Was für eine legendäre Vorstellung! Liebe, Macht, Betrug, Wahrheit, Eifersucht, Tod. Alle großen Gefühle, die Leo Tolstois Romanfigur „Anna Karenina“ umgeben, kulminierten vor dem Hintergrund, dass hier einer der ganz Großen seinen Bühnenabschied nahm. Denn Tigran Mikayelyan, der dreizehn Jahre lang das Bayerische Staatsballett mit seiner starken Persönlichkeit prägte, wird künftig nur noch freiberuflich tanzen – und das täglich absolvierte Tänzertraining gegen die vermittelnden Aufgaben als kinästhetischer Therapeut eintauschen. Als Schürzenjäger Stiwa in der Choreografie von Christian Spuck tanzte Mikayelyan nun zum letzten Mal eine tragende Partie in Münchens Nationaltheater – und begeisterte, rührte, schockierte sein „bayerisches Staatspublikum“, wie er es zu nennen pflegt, bis zur Schmerzgrenze.
Mit Fassung soll Gattin Dolly – vom Bolschoi ist sie nach München gekommen, was man wunderbarerweise sieht: Elvina Ibraimova – die Eskapaden ihres unsteten Ehemannes erdulden. Aber sie hat viel Temperament und Stolz, und die Ehestreitszenen der beiden auf der Bühne sind ein Kabinettstück für sich.
Stiwa wiederum genießt trotzdem weiterhin die Frauen am liebsten ohne das Wissen seiner Gattin. Viel wert sind sie ihm nach dem Sex aber wohl nicht mehr. Dafür lockt ihn der Reiz des Neuen, immer wieder.
Ein Weinstein auf Wohnzimmerniveau. Kein Dienstmädchen ist vor ihm sicher, und auch so manche feine Dame der Gesellschaft baggert er an, als gebe es kein Morgen.
Arme Dolly… Elvina Ibraimova leidet so unfasslich und kann ihre Situation als betrogene Ehefrau doch nicht ändern.
Und Tigran Mikayelyan lebt seine Rolle als Stiwa! Er verleiht diesem dubiosen Fremdgänger, der insgeheim vielleicht doch nur ein ganz gewöhnlicher, unerzogener Mensch ist, den Nimbus eines Casanova.
Natürlich kann man aus seiner eigenen Sexualität mal eben eine Lebensphilosophie machen. Und jeder flüchtigen Erregung nachgeben, als sei sie des Lebens höchster Sinn. Aber was ist man dann anderes als ein triebgesteuertes Karnickel?
Wieviel emotionaler verläuft da doch der Ehebruch der Titelheldin: die fantastische Ksenia Ryzhkova zeigt einmal mehr, mit wieviel Inbrunst ihre Anna Karenina liebt, jawohl, wahrhaftig liebt, obwohl sie ebenfalls die Regel bricht.
Doch während ihr Ehemann sich von ihr mental und auch räumlich immer weiter entfernt, zieht der elegante Graf Wronski sie magisch an. Jonah Cook spielt und tanzt den verführerischen Grafen, der Anna erst unbändig selig macht, um sie dann, nach der Trennung von ihrem Mann, unwissentlich ins Unglück zu stürzen. Was für ein tragisches Traumpaar!
Das dritte Pärchen hier im Stück hat mehr Fortune: Kitty, getanzt von der unvergleichlichen Laurretta Summerscales, erhört nur zögerlich den feinen Landmann Kostja Lewin (Jinhao Zhang mit sehr viel tollem Elan) – doch dann werden sie ein rundum liebevolles Duo.
Verständnis füreinander zu haben, sich aufeinander einzustellen – all das gehört genauso wie die Leidenschaft und die erotische Offenheit zur Liebe.
Ausgerechnet die beiden „Landeier“ Kitty und Kostja finden dieses Glück in ihren Umarmungen, die tänzerisch von besonderer Leichtigkeit sind.
Ach, aber auch Anna und Wronski verströmen das Flair der Liebe, wenn sie in ihren Paartänzen nach den tiefsten Abgründen der Passion zu suchen scheinen.
Und sogar Stiwa hascht in den Sekunden seiner untreuen Werbungen nach jenem Funken der Unendlichkeit, den nur die Liebe zu versprechen und zu geben vermag.
Aber man erinnert sich auch an jene Funken der Unsterblichkeit, die ein Bühnenkünstler zu verteilen hat!
Tigran Mikayelyan konnte springen wie kein zweiter: hoch, sehr hoch, aber nie wirkte es „gerissen“ oder zu sportlich. Immer trug ihn die Anmut scheinbar noch ein Stück höher und weiter, als es physikalisch der Fall sein konnte.
