Liebe und ihre Befähigungen Virna Toppi und Emilio Pavan, Jeanette Kakareka und Jinhao Zhang sowie Prisca Zeisel mit dem Bayerischen Staatsballett in der „Kameliendame“ von John Neumeier

"Die Kameliendame" in neuer Besetzung in München

Ein neues Paar in der „Kameliendame“ von John Neumeier beim Bayerischen Staatsballett: Virna Toppi und Emilio Pavan. Foto: Serghei Gherciu

Die Melodie fräst sich ins Ohr. Wenn die Titelheldin der „Kameliendame“ von John Neumeier leidet und nur die Liebe ihren Schmerz zu lindern vermag, schwelgt das Publikum in den gefühligen Klängen von Frédéric Chopin. Romantik, Herz und Wehmut sind Trumpf, das Schmachten ist Programm. Beim Bayerischen Staatsballett gibt es derweil News: Nach Lucia Lacarra, Alina Cojocaru und Anna Laudere hat München eine neue ballettöse Darstellerin der Marguerite Gautier, also der Dame mit den Kamelien:Virna Toppi, die jüngste Errungenschaft von Ballettdirektor Igor Zelenksy und der Mailänder Tradition der Scala entstammend, verkörpert an der Seite von Emilio Pavan als Armand einen ganz neuen Typ Kameliendame: weniger dramatisch, dafür durchaus lyrisch; weniger leidenschaftlich, dafür sehr sehnsüchtig; weniger auffallend, dafür einschmeichelnd feminin.

Die große Liebende hier, von John Neumeier nach dem Romanvorbild von Alexandre Dumas d. J. erschaffen, ist todkrank – und verzichtet aus reinem Altruismus auf das Glück mit ihrem Geliebten. Was für ein Engel, was für ein Ausbund an Tugend ist sie – und das als gefeierte Kurtisane im Paris des 19. Jahrhunderts, als eine Femme fatale also, die mit ihrem  erotischen Talent zuvor für Furore sorgt.

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Das berühmteste Foto aus der „Kameliendame“ von John Neumeier in der berühmtesten Münchner Besetzung: Lucia Lacarra und Marlon Dino, fotografiert von Charles Tandy / Bayerisches Staatsballett. 

Diese Partie ist fordernd, eine der bedeutendsten des modernen Balletts; eine Traumrolle für alle Primaballerinen und eine Wegstrecke, die ehrgeizige Tänzerinnen weltweit gegangen sein wollen.

Und: Sie bietet ihren Darstellerinnen die wohl beste Gelegenheit, mit John Neumeier und seinem Ersten Ballettmeister Kevin Haigen (dem ersten Hamburger Armand) intensiv ein Profil zu erarbeiten. Es gibt keine Kameliendame, die diese Prozedur nicht – voll Genuss – mitgemacht hat.

Ohne diese Autorisierung qua Handlung gibt es keinen Weg auf die Bühne als Kameliendame!

Die grandiose Marcia Haydée kreierte die Rolle, gleich zwei Mal: bei der Uraufführung 1978 beim Stuttgarter Ballett und bei der Überarbeitung des Balletts 1981 in Hamburg. Für sie wurde dieses Ballett erschaffen, ihr Fluidum hat jedes Detail der choreografischen Rollenzeichnung geprägt.

Seither gab es im In- und Ausland aber immer wieder überraschende, ja sensationelle Interpretationen dessen. Beim Ballett der Pariser Opéra war es die majestätische Isabelle Ciaravola, beim Bayerischen Staatsballett die unübertrefflich elegant-erotische Lucia Lacarra: beide strahlten als „Kameliendame“ unvergesslich schön, anrührend, liebenswert, bewunderungswürdig. Lacarra  brillierte (ab 2004) sogar fünfzehn Jahre lang in dieser Partie, stetig an Tiefe und Ausdruckskraft noch dazu gewinnend.

Das Hamburg Ballett brachte derweil mit Anna Laudere, die die Rolle seit 2012 tanzt, eine betont modern-elegische, manchmal gar kantig-hybride „Kameliendame“ hervor, die auch mit ungewohnt weitläufigen Linien in einer absoluten Ästhetik zu überzeugen weiß. Sie ist bis heute die vom Körperdesign her fortschrittlichste Kameliendame. Das Münchner Publikum kam 2019 in den Genuss, sie als Stargast zu erleben.

