Zusammenhalt in der Fremde Ein dreiteiliger Abend des Bayerischen Staatsballetts erinnert mit Arbeiten von Forsythe, Limón und Kylián an Themen wie Flucht, Vertreibung, Nomadentum

Carla bei der Arbeit

Carla Maxwell studierte mit dem Bayerischen Staatsballett in München das Werk „The Exiles“ von José Limón ein. Energisch, passioniert, problembewusst – wie ihr einstiger Chef Limón. Foto: freie Bildbearbeitung

Ihre Stimme klingt, als sei sie eine junge Frau. Dabei ist Carla Maxwell schon seit 1978 die Künstlerische Direktorin der Limón Dance Company, in die sie 1965 als Tänzerin eingetreten war. José Limóns Stück „The Exiles“ („Die Exilanten“) ist das Herz- und Kernstück des dreiteiligen Abends „Artifacts II / The Exiles / Zugvögel“. Diese Wiederaufnahme beim Bayerischen Staatsballett in München beschäftigt sich mit den Themen Vereinsamung, Vereinzelung, Flucht, Vertreibung, Nomadentum – und, so hochgestochen das auch klingen mag, mit der Bildung einer postmodernen Sozietät.

Moderner Lifestyle und historische Situationen verschmelzen hier zu abstrahierten Balletten; in Stimmung und Formensprache sind die Choreografien von William Forsythe, José Limón und Jiří Kylián zwar durchaus verschieden. Aber zusammen gesehen, zeigen sie einen sprunghaften Abriss der Moderne des Tanzes, wobei der arrivierte Klassiker, das Stück „The Exiles“, in der Mitte, gewissermaßen auch im Zentrum steht.

The Exiles

Es geht um die Träume, Hoffnungen und Ängste von Migranten: „The Exiles“ von José Limón beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Es geht um den großen Traum von Freiheit und unbehindertem Leben, imaginiert von zwei im Exil lebenden Personen. Ein Mann und eine Frau stehen archetypisch für Adam und Eva, das Personal steht für eine Gruppe von Exilanten, aber auch für die Menschheit überhaupt. „Bei José Limón ist es so, dass alles sowohl psychologisch als auch historisch als auch symbolisch gemeint ist“, sagt Carla Maxwell.

Sie kannte Limón, der 1908 in Mexiko geboren wurde und 1972 in New York starb, noch persönlich. Carla hatte die Juilliard School besucht, an der Limón – als einstiger Schüler und Arbeitspartner von Doris Humphrey – Dozent war. Später, in Limóns Company, lernte Carla ihn und seinen Stil sehr gut und in allen Arbeitsschritten kennen. Sie ist jemand, dem man rasch vertraut! Und bereits nach zehn Jahren als Tänzerin wurde sie Assistentin der damaligen künstlerischen Direktion. Ohne Übertreibung: Carla ist einer dieser schicksalhaften Menschen in der Kunstwelt, die für ihre Aufgabe unbedingt wie gemacht erscheinen – nichts an ihr wirkt zufällig.

Jetzt studierte Carla Maxwell mit dem Bayerischen Staatsballett und viel passionierter Hingabe Limóns oft unterschätztes Werk „The Exiles“ ein. Es wurde zur anspruchsvollen, atonal-melodiösen Zwölfton-Musik von Arnold Schönberg geschaffen, ein wichtiges und gewichtiges Werk, das nur ein Jahr nach Limóns berühmtestem Stück „The Moor’s Pavane“ (mit Motiven von Shakespeares „Othello“) entstand. Obwohl es um Exilanten geht und „The Exiles“ auch nur fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs uraufgeführt wurde, meint Carla, dass es eben nicht vorrangig um die von den Nazis Vertriebenen gehe: „Es gibt dieses weltbekannte, oft zitierte Gedicht von John Milton, ‚Paradise Lost’, und das hat Limón zu diesem Ballett angeregt.“ Das umfassende, grundlegende Werk von Milton erschien erstmals 1667, es gehört international zum Schulwissen über englische Literatur. Limón interessierte daran das Überzeitlich-Gültige; die Tagespolitik war für ihn immer nur Anregung, nie das Ziel seiner durchaus problembewussten Choreografien.

