Der Schmelz des Schicksals „Giselle“ ist jeweils eine andere: in Berlin gab es drei bedeutende Interpretationen der Titelfigur; in Hamburg und Stuttgart gab es Newcomer

Polina Semionova

Polina Semionova als Giselle mit Marian Walter als Albrecht: In „Giselle“ beim Staatsballett Berlin, die Premierenbesetzung. Foto: Yan Revazov

Es ist erstaunlich, wie verschieden die „Giselle“ getanzt werden kann. Eine meiner heimlichen Favoritinnen ist immer noch Galina Mezentseva, die in den 80er Jahren im damaligen Leningrader Kirov-Theater als Titelheldin des bedeutendsten romantischen Balletts reüssierte. Im ersten Akt wirkte sie fast bodenständig, im zweiten dann musterhaft ätherisch. Auch Anna Laudere vom Hamburg Ballett ist mir persönlich prägend in Erinnerung, obwohl ich sie – im letzten Jahr – nur in einer Ballett-Werkstatt und da nur auszugsweise als klassische Giselle ohne passendes Kostüm erleben durfte. Aber dass sie mit zitternden Händen mehr nervös als wahnsinnig wurde, bevor sie aus Liebeskummer starb – das war für mich einzigartig.

Beim Stuttgart Ballett gibt es hingegen eine neue, noch ganz junge Giselle, die sogar schon als Ballerinenwunder verehrt wird: Die Spanierin Elisa Badenes vereint die Naivität der Jugend mit der geistig-reifen Haltung der zeitlosen Könnerschaft. Ihr Beispiel macht zudem Hoffnung, dass es auch wirklich zügig voran schreitende Karrieren gibt: Allgemein gesehen, ist der Weg der Tänzer nach oben wirklich mühsam.

Jubel und Applaus

Schlussapplaus mit Blumen: nach der Berliner „Giselle“-Vorstellung am 6. Februar 2015, mit Maria Eichwald aus Stuttgart zu Gast beim Staatsballett Berlin. Links neben Eichwald: Mehmet Yümak, rechts neben ihr: Mikhail Kaniskin. Foto: Gisela Sonnenburg

Legendär ist aber auch Alina Cojocaru als Giselle: in ihrer besten Zeit, die sie von London aus hatte, wurde sie weltweit über ein Jahrzehnt lang als ultimative Giselle gefeiert! So wie früher die das 20. Jahrhundert prägenden Diven Alicia Alonso und Yvette Chauvirée. Und dann erst Natalia Makarova! Aber auch Carla Fracci und Ghislaine Thesmar, Lucia Lacarra oder Yumiko Takeshima, Eva Evdokimova (in Berlin-West) und Steffi Scherzer (in Berlin-Ost) waren bedeutende Gisellen… ach!

Jeder Ballettfan, der seiner Leidenschaft schon seit vielen Jahren frönt, kann nun im Geiste Namen von großartigen Tänzerinnen dazu setzen. „Giselle“, das bedeutet immer wieder eine andere irdische Anmut und vergeistigte Grazie, und die eine Ballerina wirkt darin spiritueller als die nächste. Neben der Schwanenprinzessin im „Schwanensee“ ist Giselle zudem eine absolute Traumrolle im traditionellen Ballett: Hierin erweist sich das individuelle Charisma einer Primaballerina als auf den Punkt gebracht.

In Berlin premierte zuletzt die Version des „Giselle“-Könners Patrice Bart, die im bisherigen Verlauf der Spielzeit drei Ballerinen die Gelegenheit zur „Giselle“-Transformation gab. Das Ballett-Journal hat hier bereits groß berichtet (nachzulesen in der Rubrik „Staatsballett Berlin“). Bei der Premiere im Dezember erfüllte eine der bedeutendsten Tänzerinnen unserer Tage die Luft mit Wehmut: die umwerfend detailreich brillierende, dazu vor Erotik Funken sprühende Polina Semionova war ein Geschenk in der Titelrolle.