Betont modern in der stilistischen Interpretation: Anna Laudere als „Kameliendame“ mit Emilio Pavan, hier als Monsieur Duval, beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Bayerisches Staatsballett

Beim Königlich-Dänischen Ballett in Kopenhagen fand hingegen Ida Praetorius mit feinsinniger Niedlichkeit und mädchenhafter Frische ebenfalls eine eigenwillige Neuinterpretation, während die Präzisionsballerina Svetlana Zakharova vom Bolschoi-Theater in Moskau (2014) als erste Marguerite schon fast eine ätherische Sylphide in dieser Partie abgab. Als erste Tänzerin durfte sie die rein lyrischen Aspekte der „Kameliendame“ besonders stark herausarbeiten und von vornherein Todessehnsucht und Sinnlichkeit vermischen.

Auf ihren Spuren wandelt nun Virna Toppi, das Vorbild allerdings noch nicht ganz erreichend und auch die Eindrücke, die die Weltballerina Lucia Lacarra und die eigensinnig-moderne Anna Laudere in München hinterlassen haben, kaum mindernd.

Anna Laudere und Edvin Revazov in der „Kameliendame“ – im Weißen Pas de deux – 2019 zu Gast beim Bayerischen Staatsballett. Foto: O. Exner

Dafür gelingt Toppi ein wiederum wirklich neuer Zugang zum Stück, wenn er auch noch etwas zaghaft, manchmal gar farblos einherkommt: Stärker als je zuvor wirkt Marguerite Gautier mit Toppi als ein von der Gesellschaft hervorgebrachter Solitär, als ein wandelnder Monolith, als eine Person, die zugleich Sündenbock und Außenseiter ist und doch das schillernde Zentrum ihrer gesellschaftlichen Sphäre darstellt.

Was für ein seltener Fixpunkt einer Geschichte!

Böse gesagt: Diese Marguerite ist so narzisstisch, wie es Menschen nur heutzutage sein können. Positiv formuliert: Diese Marguerite verkörpert das Grundproblem unserer Gesellschaft, nämlich die Auflösung des natürlichen Individualismus zu Gunsten eines dem Gruppenzwang verfallenen, erfolgsgeil übersteigerten Egoismus.

Egomanie total – was sich schon immer in den quietschbunten Kostümen der Damen mit  Rüschenvolant und Spitzenorgien zeigte (die Kostüme und Kulissen stammen selbstredend vom legendären Meister der Ballettausstattung, von Jürgen Rose), tanzt diese Kameliendame nun wie selbstverständlich mit ihrem geschmeidigen Körper auf den trippelnden Zehenspitzen.

"Die Kameliendame" in neuer Besetzung in München

Bei der Probe für „Die Kameliendame“ von John Neumeier fotografiert: Emilio Pavan, hier mit Lockenkopf, als Armand im Ballettsaal. Foto: Kiran West

Als der unbedarfte, oft passive, aber flugs verliebte Armand in diese affektierte Welt aus Reichtum und vorgetäuschter Freundlichkeit einbricht, fängt die Kameliendame an, sich zu öffnen. Plötzlich wird sie weich, zugänglich, ihr Panzer aus angeberischer Repräsentanz bricht auf. Sehr schön deutlich zeigt Virna Toppi diese Wandlung während des ersten großen Blauen Pas de deux im blauvioletten Kleid mit roter Blume am Ausschnitt.

Jugendlich und tief empfindend, aber deutlich weniger stürmisch als die meisten anderen Armands, stellt Emilio Pavan daraufhin den neuen Liebhaber der Luxuskurtisane dar. Er ist burschenhaft-drängend, zugleich aber ernsthaft und fast stur, stoisch, gelassen. Pavans Armand scheint doch von Anfang an zu ahnen, worauf er sich einlässt: auf ein Abenteuer mit tragischem Ausgang.

Als er gen Ende das traurige Tagebuch der dann Verstorbenen liest, zeigt er nur Erstarrung, keine Regung – so extrem passiv war bisher noch kein Armand, er ist das Gegenstück zu vielen an dieser Stelle aufgeregten, auch heftig weinenden Armands.

