Spätvorstellung! Selten beginnt ein Ballettstück abends um 23 Uhr. In der Hamburger Kunsthalle war am letzten Samstag eben das zu erleben – es war die dritte und letzte Vorstellung des Bundesjugendballetts (BJB) in der „Nacht der Melancholie“ im just erneuerten Museum. Während die vier Tanzpaare vom BJB (das dem Hamburg Ballett angegliedert ist) zur Neueröffnung in der Sammlung des 20. Jahrhunderts auftanzten, gab es am Samstag „Interventionen“ – also kurze Stücke oder Auszüge aus Repertoire-Stücken der ungewöhnlichen Tanztruppe – in der Sammlung des 19. Jahrhunderts. Damit war die historische Romantik hier der Kulissenhintergrund für den Tanz – der indes war modern, im bekannt-beliebten BJB-Stil.
Die mehr als halbstündige Vorstellung begann im mit „Facetten des Realismus“ betitelten Saal – und genau dieser Aspekt passte auch auf die Darbietung der Tänze.
Um Beziehungen ging es zumeist darin, um Mann-Frau-Beziehungen, aber auch um den Umgang mit Krankheiten und sogar dem Tod.
Ernsthafter hätte die Melancholie sich hier also nicht behandelt sehen können.
Mit einem lakenähnlichen Stoffband spielen die Tänzer im ersten Teil, und zwar in einem Tanzstück, dessen Originalchoreografie von Thiago Bordin stammt.
Das Textil steht für die Verbindungen zwischen Menschen, die sie stützen und ihnen helfen, die aber auch zu einem Zwang oder einer existenziellen Einengung werden können.
Unter der Aufsicht seines Künstlerischen und Pädagogischen Leiters Kevin Haigen tanzte das BJB erstmals diese seit 2013 in seinem Repertoire befindliche, dramatisch-lyrische Choreografie in einem Museum.
Graue Tanzteppiche waren über die Mittelstücke der drei Säle, die bei diesem Gig bespielt wurden, ausgebreitet.
Darauf wirkten die Choreografien – zumal ohne Theaterlicht – wie neu.
Die Melancholie sei die Mutter aller Künste, stellte bereits der 1801 gestorbene Schweizer Philosoph Johann Caspar Lavater fest.
Man mag entgegen halten, dass die Freude mindestens ebenso großen Anteil an der Geburt künstlerischen Schaffens habe. Oder der Drang nach Freiheit. Oder auch schlicht die Sehnsucht nach Liebe.
Lavater indes, als Vertreter der Aufklärung, hätte da wohl nicht mit sich handeln lassen. Für ihn stand die Melancholie im Zentrum der schöngeistigen Wahrheit, und es ist interessant, dass Aufklärung und Romantik – die mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ihren Beginn nahm – beide, so gegensätzlich sie sonst auch sein mögen, sich hierin treffen.
Denn gerade die Romantik, die Wehmut und Sehnsucht zu ihren Lieblingskinder hat, mündet, wenn auch aus Jubel und Freudenklang kommend, in einen ambivalenten, schwebenden Gefühlszustand.
Beim Bundesjugendballett transportieren sich diese Cluster aus Emotionen mit jeder neuen Pose – ohne, dass die Stücke entsprechend etikettiert sein müssen.
Das Bruchstückhafte ist nun umso passender in der Abteilung der Romantik, als diese das Zitat, das Rudiment, das Relikt generell als pars pro toto sah, als Teil vom Ganzen, das zugleich für das Ganze zu stehen vermag.
Die Tänzerinnen Giorgia Giani, Minju Kang, Larissa Machado und Teresa Silva Dias sowie die Tänzer Kristian Lever, Tilman Patzak, Joel Paulin und Pascal Schmidt vom BJB zelebrierten die Parzellen aus ihrem Repertoire, als handle es sich dabei um tänzerische romantische Aphorismen.
Also um Statements, die jeweils in eine bestimmte Atmosphäre oder in einen bestimmten Themenkreis hinleiten.
„Stimmungen, unbestimmte Empfindungen, nicht bestimmte Empfindungen und Gefühle machen glücklich“, wusste der romantische Dichter Novalis zu sagen.
Aufs Ballett passt diese Feststellung vorzüglich – es gibt, neben der Musik, wohl keine gefühlsstärkere Kunstsparte.