Sie dürfte Alina Cojocaru den obersten Spitzenrang abgelaufen haben: Polinas „Giselle“ ist durchgearbeitet, von den schönen Fuß- bis in die zarten Fingerspitzen, und jeder Muskel an dieser tollen Frau scheint, wenn sie als Giselle auftritt, mit der Weihe der Wilis – der untoten, dafür ewig schönen Mädchen – gesegnet. Was für eine Geistererscheinung ist sie im zweiten Akt, und was für ein sinnliches Dorfflittchen im ersten! Polinas Giselle bringt es fertig, psychologisch modern zu wirken, obwohl sie in den tänzerischen Posen historisch superexakt vorgeht. Eine Meisterleistung – und ganz sicher nicht zu toppen. Ihr Tanzpartner Marian Walter nimmt sich als Albrecht zudem eher zurück, als dass er ihre Brillanz in der Wirkung einschränken oder zu sehr mit konkurrieren will; lyrisch-vergeistigt ist Walter vom Typ her absolut passend zu dieser schillernden, unbändig Liebenden. Es ist nur zu verständlich, wenn Leute aus allen Kontinenten anreisen, um das zu sehen.

Sarah Mestrovic und Dominic Hodal

Nach der Vorstellung kommt der Applaus: Sarah Mestrovic (mit Krone, zweite von rechts) reüssierte als Myrtha in einer wegweisenden , genau das Maß haltend. Links im Bild: Dominic Hodal als Hilarion. Foto: Gisela Sonnenburg

Heinrich Heine, dessen Aufsatz „Elementargeister“ die erste Anregung zu diesem 1841 uraufgeführten Ballett „Giselle“ gab, beschrieb es ja so: „Der Tanz ist charakteristisch bei den Luftgeistern; sie sind zu ätherischer Natur, als dass sie prosaisch gewöhnlichen Ganges, wie wir, über diese Erde wandeln sollten. Indessen, so zart sie auch sind, so lassen doch ihre Füßchen einige Spuren zurück auf den Rasenplätzen, wo sie ihre nächtlichen Reigen gehalten.“

Laut Heine stammt der Mythos der Wilis, der vampirartigen schönen, aber auch unbarmherzig-rachsüchtigen Geister, aus Österreich und ist slavischen Ursprungs. Als „gespenstische Tänzerinnen“, die „nicht im Grabe ruhig liegen“, da in ihren Herzen und Füßen „noch jene Tanzlust, die sie im Leben nicht befriedigen konnten“, beschreibt er sie. Um Mitternacht würden sie sich „truppweise an den Heerstraßen“ aufstellen, um junge Männer dazu zu verführen, sich mit ihnen zu Tode zu tanzen. In dieser Urschilderung der Wilis (die Heine noch „Willis“ schrieb) sind ihre Opfer offenbar noch Soldaten, keine Dörfler.

EIchwald und Kaniskin

Maria Eichwald, Mikhail Kaniskin und Ilenia Montagnoli, rechts daneben Iana Balova: glücklich und erschöpft beim Curtain Call am 6.2.2015. Foto: Gisela Sonnenburg

Sie entsteigen auch nicht Gräbern im Wald, wie später in „Giselle“, sondern normalen Friedhöfen, und sie sind auch nicht im deutsch-französischen Grenzgebiet angesiedelt. Was dafür spricht, dass der sozialgeschichtliche Hintergrund von „Giselle“, der die Selbstmorde von unehelich Geschwängerten in einem von Deutschen besetzten Gebiet betrifft, später als zusätzliches Element in das Libretto von Théophile Gautier und Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges einfloss. Da Letzterer als versierter Opernkomiker für die eher heiteren Anteile in „Giselle“ verantwortlich zeichnete, ist es ziemlich sicher, dass der als Schriftsteller und als Journalist arbeitende Gautier – der sich zudem in einem Briefroman mit der transsexuellen Rolle der Frau auseinander gesetzt hatte – den sozialpolitisch brisanten Aspekt der Beerdigung Giselles im Wald angefügt hat.

Bei Heine aber geht es um den Urmythos der tödlich schönen Frauen, die scheinbar aus dem Nebel steigen, um junge Männer zum Tanzen bis zum Ableben zu verführen: „Geschmückt mit ihren Hochzeitskleidern, Blumenkronen und flatternde Bänder auf den Häuptern, funkelnde Ringe an den Fingern, tanzen die Wilis im Mondglanz, ebenso wie die Elfen.“ Und: „Ihr Antlitz, obgleich schneeweiß, ist jugendlich schön, sie lachen so schauerlich heiter, so frevelhaft liebenswürdig, sie nicken so geheimnisvoll lüstern, so verheißend; diese toten Bacchantinnen sind unwiderstehlich.“