Der Dreitagebart, den Pavan in der gestrigen Vorstellung trug – zufällig war auch noch Valentinstag, der Jahrestag aller Verliebten – verlieh ihm die dem entsprechende Anmutung eines etwas nachlässigen, verträumten Studenten, und das passt durchaus zu Armand, der finanziell nicht auf eigenen Füßen steht, sondern von seiner wohlhabenden elterlichen Familie in der Provinz abhängig ist.

Und so kann Armand sich seine große Liebe im Grunde materiell nicht leisten. Marguerite muss einen großen Teil ihrer Vermögenswerte veräußern, um sich mit Armand für einen – traumhaft ganz in Weiß inszenierten – Sommer aufs Land zurückzuziehen.

Auch dort haben sie Spaß mit Freunden und Bekannten; Simon Murray als begabter Pianist befindet sich mit auf der Bühne, die Musik ist solchermaßen Teil des tänzerischen Geschehens. Das Leben erscheint als eine einzige Open air Party, als frivoles Geschenk des Himmels an jene, die auf der Sonnenseite geboren wurden oder es irgendwie dorthin geschafft haben.

"Die Kameliendame" in neuer Besetzung in München

Kostümprobe im Ballettsaal: Prisca Zeisel probt als Prudence in der „Kameliendame“ von John Neumeier. Wird sie auch mal die Titelrolle erhalten? Foto: anonym / Facebook

Auftritt Prudence: Die Freundin und Kupplerin von Marguerite ist eine Rolle mit speziellem Glanz, zeigt viele Emotionen und Facetten von Verhaltensweisen. Sie ist ganz und gar nicht glorifiziert, steht auch für materielle Habgier, für Vergnügungssucht und frivole Eitelkeit. Aber sie hat auch das Herz auf dem rechten Fleck.

Kurz: Es ist eine Rolle für eine Vollblutkünstlerin der Bühne, für eine Tänzerin, die sowohl knifflige Technik als auch fast volkstümliche Darstellungsweisen beherrscht. Ach, es ist eine Rolle, die wie gemacht ist für die jedes Mal darin fantastische junge Prisca Zeisel, jene Wiener Primaballerina, die sich rühmen darf, die wohl vielseitigste ihrer Generation zu sein.

In der Szene auf dem Land tänzelt Prudence im Spitzenkleid ein erotisch obsessives, animierendes Spitzentanzsolo mit zahlreichen Finessen – und Prisca Zeisel absolviert es meisterlich!

Ihr Esprit und ihr ungebrochenes Spiel, ihre Konzentration und nicht zuletzt ihre fabelhafte Fußarbeit küren sie zu einer Königin des Balletts, gerade weil sie sich nicht auf simple, starre  Schönheitsmuster reduzieren lässt. Und dabei ist sie so attraktiv wie nur wenige Ballerinen – voilà, hier hat nicht nur München eine große Hoffnung.

Unwiderstehlich: "Der Nussknacker" von John Neumeier

Ein Spagatsprung wie mit dem Lineal in die Luft gezogen: Prisca Zeisel als Louise im „Nussknacker“ von John Neumeier beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Ob sie jemals die Titelheldin Marguerite wird verkörpern dürfen, weiß man nicht. So etwas hängt von vielen Faktoren ab; der Choreograf John Neumeier hat das Vorrecht, die Besetzung weltweit zu bestimmen, und stets sind diese Besetzungen auch für ein ganz bestimmtes Ensemble gedacht.

Aber uns fällt keine weibliche Rolle in der „Kameliendame“ ein, die Zeisel nicht glorios tanzen und spielen könnte. Da ist die der Marguerite keine Ausnahme.

Lassen Sie uns darüber nachdenken:

Keck wäre Prisca Zeisel, weniger elegisch als die meisten Kameliendamen, dafür kess und spontan. Was wiederum eine Neuheit wäre: eine wilde Marguerite, eine, die das Leben selbst im Sturm nimmt statt sich nur immer nehmen zu lassen. Ihr Armand müsste eine gelassene Ruhe ausstrahlen, ein gut erzogener Gentleman sein, der ihr vom ersten Anblick an mehr und mehr verfällt. Ihre Wildheit würde seine entfachen – und sie könnten ein nachgerade revolutionäres Pärchen abgeben.