Exilanten

Liebe auch im Exil: Das Bayerische Staatsballett tanzt sensibel das schwierige, aber immer aktuelle Stück „The Exiles“ von José Limón. Unbedingt eine Entdeckung! Foto: Wilfried Hösl

Aber auch die Kindheit des Choreografen, der zudem eine eigene moderne Tanztechnik – die Limón-Technik – entwickelte, spielt bei „The Exiles“ eine Rolle. Denn Limóns Eltern gingen nicht freiwillig, sondern aus Not von Mexiko in die USA. Mehrfach wechselte die Familie das Bundesland, und bevor José zum Tanzen fand, studierte er Malerei. Das Zusammenwirken von bildender Kunst, Licht und Choreografie ist denn auch in seinen Stücken prägend. Hilfreich war ihm seine Ehefrau Pauline, die Kostümbildnerin, Musikerin und Managerin der Limón Dance Company in eins war. Sie hielt dem Meister, soweit sie es konnte, den Rücken frei.

Nur: Wenn er Neuland betreten will, ist es für einen ernst zu nehmenden schöpferischen Künstler immer anstrengend. Die geistigen Leistungen von Limón müssen hier unbedingt gewürdigt werden: Nur wenige Tanzmeister haben sich so tief auch in grundlegende Fragen der Lebensgestaltung eingelassen wie er.

„Ich versuche, Atheist zu sein, aber das ist sehr hart“, sagte Limón mal, als man ihn auf die zahlreichen Bibel-Anspielungen in seinem Werk ansprach. Besonders gläubig war er nicht. Die Bibel verwendete der Choreograf so, wie auch der marxistische Dichter und Theatertheoretiker Bertolt Brecht sie benutzte: als Quelle abendländischer Kultur, als Animation, als Inspiration und Widerspruchsfolie. Und ähnlich wie bei Brecht und wie in der Bibel finden sich auch im Werk des englischen Poeten John Milton diverse Aussagen, die auf den ersten Blick widersprüchlich und unlogisch erscheinen, im jeweiligen Kontext aber Sinn machen.

„Rache, süß im Anfang, schlägt gar bald mit herbem Weh sich selbst“ – dieser Auszug aus dem „Verlorenen Paradies“ steht einem anderen gegenüber: „Besser ist es, in der Hölle zu herrschen, als im Himmel zu dienen.“ Die bitteren Erfahrungen von im Exil Lebenden, die sich abgestoßen fühlen und nirgends dazugehörig sein können, machen solche Worte verständlich. Allerdings: Als Paradies kann man die Orte, von denen Menschen vertrieben werden, auch nicht immer bezeichnen. Und nicht jeder, der Opfer war, wird später automatisch selbst ein Täter. Im Spannungsfeld von Moral und Utopie nimmt sich José Limóns Stück umso philosophischer aus.

TANZ IST LEBEN UND PHILOSOPHIE ZUGLEICH

„Tanz gehörte für José zum allgemeinen Leben dazu, Tanz musste da auch Stellung beziehen“, sagt Carla Maxwell. „The Exiles“ zeigt denn auch, wie wichtig der Zusammenhalt von Versprengten in der Fremde ist. Das, sagt Carla, könne man gerade heute von dem Stück lernen. Ohnehin habe Limón zu den wenigen Ausgesuchten gehört, bei denen es sich stets lohnte, Augen und Ohren weit aufzumachen und ihre Weisheiten und Hinweise in sich aufzunehmen. Heute erinnert das Exilanten-Thema auch an die Flüchtlingsströme: Neben relativ wohlhabenden, aufstrebenden Migranten gebiert der globale Menschenüberschuss auch Auswanderungen unter widrigsten, lebensgefährlichen Bedingungen.

Nur allzu gerne werden die Gründe für Flüchtlingsbewegungen nach wie vor verdrängt. Zumal, wenn sie nicht unmittelbar kriegs- oder völkermordbedingt sind. Welche Hoffnungen und welche Ängste Menschen haben, die – aus einer Art Notwehr heraus – ihre Heimat verlassen, kann Tanz, vor allen anderen Künsten, international verständlich aufzeigen. Mutige Choreografen, die mit einem solchen Thema umgehen konnten oder können, sind rar.

Für eine Limón-Renaissance wird es von daher wirklich höchste Zeit, zumal die kleine, derzeit nur 16-köpfige von ihm gegründete New Yorker Truppe, die Limón Dance Company, in der kommenden Saison ihr 70. Jahr des Bestehens feiert (sie wurde, anders als das deutsche Wikipedia es vermeldet, schon 1946, nicht erst 1947 gegründet).