Salenko und Tamazlacaru

Graziös auch nach der Vorstellung beim Schlussapplaus im Schiller Theater in Berlin: Iana Salenko und Dinu Tamazlacaru nach „Giselle“ mti dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Nach Heines romantischer Ansicht erfand im übrigen „das Volk“ diese Geistergeschichte der Wilis: um sich über das grausige Ableben junger, unverheirateter Frauen hinwegzutrösten. Heine nennt die „schwarze Vernichtung“, also die Pest, als Ursache für die historisch im 14. Jahrhundert verbürgten massenweisen Tode von Menschen, also auch von diesen jungen Damen. Allerdings ist das eine Vermutung Heines, die er mit keiner Quelle belegt – schriftlich niedergelegte Volkssagen oder Märchen mit Wilis sind mitnichten bekannt, es scheint sich um eine rein oral kolportierte Mythologie zu handeln. Oder hat Heine hier etwa einen angeblichen Volksmythos erfunden? Zu seiner Zeit, der Romantik, war das Publikum – und mit ihm die zahlenden Verleger – dermaßen gierig nach sogenannten Volksmythen, dass sich ein scharfer Geist wie der von Heine vielleicht auch mal was einfallen ließ. Dass es in der slowenischen Mythologie Wilis gibt, ist allerdings nachweislich. Nur verschmolz Heine diesen Mythos mit anderen, so mit den Sylphen (Sylphiden) aus dem romantischen Ballett „La Sylphide“, das fünf Jahr, bevor er seine „Elementargeister“ schrieb (1837), uraufgeführt wurde.

Wie auch immer: Das Ballett „Giselle“ übernimmt und verfeinert diesen nur bei Heine so vorgestellten Geistermythos. Die Wilis in „Giselle“ sind denn auch organisiert wie eine Guerillatruppe, mit einer Anführerin, Myrtha, und Novizinnen, die – Zulmé (oder Zulma) und Moyna genannt – erst noch auf die gewünschte grausame Linie gebracht werden müssen. In Berlin reüssierten in dieser Saison insgesamt drei Myrthen:

Eichwald und Kaniskin in Berlin

Maria Eichwald und Mikhail Kaniskin freuen sich über den großen Applaus mit dem Staatsballett Berlin nach „Giselle“. Foto: Gisela Sonnenburg

Elena Pris gab bei der Premiere eine perfekt kühle Geisterkönigin ab, in der Besetzung Salenko-Tamazlacaru hingegen trumpfte Sarah Mestrovic auf – und zwar mit einer verhalten seelenvollen Glut im Blick, die einfach wunderbar ist! Die Rolle der Myrtha (oder Myrthe) ist ja extrem schwer zu tanzen. Technisch hat sie vorzügliche Soli, aber vor allem darstellerisch verlangt sie so Einiges: Sie muss böse sein und dennoch schön; sie darf nicht allzu temperamentvoll sein, aber sie wird fad, wenn sie zu unterkühlt und emotionslos ist. Sarah Mestrovic trifft genau das Maß: Man kann mitfühlen mit ihrer strengen Myrtha, die sicher ein ähnlich betrogenes Schicksal hinter sich hat wie Giselle, aber man fürchtete auch ihre Macht und ihren eiskalten Vernichtungswillen.

Wenn dann angesichts der starken Liebe zwischen Giselle und Albrecht Myrthas Zauberstab, ein silberner Myrthenzweig, versagt, trägt Mestrovic ihn von dannen, als sei ihr Lieblingsspielzeug kaputt gegangen. Zugleich kam aber auch so eine Menschlichkeit in ihren majestätischen Körper – als gehe sie nun in die Kulissen, um über die Kraft der Liebe nachzudenken.

Ilenia Montagnoli, die in der Besetzung mit Maria Eichwald und Mikhail Kaniskin tanzte, ließ Myrtha hingegen ein traurig in sich gekehrtes, sozusagen heimtückisches Wesen sein – auch das ist eine schlüssige und nachvollziehbare Interpretation.

Iana, Dinu, Sarah

Iana Salenko, Dinu Tamazlacaru und Sarah Mestrovic (im Hintergrund, mit Krone) wurden nach „Giselle“ bejubelt! Foto: Gisela Sonnenburg

Aber auch die weiteren Besetzungen der anderen Parts in Berlin rührten an, allen voran natürlich die des Hauptpaares. Wobei ausdrücklich das Ensemble, der Corps de ballet, gelobt sein muss: Pfiffigkeit und Tanzfreude im ersten Akt und Akkuratesse und Aura im zweiten Teil begeisterten bei wohl jeder Vorstellung. Zurück nun zu den Solistinnen der Titelpartie.