Die Choreografie würde das zweifelsohne alles hergeben, mehr noch: Wie jede wirklich gelungene Choreo ist auch diese in so vieler Hinsicht tragfähig, dass alles Menschliche darin Platz hat.

Insbesondere die Frauenrollen in der „Kameliendame“ strotzen nur so vor Lebendigkeit.

"Die Kameliendame" in neuer Besetzung in München

Als Nanina aus der „Kameliendame“ in München bestens bekannt: Séverine Ferrolier. Foto: Bayerisches Staatsballett

Da ist auch Nanina, die treue Dienerin der Titelheldin. In München ist Séverine Ferrolier eine feste, süße und sympathische Größe in dieser ballettuntypischen Rolle, die nicht so täppisch ist wie die klassische Ammenrolle, in deren Tradition sie steht, die aber dafür mehr Pep und Weiblichkeit verströmen darf.

In der Szene des Landlebens ist sie mit dabei und darf voll Hingabe ein urkomisches Trio mittanzen – ansonsten aber ist es vor allem eine Schreitrolle, die mit unendlicher Geduld der Herrin, der Titelpartie, zuarbeitet.

Nanina pflegt die Kameliendame, bis diese, an Tuberkulose sterbend, im weißen Miederkleid  aus dem Leben geht. Nach ihrem Tod bewacht Nanina wie eine mysteriöse Hüterin das zu versteigernde Rest-Inventar der einst opulent ausgestatteten Wohnung, sagt gleichermaßen einer ganzen Epoche adieu.

Sie nimmt auch Abschied von einer Illusion, die selten so fasslich wird wie in diesem Ballett: dass die Liebe immer gut und immer schön und immer edel sei.

"Die Kameliendame" in neuer Besetzung in München

Virna Toppi als „Kameliendame“ – glücklich und ganz bei sich – beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Serghei Gherciu

Denn Marguerite, die auf dem Land nach ihrem bezaubernden so genannten Weißen Pas de deux mit Armand ganz zu sich selbst findet, erhält in ihrem weißen Korbgestühl mit Gartenflair Besuch: Der Vater von Armand ist angereist, um ihr den Verzicht auf seinen Sohn abzuringen. Vorgeblich, um dessen Karriere nicht zu verbauen, weiß der Vater den Sohn wie eine imaginäre Schachfigur vor sich herzuschieben und die Argumente wie ein Hütchenspieler so lange zu vertauschen, bis Marguerite einwilligt.

Die weißen Korbstühle mit runden hohen Rückenlehnenbögen entstammen einer Gartenmöbelmode, die auch im Filmgenre eine Legende gestiftet haben.

1974, vier Jahre vor der Uraufführung der „Kameliendame“, brachte Ingmar Bergman mit „Schreie und Flüstern“ einen teilweise schockierenden Film über Frauen heraus, in dem es ebenfalls um das Thema vom  schönen Sterben geht. In beiden Werken erscheint der Tod, weil er aufgrund von Krankheit unausweichlich ist, nicht nur als Schrecken, sondern auch als Komplize. Und in beiden Werken wird eine starke Frau höchst sinnlich im weißen Korbstuhl mit Thronanmutung inszeniert.

"Die Kameliendame" in neuer Besetzung in München

Liv Ullmann im weißen Korbsessel mit großem Rückenlehnenbogen in „Schreie und Flüstern“ von Ingmar Bergman (1974). Ein Sinnbild der melancholischen emanzipierten Frau! Videostill von arte: Gisela Sonnenburg

Aber ist die „Kameliendame“ so stark, wie wir sie sehen? Das hängt von ihrer Darstellerin, von der jeweiligen Interpretation, ab. Und von der ihrer Bühnenpartner.

Javier Amo ist ein erfahrener Erster Solist, der in der Rolle des Monsieur Duval ganz den seriösen Geschäftsmann heraushängen lässt. Sein Feingefühl ist famos aufgesetzt, wie es die Partie erfordert, und seine emotionale Stärke beschränkt sich darauf, sich durchzusetzen. Diesem Mann ist nur schwer etwas abzuschlagen, zumal dann nicht, wenn er es darauf anlegt zu gewinnen.

