet wurde.
Die Bildregie von Matthew Diamond, die oftmals und gerade beim Tanz den Fokus auf die Totale legt, passt hingegen zum Bühnenerleben ebenso wie zum weder zu prunkvollen noch zu verhaltenen, exakt getakteten Dirigat von Harry Bicket.
Aber obwohl Dutzende von Namen im Booklet abgedruckt sind, zum Beispiel Maskenbildner und Garderobiere und seitenlang (!) auch der weitere Büro- und Backstage-Mitarbeiterstab der Lyric Opera, fehlen komplett die Namen der Tänzerinnen und Tänzer vom Joffrey Ballet, und auch sonst gibt es keinerlei Infos über diese renommierte Truppe.
Das ist nun gar nicht befriedigend, zumal es hier neben den durchaus ansehnlichen Ensembleszenen auch einige furios getanzte Solopartien und sogar einen schönen großen Pas de deux gibt.
Anonymität gibt es genug in unserer Gesellschaft. Da sollten so wesentliche Mitarbeiter wie die Tänzer in der DVD-Produktion von einer Ballettoper schon namentlich gewürdigt werden.
Gisela Sonnenburg
Hier geht es zur Rezension der Hamburger Premiere (bitte klicken!)
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