Für die Berliner Altballerina Nadja Saidakova sprang, als Gast aus Stuttgart angereist, die mit 40 Jahren ebenfalls bereits reife Maria Eichwald ein. Und sie ist eine Sensation – aus Leichtigkeit, Zartheit, Süffisanz! Jawohl, ihre Giselle ist süffisant: im Schwelgen in der leichtfüßigen, hin- und herfliegenden Choreografie, die sie so verinnerlicht hat, dass sie sie im Ausdruck in jeder Sekunde neu und etwas anders einzufärben vermag. Wenn sie als Giselle die Bühne betritt, weil ihr Galan sie aus der Hütte gelockt hat, dann brennt die Luft sofort!

Maria Eichwald als Giselle

Maria Eichwald, Erste Solistin in Stuttgart – eine berühmte Giselle, hier im sanft in der Luft nachgestreckten Spagatsprung. Foto: Stuttgarter Ballett

Eichwald, in Alma-Ata in Kasachstan ausgebildet, begründete ihre internationale Karriere von Deutschland aus. Sie tanzte erst beim Bayerischen Staatsballett in München, aber seit 2004 ist sie Erste Solistin beim Stuttgarter Ballett. Und sie wird als Koryphäe weltweit gehandelt – ihre Spezialität ist das megazarte Weibchensein, als sei sie aus Gaze gemacht. Es ist das irisierend Schimmernde, das sie verkörpert, und es ist ihre Feingliedrigkeit, mit der sie sich emotional glaubhaft verausgabt. Maria Eichwalds Giselle denkt nicht darüber nach, welche Folgen das Tanzen für ihr krankes Herz oder ihre ohnehin schon entflammte Seele haben könnte. Sie tanzt, weil sie liebt. Und sie liebt alles Schöne, alles Erotische, ja, auch alles Bunte.

Wenn sie sich in geduckter Haltung, um nur ja nicht gleich dabei erwischt zu werden, an die kostbare Robe ihrer Rivalin Bathilde heranschleicht, wird klar, dass diese Giselle nicht nur aus übergroßer Liebe besteht. Sondern auch aus so schlichten Gefühlen wie Eitelkeit, Sehnsucht nach Glamour, Interesse am Luxus. Sie möchte am Leben der Oberschicht schnuppern, will wissen, wie es sich anfühlt, dieses Dasein der Reichen. Vielleicht hat sie sich unbewusst deshalb diesen schönen Fremden, diesen Albrecht, zum Liebhaber ausgesucht, vor dem ihr Instinkt sie doch eigentlich warnen müsste, weil niemand weiß, woher der junge Mann eigentlich kommt. Tatsächlich ist Albrecht ja ein Betrüger, ein Adliger, der sich als Dörfler ausgibt, um ein sexuelles Abenteuer zu erhaschen.

Aber das will Giselle zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Sie will lieben und geliebt werden – und sie will tanzen, tanzen, tanzen! Eichwald hüpft ihre Ballonnés und Wiegeschritte vor sich hin, dass es die pure Freude ist… dennoch brennt unter ihren Füßen der Boden, denn irgend etwas stimmt hier nicht in ihrem niedlichen, netten, kleinen Dorfidyll, da ist so eine Spannung, fast wie in einem Krimi. Eichwalds Giselle ist so feinfühlig, dass Konflikte in ihrem Umfeld sie unterschwellig belasten.

Und es gibt Zoff, denn da ist außer Albecht noch ein anderer junger Mann. Ach, Hilarion! Das ist Giselles Verehrer von nebenan, der nette Junge, der sie heiraten und ehrbar machen möchte. Leonard Jakovina, Dominic Hodal und Mehmet Yümak tanzen ihn alternierend, alle drei tun es mit außerordentlicher Sensibilität und Anmut. Hilarion ist hier kein grobschlächtiger Bauer, sondern ein offenherziger junger Mann, der wahrhaft liebt. Es tut der Rolle sehr gut, solchermaßen aufgewertet zu werden, das ist ein Verdienst von Choreograf Patrice Bart. Warum auch soll Hilarion, der das Pech des ewigen Zweiten hat, keine edelmütige und somit eine keineswegs lächerliche, sondern wirklich tragische Figur sein?