Die Kameliendame hat mit ihm von Anfang an keine Chance. Virna Toppi gelingt auch hier in eindringlicher Weise, das Dilemma ihrer Figur zu verdeutlichen. Einerseits ist sie das verliebte Mädchen, das dank seines neuen Lebensstils auf dem Land Hoffnung schöpfen kann, nicht alsbald an der zehrenden Lungenerkrankung sterben zu müssen. Andererseits wird sie moralisch von Duval in die Enge getrieben – und choreografisch in die Knie gezwungen. Sie wird von ihm besiegt.

Der Grund dafür liegt auch in ihrem eigenen Wertesystem. Sie anerkennt in ihm ein patriarchal-moralisches Prinzip, von dem sie sich selbst wiederum ein gewisses Seelenheil verspricht: nämlich, wenn sie ihr irdisches Glück opfert. Ist das nun die späte Reue einer Prostituierten oder die absurde Hoffnung einer Todkranken auf göttliche Vergebung?

Geht es ihr nur um Armand oder auch um sich?

Mehr noch: Kann Marguerite hier überhaupt erfassen, worum es dem alten Duval geht? Oder beugt sie sich schlicht dem Recht des Stärkeren?

"Die Kameliendame" in neuer Besetzung in München

Simon Murray am Piano auf der Bühne – Chopin live und der Musiker als Akteur. So zu sehen in „Die Kameliendame“ von John Neumeier beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Serghei Gherciu

Jemand wie der anscheinend „anständige“ Duval ist auch bedrohlich. Er könnte einer kranken Kurtisane sicher das Leben verderben, sollte sie nicht mit ihm kooperieren, zumal sein Sohn zur Kritik an seinem alten Herrn völlig unfähig scheint. Aber gibt es überhaupt eine gesellschaftskritische Haltung in diesem Libretto?

Eigentlich nur die des Publikums. Das ist die Verantwortung, die ihm hier aufgebürdet wird – und man muss hoffen, dass es sie nicht leichthin vernachlässigt.

Für Marguerite gibt es nach der „moralischen“ Entscheidung, ihren Geliebten zum Schein zu verstoßen, jedenfalls keinen Weg zurück.

Auch nicht, als sie – weil Armand sie in maßlos gekränkter Eitelkeit öffentlich blamiert – zu ihm kommt, um ihn um Schonung zu bitten. Zwar ergeben sich beide noch einmal dem aufflammenden Gefühl füreinander, und der Schwarze Pas de deux, den sie zu höchst  dramatischer Klaviermusik tanzen – sie wirbeln, seufzen, pirouettieren, fliegen darin regelrecht – ist ein ballettöser Versöhnungsfick par excellance. Aber er ist zugleich der Abschied von einer Leidenschaft, die zu schön war, um Bestand zu haben in einer Welt, die Standesunterschiede nicht duldet.

Armand ist vielleicht auch der Falsche für ein Abenteuer über Gebühr. Von ihm kommt – weder im Roman noch im Ballett noch in der Oper „La Traviata“ von Giuseppe Verdi, die ebenfalls nach der Romanvorlage entstand – nichts, um die Liebe als Liebe in der Realität zu ermöglichen. Keine Idee, keine Handlung. Armand reagiert nur: Erst ist er eifersüchtig, weil Marguerite mit dem Geld ihrer Freier ihren Hausstand unterhält, dann lässt er sich von ihr im Sommer auf dem Land einfach aushalten, ohne zu fragen, woher die Mittel dazu kommen.

Pläne für eine gemeinsame Zukunft macht er nicht; sich seinem Vater zu offenbaren, um entweder von diesem Hilfe zu erbitten oder mit der bürgerlichen Welt zu brechen und irgendwo neu anzufangen, kommt ihm nicht mal in den Sinn.

Armand ist sozusagen der Schlaffi in dieser Geschichte: Während Marguerite sich wandelt und alles für ihre Liebe unternimmt, was notwendig ist, schließt er die Augen vor der sozialen Wahrheit und genießt.

