Romantische Melancholie Das Bundesjugendballett absolvierte in der „Nacht der Melancholie“ in der Hamburger Kunsthalle drei Auftritte mit Charakter

Das Bundesjugendballett riskierte nochmals Kunstkontakt.

Giorgia Giani, Pascal Schmidt, Tilman Patzak und Joel Paulin (von li. nach re.): Das Bundesjugendballett bei seinem letzten Auftritt in der „Nacht der Melancholie“ in der Hamburger Kunsthalle. In der auszugsweise getanzten Choreografie von Thiago Bordin symbolisieren Textilbande die Verbindungen zwischen Menschen. Foto: Gisela Sonnenburg

Spätvorstellung! Selten beginnt ein Ballettstück abends um 23 Uhr. In der Hamburger Kunsthalle war am letzten Samstag eben das zu erleben – es war die dritte und letzte Vorstellung des Bundesjugendballetts (BJB) in der „Nacht der Melancholie“ im just erneuerten Museum. Während die vier Tanzpaare vom BJB (das dem Hamburg Ballett angegliedert ist) zur Neueröffnung in der Sammlung des 20. Jahrhunderts auftanzten, gab es am Samstag „Interventionen“ – also kurze Stücke oder Auszüge aus Repertoire-Stücken der ungewöhnlichen Tanztruppe – in der Sammlung des 19. Jahrhunderts. Damit war die historische Romantik hier der Kulissenhintergrund für den Tanz – der indes war modern, im bekannt-beliebten BJB-Stil.

Das Bundesjugendballett riskierte nochmals Kunstkontakt.

Teresa Silva Dias und Kristian Lever in der Hamburger Kunsthalle – eine lyrisch-dramatische Situation! Foto: Gisela Sonnenburg

Die mehr als halbstündige Vorstellung begann im mit „Facetten des Realismus“ betitelten Saal – und genau dieser Aspekt passte auch auf die Darbietung der Tänze.

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Mit Hebefiguren wird die Beziehung tragfähig: Das BJB in der Hamburger Kunsthalle. Dass die Ballerina hier Socken statt Schuhe trägt, ist Absicht. Foto: Gisela Sonnenburg

Um Beziehungen ging es zumeist darin, um Mann-Frau-Beziehungen, aber auch um den Umgang mit Krankheiten und sogar dem Tod.

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Die moderne Melancholie ist weniger schmachtend, auch weniger ohnmächtig als die romantische. So zu erfahren beim BJB in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Ernsthafter hätte die Melancholie sich hier also nicht behandelt sehen können.

Mit einem lakenähnlichen Stoffband spielen die Tänzer im ersten Teil, und zwar in einem Tanzstück, dessen Originalchoreografie von Thiago Bordin stammt.

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In einer neuen Umgebung wirkt auch das Stück anders: Noch einmal die Choreo von Thiago Bordin in der Hamburger Kunsthalle, getanzt vom Bundesjugendballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Textil steht für die Verbindungen zwischen Menschen, die sie stützen und ihnen helfen, die aber auch zu einem Zwang oder einer existenziellen Einengung werden können.

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Kevin Haigen, Künstlerischer und Pädagogischer Leiter vom BJB, kontrollierte die Nacht-Vorstellung des BJB in der „Nacht der Melancholie“ in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Unter der Aufsicht seines Künstlerischen und Pädagogischen Leiters Kevin Haigen tanzte das BJB erstmals diese seit 2013 in seinem Repertoire befindliche, dramatisch-lyrische Choreografie in einem Museum.

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Das romantische Streben in männlich-moderner Ausprägung. So war es zu sehen in der Hamburger Kunsthalle in der „Nacht der Melancholie“ mit dem BJB. Foto: Gisela Sonnenburg

Graue Tanzteppiche waren über die Mittelstücke der drei Säle, die bei diesem Gig bespielt wurden, ausgebreitet.

Darauf wirkten die Choreografien – zumal ohne Theaterlicht – wie neu.

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Echte Freundschaften zerreißen nicht so schnell… Das Bundesjugendballett mit Textilbanden in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Melancholie sei die Mutter aller Künste, stellte bereits der 1801 gestorbene Schweizer Philosoph Johann Caspar Lavater fest.

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Der Leiter Kevin Haigen beobachtet seine Tänzerinnen und Tänzer – in der „Nacht der Melancholie“ in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Man mag entgegen halten, dass die Freude mindestens ebenso großen Anteil an der Geburt künstlerischen Schaffens habe. Oder der Drang nach Freiheit. Oder auch schlicht die Sehnsucht nach Liebe.