Dieser Hilarion liebt Giselle aufrichtig. Er will nicht nur irgendeinen Rock. Maria Eichwald als Giselle scheut ihn darum instinktiv umso mehr, denn sie entscheidet sich für den schönen Fremden, der, von Mikhail Kaniskin getanzt, ihr alles zu versprechen scheint, wonach sie sich sehnt.

Schlussapplaus tutti in Berlin

Maria Eichwald, Mikhail Kaniskin und Ilenia Montagnoli (mit Blumen) beim glücklichen Applaus nach „Giselle“ im Schiller Theater mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Kaniskin, gebürtiger Moskowiter und in der Bolschoi Ballettschule ausgebildet, tanzt den Albrecht mit der klassischen Anmutung des schönen Sunnyboys. Sein Albrecht ist im ersten Akt ein von der Lieblichkeit Giselles beinahe sinnlos Begeisterter, der erst im zweiten Akt zu sich selbst findet. Während andere Albrecht-Darsteller im Wald, also im zweiten Akt, schon fast jenseitig wirken, weil sie sich der Trauer um die tote Giselle und dem flirrenden Zauber der Waldgeister so hingeben, hat Kaniskin auch inmitten der Wilis, der elfengleichen weißen Frauen, noch den Kopf oben und weiß genau, was er will: Giselle.

Seine Sprünge sind konzis, seine Ports de bras kontrolliert. Sein Herz ist voller Sehnsucht nach einem Erlebnis, das ihm niemals mehr gewährt werden wird, denn die Frau, die er liebt, ist aus Kummer über ihn verstorben. Dieses Dilemma trägt Mikhail Kaniskin sichtlich aus, sein Gesicht ist vor Liebe und auch Liebesschmerz ganz Gefühl, während seine Beine kämpfen, kämpfen, kämpfen. Albrecht weiß ja, dass es in diesem nächtlichen Wald gefährlich ist. Aber es zieht ihn magisch zur Grabstelle von Giselle, die in seinen Armen starb.

Blumen für Eichwald

Noch ein letztes Mal: Maria Eichwald und Mikhail Kaniskin beim Applaus nach der „Giselle“-Vorstellung am 6.2.15. Foto: Gisela Sonnenburg

Maria Eichwald als Giselle stirbt übrigens nicht während des Sprungs in Albrechts Arme, wie es die Choroegrafie von Patrice Bart eigentlich vorsieht, sondern im Stehen auf Zehenspitzen: sozusagen inmitten der Umarmung von Albrecht, während ihr Leib dicht an seinen gepresst ist. Das ist eine schöne kleine Veränderung, die durchaus Sinn macht: Giselle will im Moment ihres Vergehens den Mann, den sie begehrt, noch einmal so intensiv wie möglich fühlen.

Das Zu-ihm-Hinlaufen, das Ein-letztes-Mal-in-seine-Arme-Stürmen ist bei allen drei Berliner Gisellen gleich und gleich gelungen: Es ist das Aufbäumen einer aus Liebeskummer Wahnsinnigen, die den nahenden Tod bereits erahnt. Absolut ergreifend.

Salenko und Tamazlacaru vor dem roten Vorhang

Wegen dem Vorhang heißt es eigentlich so: Curtain Call. Iana Salenko und Dinu Tamazlacaru nach einer umjubelten „Giselle“-Vorstellung mit dem Staatsballett Berlin im Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

In den Szenen zuvor im ersten Akt ist Iana Salenko als Giselle unbedingt hervorzuheben. Sie weiß die Vorzüge ihrer kompakten, zierlichen, muskulös-sehnigen Figur zu nutzen! Weich und geschmeidig, sinnlich und quirlig ist ihre Giselle, und ihre Verliebtheit in Albrecht ist, anders als bei Maria Eichwald, zudem irgendwie ein Fremdkörper in ihrer Seele. Denn er ist ein Schelm, ein Charmeur, ein von außen in ihre kleine liebe Welt Eindringender. Ianas Giselle scheint sich dagegen manchmal zu wehren, sie ist zunächst sozusagen gegen den eigenen Willen so sehr verliebt: Das ist außerordentlich spannend zu sehen.

Ihr Albrecht wird von Dinu Tamazlacaru getanzt – was für eine Erbauung! Damit hatten die diesjährigen Berliner „Giselle“-Aufführungen einen weiteren Höhepunkt: Der moldawische Sprungteufel Tamazlacaru ist erst als verliebter Verführer, später als reuiger Sünder ein Erlebnis der Extraklasse! Mit Verve tanzt er zunächst den waghalsigen Adligen, der gar nicht darauf kommt, dass er dem Mädchen, dem er schöne Augen macht, gleichzeitig Unrecht tut. Er genießt den Augenblick ja so sehr!