Forsythes "Artifact II"

William Forsythe ist eine jüngere Choreografengeneration als Limón – und leitet mit „Artifact II“ doch zu „The Exiles“ hin. Foto: Wilfried Hösl beim Bayerischen Staatsballett

Vorerst aber wird das Werk „The Exiles“ in einen bestimmten inhaltlichen und auch tanzgeschichtlichen Kontext gesetzt. Flankiert wird „The Exiles“ in München nämlich von zwei jüngeren Stücken, die jeweils eine prägnante choreografische Gegenwartshandschrift aufweisen. „Artifact II“ – uraufgeführt 1984 – stammt von William Forsythe, der aktuell nun auch schon 65 Jahre alt ist. Das Ballett aber, ein Meisterwerk, ist auf postmoderne Weise zwei Pas de deux gewidmet, die glasklar die Technik der klassischen Meisterschaft mit modernen Mitteln ad absurdum führen. Zusätzlich stürzt immer wieder die Schalldecke aus dem Schnürboden – ein inszeniertes Malheur, das aber jedes Mal wieder für Aufsehen sorgt. Da mag die Musik von Johann Sebastian Bach noch so barock verschnörkelt vor sich hin glucksen…

Als Auftakt zu einem Stück, um das es um Vertreibung und Exil geht, ist „Artifact II“ somit sehr geeignet. Nach dem Motto: Flüchten vor dem Schalldeckensturz! Denn wer sagt, dass moderne Erdbeben, Tsunamis oder eben Deckenabstürze nicht als absurd empfunden werden?!

Zugvögel müssen nicht jung sein

Die „Zugvögel“ von Jiri Kylián integrieren ältere und jüngere Tänzer – und beschließen den dreiteiligen modernen Ballettabend. Das Stück wurde 2009 uraufgeführt – und spielt mit der Thematik des postmodernen Nomadentums. Foto: Wilfried Hösl beim Bayerischen Staatsballett

Das den Abend dann beschließende Ballett ist ein noch jüngeres: das 70-Minuten-Stück „Zugvögel“, von Altmeister Jiří Kylián. Er wurde 1947 geboren und steht somit generationenmäßig bei Forsythe; Limón hingegen gehört sozusagen zur Väter-Generation der Moderne im Bühnentanz.

Kyliáns Kreation „Zugvögel“ greift das Thema der Heimatlosigkeit auf, münzt es aber, unter einiger Melodramatik, ins Positive um.

Schließlich hat man ja eine unerhört große Freiheit, wenn man in Bezug auf den heimatbezogenen Lebensmittelpunkt nichts mehr zu verlieren beziehungsweise nichts mehr zu erhalten hat. Viele Freiberufler kennen dieses ambivalente Gefühl des „vogelfreien“ Daseins im übertragenen Sinn, und auch jene, die für ihren Beruf oder für ihre Kinder das Land oder die Stadt wechseln, wissen, dass innere Reisen oftmals dann Halt geben können, wenn die äußeren Ortswechsel einen erschüttern oder frustrieren.

Zugvögel im Ensemble

„Zugvögel“ von Jiri Kylián wirken ästhetisch, problematisieren aber auch ihre Situation. Das hervorragend choreografierte Ensemble beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Jiří Kylían geht es um diesen nomadenhaften Lifestyle unserer Gegenwart, in Verbindung mit den Träumen von selbst geschaffenen, autonomen Universen. Das Stück ist erst wenige Jahre alt (es stammt von 2009) und verfügt über eine fast brisante, damals ebenfalls uraufgeführte, speziell für diesen Tanz geschriebene Musik von Dirk Haubrich. Es passt, als spielerisch-leichter Kommentar, vorzüglich als Ergänzung zu Limóns „The Exiles“.

So wird mit diesem runden, dreiteiligen Ballettabend ausgiebig der Moderne und ihren neuartigen Schönheits- und Sozialbegriffen gehuldigt.

Allerdings kann der Abend ganz nonchalant auch ein Anlass sein, Ballettschulen das Lehren der Limón-Technik anstatt der Graham-Technik zu empfehlen: Immerhin ist José Limón einer der ganz großen und auch interessanten Choreografen des letzten Jahrhunderts, die man immer und immer wieder neu entdecken kann.
Gisela Sonnenburg

Am 6. (Wiederaufnahme) und 24.2. im Nationaltheater in München 

www.staatsballett.de

UND BITTE SEHEN SIE HIERHIN: www.ballett-journal.de/impresssum/

ballett journal