Lavater indes, als Vertreter der Aufklärung, hätte da wohl nicht mit sich handeln lassen. Für ihn stand die Melancholie im Zentrum der schöngeistigen Wahrheit, und es ist interessant, dass Aufklärung und Romantik – die mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ihren Beginn nahm – beide, so gegensätzlich sie sonst auch sein mögen, sich hierin treffen.

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Eine Beziehung kann auch eine Art Spagat sein… so zu sehen beim Bundesjugendballett in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Denn gerade die Romantik, die Wehmut und Sehnsucht zu ihren Lieblingskinder hat, mündet, wenn auch aus Jubel und Freudenklang kommend, in einen ambivalenten, schwebenden Gefühlszustand.

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Ist die Beziehung vollendet, wenn es der Spagat ist? Fragen der Moderne in der Romantik, gestellt vom BJB in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Beim Bundesjugendballett transportieren sich diese Cluster aus Emotionen mit jeder neuen Pose – ohne, dass die Stücke entsprechend etikettiert sein müssen.

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Bruchstückhaft auch so manche Beziehung: Das BJB bei den „Facetten des Realismus“ in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Bruchstückhafte ist nun umso passender in der Abteilung der Romantik, als diese das Zitat, das Rudiment, das Relikt generell als pars pro toto sah, als Teil vom Ganzen, das zugleich für das Ganze zu stehen vermag.

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Die Tänzerinnen und Tänzer vom BJB haben ihre Bühne hier mitten im Museum – auf edelgrauem Tanzteppich in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Tänzerinnen Giorgia Giani, Minju Kang, Larissa Machado und Teresa Silva Dias sowie die Tänzer Kristian Lever, Tilman Patzak, Joel Paulin und Pascal Schmidt vom BJB zelebrierten die Parzellen aus ihrem Repertoire, als handle es sich dabei um tänzerische romantische Aphorismen.

Also um Statements, die jeweils in eine bestimmte Atmosphäre oder in einen bestimmten Themenkreis hinleiten.

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Modernes Ballett kennt, wie hier, auch ungewöhnliche Varianten vom Paar-Thema. Kristian Lever und Teresa Silva Dias vom BJB in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

„Stimmungen, unbestimmte Empfindungen, nicht bestimmte Empfindungen und Gefühle machen glücklich“, wusste der romantische Dichter Novalis zu sagen.

Aufs Ballett passt diese Feststellung vorzüglich – es gibt, neben der Musik, wohl keine gefühlsstärkere Kunstsparte.

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„How beautiful is Heaven“ – „Wie schön ist der Himmel“, so fragt das Stück von Zhang Disha aus China – und es fragt ohne Fragezeichen. Ein Hinweis auf den Tiefgang dieses Paartanzes. Foto vom BJB mit Minju Kang und Pascal Schmidt in der Hamburger Kunsthalle: Gisela Sonnenburg

Ein Höhepunkt dieser ungewöhnlichen Tanznacht war aber aus meiner Sicht der Pas de deux „How beautiful is Heaven“ von der Chinesin Zhang Disha. John Neumeier, der auch Intendant vom Bundesjugendballett ist, stellte dieses traurig-kämpferische Stück 2015 auf der Nijinsky-Gala beim Hamburg Ballett vor.

Es geht darin um eine todkranke Frau, deren Geliebter versucht, sie im Leben zu halten.

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Pascal Schmidt und Minju Kang in „How beautiful is Heaven“ von Zhang Disha. DIe beiden BJB-Interpreten bewiesen in der Hamburger Kunsthalle, dass sie keine Anfänger mehr sind! Foto: Gisela Sonnenburg

Das Kissen, mit dem die junge Frau tanzt, bezeichnet dabei ihre jenseitig ausgerichtete neue Identität – und trotz großer Liebe und Fürsorge ihres Partners ist es ihr nicht möglich, im irdischen Leben verhaftet zu bleiben.

Die Gefahr besteht bei diesem Paartanz darin, dass er zu leicht, zu sorglos gerät.

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Liebe und Tod sind hier beide ein Thema: „How beautiful is Heaven“ von Zhang Disha mit dem BJB in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Denn die Choreografin, die der asiatischen Zurückhaltung beim Zeigen von Gefühlen verpflichtet ist, verzichtet auf drastische, eindeutig tragische Momente – und illustriert den Gedanken des Abschieds fast so angenehm, als handle es sich um eine Trennung von einem Partner, der nicht mehr zu einem passt.

Da müssen die Tänzer das Gewicht des Themas heraus arbeiten, denn sonst wirkt die Sache banal.