Dann, im zweiten Akt, ist er fast bereit, Giselle in den Tod zu folgen, denn er hat verstanden, dass er sein Lebensglück verwirkt hat. Ihr Erscheinen als Geist, als weiße Frau, ist das Beste, das ihm noch passieren kann. Der gemeinsame Tanz mit ihr, obwohl oder weil er ihn bis an den Rand der tödlichen Erschöpfung bringt, birgt all die Süße und Empfindsamkeit, die das Leben und die Liebe erfahrenswert machen.

Als Tanzpaar sind sie miteinander versiert, ohne in Routine zu verfallen: Iana Salenko und Dinu Tamazlacaru sind nicht nur auf den Berliner Ballettbühnen ein oft umjubeltes Star-Team, sondern auch auf zahllosen Gastauftritten im In- und Ausland. Wo immer derzeit eine hochkarätige Gala geplant wird, sollten die Organisatoren daran denken, Salenko und Tamazlacaru vorzuladen!

Es ist ja gar nicht mal oft so, dass ein männlicher und ein weiblicher Tanzstar wirklich gut zueinander passen. Im Gegenteil: Nicht selten gibt es in Compagnien das Problem, dass man zwar hervorragende Erste Solisten beider Geschlechter hat – aber kaum wirklich traumhafte Kombinationen. Iana Salenko, das muss man indes sagen, ist nun eine ganz besonders „kompatible“ künstlerische Persönlichkeit. Sie passt sich ihren jeweiligen Partnern gut an, und mit ihrer kindhaften, dennoch sehr erotischen Ausstrahlung wirkt sie sowohl neben größeren als auch neben gleich großen Partnern exquisit feminin.

Zugleich ist diese Ballerina de luxe ein wandelnder Beleg dafür, wie unsinnig es ist, Mindestgrößen für Tänzer und Tänzerinnen festzulegen. Iana ist nämlich deutlich unter 1,60 m groß, also ein sehr zierliches Persönlichen, und genau deshalb wollte sogar Vladimir Malakhov, sonst als Talentescout berühmt, sie zunächst nicht einmal probehalber ansehen. Nur weil der Ehemann der Salenko, der Berliner Primoballerino Marian Walter, darauf bestand, dass Malakhov sie tanzen sehen müsse, kam die Sache überhaupt in Gang.

Iana und Dinu als Bauern

Bevor sie in „Giselle“ die Hauptpartien tanzten, traten Iana Salenko und Dinu Tamazlacaru im „Bauern-Pas-de-deux“ im ersten Akt desselben Balletts auf. Auch ein „Leckerbissen“ der Tanzkunst!  Foto: Enrico Nawrath

Malakhov erkannte dann auch sofort das überbordende Talent der jungen Salenko und engagierte sie, die damals noch in Kiew tanzte, vom Fleck weg. Aber beinahe wäre diese elegante junge Dame nicht nur an Berlin, sondern überhaupt an Westeuropa vorbei gegangen – nur, weil sie kleiner als die mittlerweile fast überall üblichen Mindestgardemaße ist. Was für ein Tänzerschicksal!

Hierzu eine Anmerkung und ein Exkurs: Das Hamburg Ballett bildet beim „Größen-Wahn“ eine rühmliche Ausnahme, denn es kennt weder in der Schule noch bei den Profi-Tänzern Mindestgrößen. So findet man dort immer wieder auch Kleinwüchsige, die oft ganz besondere Befähigungen im Ballett inne haben. John Neumeier, Chef vom Hamburg Ballett, beweist hier die richtige Geisteshaltung, sich von angeblich wichtigen Größen und angeblichen Idealproportionen nicht beirren zu lassen.

Es ist ja im Grunde auch nichts als lächerlich und bösartig, Künstler in erster Linie nach irgendwelchen Größen zu beurteilen – und dann auch noch dem allgemeinen Mainstream der Gesellschaft entgegen zu kommen. Kunst darf und sollte immer die Ausnahmen lieben und ansonsten die Trends für sich selbst bestimmen! Sonst könnte man ja gleich BH-Körbchengrößen oder die Größen der Suspensorien der Herren zum Maßstab für Tanzkunst machen!