Und als sich Marguerite ihm aufopfert, erkennt er das noch nicht einmal – und spielt die beleidigte Leberwurst.

"Die Kameliendame" in neuer Besetzung in München

Armand (Emilio Pavan) begehrt nach wie vor Marguerite (Virna Toppi) – und hält sie hier doch zum letzten Mal in den Armen. So zu sehen in „Die Kameliendame“ von John Neumeier beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Serghei Gherciu

Nun hat es so ein ungleiches Paar in der Gesellschaft auch nicht leicht. Die Kurtisane, die sich einen finanziell unfreien Liebhaber nimmt, macht sich lächerlich. Und der Gockel, der auf Kosten einer Frau goutiert, ohne etwas anderes als Sex und angenehme Gesellschaft zurückzugeben, verhält sich in den Augen Außenstehender auch nur wie ein Prostituierter.

Als Ausgleich für die mangelnde moralische Anerkennung haben Marguerite und Armand ihre Pendants in bühnenwirksam dann und wann auftauchenden, literarisch inspirierten  Traumgestalten.

Frei nach dem berühmten „Manon Lescaut“-Roman von Abbé Prévost und auch nach dem Ballett „Manon“ von Kenneth MacMillan erschuf John Neumeier ein imaginäres Gegenduo zu Marguerite und Armand. Im Roman von Dumas schenkt Armand seiner Geliebten das Buch von Prévost; im Ballett stehen Manon und ihr Geliebter Des Grieux als Theater-im-Theater mit auf der Bühne.

Sie kehren als geisterhafte Erscheinungen wieder. Dabei verkörpern sie zugleich Vergangenheit und Gegenwart – insbesondere das Liebesschicksal von Marguerite findet sich teilweise vorweggenommen.

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Die Pas de trois von Marguerite mit dem jenseitigen Paar gehören zu den delikaten Höhepunkten dieses Balletts. Sie zeichnen auch den inneren Zustand der Marguerite nach, sind zu Beginn noch stark und selbstbewusst, geraten zunehmend in Leidenssituationen und ziehen schließlich, in von der Flucht zerfetzten, staubigen Gewändern, wie ewige Verdammte durch das Nirwana der Träume.

Jeanette Kakareka und Jinhao Zhang gaben gestern ihr umjubeltes Debüt als Manon und Des Grieux, und das, obwohl die Münchner Messlatte auch hier schon ziemlich hoch hing.

Denn Kristina Lind und Dmitrii Vyskubenko gaben bereits tolle Steilvorlagen.

Aber in der Besetzung mit Virna Toppi und Emilio Pavan als Hauptpaar ist alles anders. Weil hier sogar die Kameliendame und ihr Galan teilweise ganz lyrisch und ätherisch sind, kommt ihrem Pendantpaar eine verschärfte Aufgabe zu: gespensterhaft und vergeistigt zu wirken.

Mit zarter, filigraner Figur, aber großer Sicherheit in den Linien behauptet sich Jeanette Kakareka als sehr berührende Manon.

Jinhao Zhang – die beiden sind auch privat ein Paar – hebt sie denn auch, als sei sie eine aus Luft gewebte Silhouette, und seine exzellenten Arabesken, charmanten Gesichtszüge und starken Arme bieten ihr jeden Halt, den sich eine Frau nur wünschen kann.

Als Quartett wirken diese vier Hauptpersonen stimmig und harmonisch, sie ergänzen einander und bilden eine eigene, ein wenig jenseitige Welt.

Der Tod Marguerites hingegen steht dem krass gegenüber. Sie stirbt einsam und verarmt an ihrer Krankheit, nurmehr umsorgt von ihrer treuen Nanina.

Wer hier nicht weint, der hat kein Herz!

Dass Michael Schmidtsdorff das Stück, das musikalisch aus vielen, oftmals orchestrierten Klavierstücken von Chopin besteht, hervorragend dirigiert, liegt nicht nur, aber auch an seiner reichhaltigen Erfahrung damit.

Dass aber nur die Liebe einen so großartigen Abend wie den gestrigen zu inszenieren weiß, bedarf keiner weiteren Beweise.
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg

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