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Pascal Schmidt und Minju Kang in „How beautiful is Heaven“ von Zhang Disha, in der Hamburger Kunsthalle bei der „Nacht der Melancholie“. Foto: Gisela Sonnenburg

Minju Kang, diese vorzügliche Ballerina, die kommende Saison zusammen mit ihrem Freund Dale Rhodes vom Hamburg Ballett in England beim Northern Ballet tanzen wird, gelang mit viel Feinheit und Fingerspitzengefühl, aber auch mit der notwendigen Direktheit die Interpretation dieser schwierigen Rolle.

Und Pascal Schmidt war ihr in „How Beautiful is Heaven“ ein einfühlsamer, leidenschaftlicher Partner.

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Und noch einmal „How beautiful is Heaven“ von Zhang Disha mit dem BJB in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Situation für das Stück zu zweit ist denkbar diffizil:

Wenn ein Mensch das Gefühl hat, gehen zu müssen, verändert ihn das zugleich.

Das wiederum entfremdet ihn seiner nächsten Umgebung, vor allem natürlich dem am meisten geliebten Menschen.

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Sie kämpfen, aber die Krankheit wird siegen: Die Liebenden in „How beautiful is Heaven“ von Zhang Disha mit dem BJB in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Austarieren dessen, was in der Vergangenheit gewesen ist, und dessen, was kommen wird, macht die Beziehung zu Schwerkranken so kompliziert.

Im Gehen, Stehen und am Boden, bei Hebefiguren und vielfältigen Berührungen zeigt „How beautiful is Heaven“ das Ringen der Liebenden mit dem unausweichlichen Schicksal, das eine schwere Erkrankung bedeutet.

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Am Ende geht sie – für immer. Minju Kang und Pascal Schmidt in der traurigen Schlussszene von „How beautiful is Heaven“ von Zhang Disha. Foto: Gisela Sonnenburg

En detail – und dennoch mit viel lyrisch-poetischer Kraft – zerfällt hier die Beziehung der beiden vor unseren Augen, auch wenn vor allem der Mann immer wieder wechselnde Versuche unternimmt, die Frau zum Kämpfen um ihre Lebenskraft zu bewegen.

In der Tanzsprache der Choreografin Zhang Disha bedeutet das zugleich: die junge Frau zum Bleiben in der Beziehung zu überreden.

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Larissa Machado vom Bundesjugendballett faszinierte die Zuschauer mit ihren gekonnten Posen – in der „Nacht der Melancholie“ in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Doch am Ende geht sie, traumwandlerisch-somnambul, mit weit ausgestreckten Händen, als erwarte sie ein geheimnisvolles, Hoffnung versprechendes Licht.

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Zu dritt gehen sie im selben Takt: in der „Nacht der Melancholie“ in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Rührung, die auch in der Romantik eine große Rolle spielt, findet sich hier ebenfalls wieder, wenn auch modern überformt. Sie korrespondiert mit den pathetisch-realistischen Gemälden an den Wänden, die von Anselm Feuerbach und Adolph Menzel stammen.

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Kristian Lever vom BJB in der „Nacht der Melancholie“. Sein Schatten liegt vor ihm wie das Spiegelbild vor Narziss an der Quelle. Foto: Gisela Sonnenburg

Tod und Theater, Leben und Tanz kommen sich so näher – und plötzlich hat man gar nicht mehr das Gefühl, sich „nur“ auf einem Museumsevent zum besseren Kennenlernen der Künste zu befinden, sondern auf einer ganz seriösen Ballettveranstaltung.

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Faszinierend: Mann und Frau begegnen sich… so in der „Nacht der Melancholie“ mit dem BJB in der Hamburger Kunsthalle. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber auch die anderen Pas de deux und Gruppentänze überzeugten, gaben sie doch jeweils ein Stückchen des Seelenheils der ausübenden Künstler preis.

Der Applaus war denn auch herzlich und hätte fast ein „da capo!“, also eine Zugabe gefordert.

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Applaus für das Bundesjugendballett in der Hamburger Kunsthalle, als es in der „Nacht der Melancholie“ auf Mitternacht zuging… Foto: Gisela Sonnenburg

Melancholisch machte diese Nacht indes nur bedingt – dafür aber romantisch in jedweder Hinsicht.
Gisela Sonnenburg

Noch mehr Tanz in der Hamburger Kunsthalle gibt es hier:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-kunsthalle/

Und zu den Veranstaltern bitte hier:

www.hamburger-kunsthalle.de

www.bundesjugendballett.de

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