WIDER DEN GRÖSSEN-WAHN

Tatsächlich wird ja in der Ballettszene nur allzu gern vermessen und spiralisiert, gewogen und Diätenterror verbreitet. Und wenn man bedenkt, dass auch bei den Kindern und Jugendlichen in manchen Ballettschulen auf solche Äußerlichkeiten (statt auf Talent und Willenskraft) geschaut und dann entsprechend aus- und umsortiert wird, wird einem klar, wieso die heutigen Ausbildungsstätten mitunter mehr Langeweile im Gardemaß produzieren, als dass sie eigenwillige und deshalb sehenswerte künstlerische Persönlichkeiten hervorzubringen.

Klassisches Ballett ist für eher klein gewachsene Menschen gemacht und erfunden worden – und nicht für solche mit heutigen Mannequin- oder Basketballspielermaßen von bis zu zwei Meter Körpergröße. Das sieht man den Choreografien aus dem 19. Jahrhundert (etwa wie den tradierten Teilen in „Giselle“) auch an: Damals waren die Menschen insgesamt kleiner als heute. Und molliger! Dennoch oder gerade deshalb sahen Fanny Elßler, Marie Taglioni, Anna Pawlowa, Tamara Karsawina und auch die frühe Maja Plisetzkaja (die erst als reife Tänzerin gertenschlank wurde) entzückend aus! Die heutige „Hungerhaken-Mode“ stammt ja auch gar nicht aus dem Ballett, sondern aus der schnöden Mode-Industrie: Sie macht mit Magersucht in jeder Hinsicht ihre Millionengelder.

MAN KÖNNTE SICH EINE ZWEITE BALLETTKUNST VORSTELLEN

So wunderschön die heutigen, fast fettlosen Tänzerkörper im Bühnenlicht auch wirken – manchmal wünscht man sich ein Ballett zurück, das dezente Speckröllchen zulässt und auch auf den Hochleistungszirkus zu verzichten weiß. Denn Poesie ist eine Frage der Seele und der Koordination von inneren und äußeren Werten durch den Künstler – da kann sich das Auge des Zuschauers sehr schnell umgewöhnen und wohl gerundete Körperteile statt magerer Ecken und Kanten bei den Damen und auch bei den Herren absolut erhebend finden.

Vielleicht gründet sich ja mal ein „Ballett Zwei“, also eine Ballettszene, die zurück zu den Ursprüngen findet und sich von da aus in eine andere Richtung entwickelt als in diejenige des Höher-Schneller-Weiter-um-jeden-Preis. Für eine solche zweite Strömung im zeitgenössischen Ballett gibt es mit Sicherheit ein großes potenzielles Publikum, das sich Ballett deutlich natürlicher, gesünder und „normaler“ wünscht. Zumindest als Ergänzung zur bestehenden „Zuchtkultur“ mit dünnen, ausgezehrten Quasi-Leistungssportlern sollte das eine Chance haben und zugleich den Identifikationsfaktor von Zuschauern mit „ihrem“ Ballett verbessern helfen.

Zurück zur Leistungsschau der Gisellen in Berlin, denn das bedeutet das gegenwärtige Ballett eben auch: Zeigen, was körperlich-technisch überhaupt so möglich ist. Da ist Dinu Tamazlacaru ein unbestrittener Maßstab bei den männlichen Tänzern! Obwohl oder weil er eben kein Riese ist, wirken seine superweiten, superhohen Sprünge, mit denen er zu fliegen scheint, kraftvoll und superbe. Er ist kein kalter Techniker, der sich aus dem Sport ins Ballett verirrt haben könnte, sondern mit jeder Faser seines schönen Körpers ein Künstler. Und seine raffinierten Pirouetten, die einen wirklich in Wallungen bringen, sind so dermaßen intensiv und geradlinig, dass es schwer ist, sie angesichts anderer brillanter Tänzer zu vergessen.

Iana Salenko mit Dinu Tamazlacaru

Strahlend schön und glücklich: Iana Salenko und Dinu Tamazlacaru beim Schlussapplaus nach „Giselle“ auf der Bühne des Schiller Theaters in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Hinzu kommt, dass Tamazlacaru sich in den letzten Jahren und gerade noch in der laufenden Spielzeit darstellerisch vollendet hat: Aus dem manchmal noch unbeholfenen Jungspund wurde ein Ballerino erster Güte in der Blüte seiner Lebenszeit. Als Albrecht – wie auch als Siegfried in „Schwanensee“ – zeigt er, was in einem Männerherzen so alles vor sich geht. Es ist umwerfend! Feinheiten an kleinen Regungen, aber auch die ganz großen Gefühlsstürme spielt Dinu Tamazlacaru so mitreißend, dass er sicher deshalb den Theaterpreis „Daphne“ erhielt – und nicht wegen seiner großen Sprünge.