Als ein solcher Münchner Gott der großen Sprünge wird er seinen Fans im Gedächtnis bleiben.
Mit der Partie des Ali in „Le Corsaire“ bewies er diese seine Kunst ja enorm oft und auch demonstrativ, aber auch in der tiefsinnigen, tragisch-verwickelten Partie des Königs in John Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“ (die er zu seinem Leidwesen nur fünf Mal tanzte) verliehen die Mikayelyan’schen Sprünge der Rolle einen ganz eigenen Geschmack.
In Ergänzung zu seiner exzellenten Technik passt sein schauspielerisches Talent erstaunlich gut dazu. Dabei ist die Wandelbarkeit ein großes Plus!
So hat Mikayelyan in John Crankos „Romeo und Julia“ gleich drei sehr verschiedene Rollen im Repertoire: den Romeo, den Mercutio und den Tybalt. Ein höchst seltenes Vorkommnis!
Privat ist er allerdings alles andere als ein unglücklich Liebender. Seine Ehefrau, die ebenfalls beim Bayerischen Staatsballett tanzende Halbsolistin Mia Rudic erwartet noch in diesem Sommer das erste gemeinsame Kind. Und seinen künftigen beruflichen Weg zu einem professionellen Helfershelfer für jüngere Tänzer hat Tigran längst gewählt. Derzeit entwickelt er eine eigene Trainingsmethode, und für die körperlich-seelische Fitness der Profis beschäftigt er sich mit der Kinästhetik, der „Lehre von der Bewegungsempfindung“, die seit den 70er Jahren von dem Verhaltenskybernetiker Frank White Hatch propagiert wird.
Ob er Tänzern dann zu so tollen Sprüngen verhelfen kann, wie er sie selbst eins drauf hatte – wer weiß. Aber noch 2013, in Armenien als Gasttänzer in „Spartacus“, bot Mikayelyan in jeder Luftlage Sprünge und Linien vom Feinsten.
Und mit dieser Visitenkarte hielt er 2005 bereits seinen Einstand ins Bayerische Staatsballett ab: Seine Debütrolle war das Goldene Idol in Patrice Barts superber Inszenierung von „La Bayadère“.
Urspünglich stammt der schöne Tigran aus Armenien, wo er vor 37 Jahren – 1980 – geboren wurde. In der Ballettausbildung in Erewan hatte er dieselben Lehrer wie schon seine Eltern, die auch beide Profitänzer waren. Mit einem Stipendium der Nurejew-Stiftung kam er als Lausanne-Gewinner nach Zürich, wo er nach Abschluss seines Studiums im Ensemble vom Zürcher Ballett begann.
Er wurde rasch Halbsolist, dann Solist – und als er sich zwischen einem Angebot vom American Ballet Theatre in New York und dem deutlich mehr soziale Sicherheit bietenden Deutschland – sprich München – entscheiden sollte, wählte er das Bayerische Staatsballett. Was er nie bereut hat, wie er heute sagt.
Wie bei vielen Profi-Balletttänzern hielten allerdings – ob der rigorosen Überanspruchung des Körpers – der Schmerz und die Dauerverletzung Einzug in seinen Alltag. Tigrans gepeinigte Wadenmuskulatur machte es ihm im Laufe der Jahre immer öfter unmöglich, seine brillante Körperkunst auf der Bühne zu zeigen.
Doch für seine letzte große Vorstellung mit dem Bayerischen Staatsballett mobilisierte er alle Kräfte in sich – und war mit jeder Faser seines Seins der untreue Stiwa, der so gern ein großartiger Don Juan wäre und doch nur ein armseliger Sexsüchtiger ist.
Und da gelingt Tigran Mikayelyan noch ein kleines Meisterstück, ein unmerkliches, feines, kongeniales Spiel:
Am Schluss steht sein Stiwa zusammen mit Gattin Dolly trauernd hinter der toten Anna. Still ist es. Alle sind betroffen. Und Stiwa versucht, Dolly Halt zu geben, sie zu trösten. Aber sie lehnt ihn ab – leise wendet sie sich von ihm. Denn es gibt nicht mal in der Not noch eine wirkliche Nähe zwischen ihnen. Das ist die Quittung für eine nicht wirklich geliebte Ehe.
Schmerzhaft wird das bewusst…
Der Applaus für die Vorstellung und speziell für Tigran Mikayelyan toste – Blumen und Bravos krönten den Erfolg.
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg
Termine: siehe „Spielplan“