Ein Höhepunkt dieser ungewöhnlichen Tanznacht war aber aus meiner Sicht der Pas de deux „How beautiful is Heaven“ von der Chinesin Zhang Disha. John Neumeier, der auch Intendant vom Bundesjugendballett ist, stellte dieses traurig-kämpferische Stück 2015 auf der Nijinsky-Gala beim Hamburg Ballett vor.
Es geht darin um eine todkranke Frau, deren Geliebter versucht, sie im Leben zu halten.
Das Kissen, mit dem die junge Frau tanzt, bezeichnet dabei ihre jenseitig ausgerichtete neue Identität – und trotz großer Liebe und Fürsorge ihres Partners ist es ihr nicht möglich, im irdischen Leben verhaftet zu bleiben.
Die Gefahr besteht bei diesem Paartanz darin, dass er zu leicht, zu sorglos gerät.
Denn die Choreografin, die der asiatischen Zurückhaltung beim Zeigen von Gefühlen verpflichtet ist, verzichtet auf drastische, eindeutig tragische Momente – und illustriert den Gedanken des Abschieds fast so angenehm, als handle es sich um eine Trennung von einem Partner, der nicht mehr zu einem passt.
Da müssen die Tänzer das Gewicht des Themas heraus arbeiten, denn sonst wirkt die Sache banal.
Minju Kang, diese vorzügliche Ballerina, die kommende Saison zusammen mit ihrem Freund Dale Rhodes vom Hamburg Ballett in England beim Northern Ballet tanzen wird, gelang mit viel Feinheit und Fingerspitzengefühl, aber auch mit der notwendigen Direktheit die Interpretation dieser schwierigen Rolle.
Und Pascal Schmidt war ihr in „How Beautiful is Heaven“ ein einfühlsamer, leidenschaftlicher Partner.
Die Situation für das Stück zu zweit ist denkbar diffizil:
Wenn ein Mensch das Gefühl hat, gehen zu müssen, verändert ihn das zugleich.
Das wiederum entfremdet ihn seiner nächsten Umgebung, vor allem natürlich dem am meisten geliebten Menschen.
Das Austarieren dessen, was in der Vergangenheit gewesen ist, und dessen, was kommen wird, macht die Beziehung zu Schwerkranken so kompliziert.
Im Gehen, Stehen und am Boden, bei Hebefiguren und vielfältigen Berührungen zeigt „How beautiful is Heaven“ das Ringen der Liebenden mit dem unausweichlichen Schicksal, das eine schwere Erkrankung bedeutet.
En detail – und dennoch mit viel lyrisch-poetischer Kraft – zerfällt hier die Beziehung der beiden vor unseren Augen, auch wenn vor allem der Mann immer wieder wechselnde Versuche unternimmt, die Frau zum Kämpfen um ihre Lebenskraft zu bewegen.
In der Tanzsprache der Choreografin Zhang Disha bedeutet das zugleich: die junge Frau zum Bleiben in der Beziehung zu überreden.
Doch am Ende geht sie, traumwandlerisch-somnambul, mit weit ausgestreckten Händen, als erwarte sie ein geheimnisvolles, Hoffnung versprechendes Licht.
Die Rührung, die auch in der Romantik eine große Rolle spielt, findet sich hier ebenfalls wieder, wenn auch modern überformt. Sie korrespondiert mit den pathetisch-realistischen Gemälden an den Wänden, die von Anselm Feuerbach und Adolph Menzel stammen.
Tod und Theater, Leben und Tanz kommen sich so näher – und plötzlich hat man gar nicht mehr das Gefühl, sich „nur“ auf einem Museumsevent zum besseren Kennenlernen der Künste zu befinden, sondern auf einer ganz seriösen Ballettveranstaltung.
Aber auch die anderen Pas de deux und Gruppentänze überzeugten, gaben sie doch jeweils ein Stückchen des Seelenheils der ausübenden Künstler preis.
Der Applaus war denn auch herzlich und hätte fast ein „da capo!“, also eine Zugabe gefordert.
Melancholisch machte diese Nacht indes nur bedingt – dafür aber romantisch in jedweder Hinsicht.
Gisela Sonnenburg
Noch mehr Tanz in der Hamburger Kunsthalle gibt es hier:
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