So ist sein Albrecht auch im zweiten Akt unbedingt fesselnd: ein verträumter, sich selbst verloren glaubender junger Mann, dem nichts im Leben bleibt, als die Erinnerung an eine Liebe, die vorbei war, bevor sie richtig begann. Dinus Albrecht, und das ist das Entzückende gerade in der „Giselle“ von Patrice Bart, hat im Grunde ein ähnliches Schicksal wie die untoten jungen Bräute, die die Männer zu Tode tanzen; vielleicht geht dieser Albrecht in den Wald, nicht obwohl, sondern weil es dort lebensgefährlich ist.

Die sanfte Melancholie, auf der Dinus Albrecht dahin gleitet, ist nun mal eine der edelsten Befindlichkeiten, die Ballett aufweisen kann. Tamazlacaru hat sich damit zum Welttänzer profiliert – und auch, wenn er, wie im ersten Akt von „Giselle“, ein hinreißendes Lächeln hat und frohgemut die Lebensfreude pur zu verkörpern mag, als Tragöde bietet er dennoch die größte Bandbreite von Seele. Ein Tänzer zum Dahinschmelzen!

Hilfreich an seiner Seite indes Iana Salenko, die sich scheinbar völlig gewichtlos hochheben lässt und dann neben ihrem Geliebten in der waagerecht in der Luft schwebt. Auch die anderen Hebefiguren der beiden sind stets so exakt und von scheinbarer Mühelosigkeit, dass sie schon im ersten Akt mit Szenenapplaus des Publikums belohnt werden.

EIN TÄNZERPAAR, WIE GESCHAFFEN FÜR DIE GEMEINSAME KÖRPERARBEIT

Und dann erst das Zusammenspiel dieser beiden Körperkünstler im spirituell dominierten zweiten Akt! Da stimmt jede Linie, jeder Abstand, jeder Winkel. Ianas Beine fliegen mehr nach oben als dass sie gehoben werden, auch im begehrten „Giselle“-Adagio: ob im Zeitlupentempo oder ob blitzschnell, sie dreht, sie springt, sie gleitet sanft und geschmeidig über die Bühne, dass es ein Augenschmaus ist.

Natürlich rührt es auch zu Tränen, was die Salenko da aufführt, denn der Schmerz über die verlorene Lebenszeit, das Weh über die vermisste Liebe kann einen gar nicht kalt lassen. Salenkos Grand Jetés sind entzückend, nicht nur technisch, sondern sie sind in „Giselle“ auch Ausdruck ihrer Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die nie ihre Zukunft war. Was für ein Schmelz des Schicksals!

Die klassisch-romantischen Posen – etwa Albrecht kniend, Giselle rechts seitlich hinter ihm – sind von Postkartenschönheit und von Weltschmerztiefe in eins. Zu schade, dass es jetzt hier kein Foto davon gibt – die geneigte Leserschaft möge bitte ihre Fantasie bemühen!

Iana und Dinu beim Applaus

Eleganz mit Blumen im Arm: Iana Salenko und Dinu Tamazlacaru nach „Giselle“ mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Eleganz, mit der Salenko und Tamazlacaru sich zum Abschied verbeugen und sich dem Publikum auch dann mit ganzem Herzen präsentieren, erinnert immerhin stark an die Ausstrahlung, die sie auch beim Tanzen haben.
Gisela Sonnenburg

Mehr über Patrice Bart und  „Giselle“, über die Premiere mit Polina Semionova und über andere Besetzungen in Berlin:

www.ballett-journal.de/wenn-liebe-staerker-ist-als-der-tod/

www.ballett-journal.de/polinas-triumph/

www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-giselle-salenko-tamazlacaru/

www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-giselle-viktorina/

Noch mehr über „Giselle“:

www.ballett-journal.de/weisse-furien-und-schwarze-magie-wahrheiten-ueber-romantizismen/

www.staatsballett.de

UND SEHEN SIE BITTE INS IMPRESSUM: www.ballett-journal.de/impresssum/

 

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