Im Namen der Liebe? „Turandot“ nimmt sich in der Inszenierung von Philipp Stölzl an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin das Leben

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Große Freude beim Schlussapplaus in der Staatsoper Unter den Linden: nach „Turandot“, hier mit Dirigent Maxime Pascal mittig vorn. Foto: Gisela Sonnenburg

Turandot ist keine gewöhnliche Prinzessin. Sie entspricht weder dem blumig-naiven Mädchenbild noch ist sie eine Ikone der starken, leidensfähigen Frau. Sie kämpft zwar, aber nicht für das, was allgemein als „das Gute“ angesehen wird. Sondern: Sie ringt in einer Zeit, in der sich Frauen nur über ihre Familie definieren dürfen, um ihre  persönliche Freiheit, „nein“ zur Ehe zu sagen. Weil „Turandot“ nun von Männern erfunden wurde, muss das ein Makel an ihrem Charakter sein. Dass die Geschichte in einem altertümlichen Fantasie-China spielt, entrückt sie noch stärker. Und siehe da: Turandots blutige Rachsucht an allen Männern, die sie begehren oder zumindest heiraten wollen, ist sprichwörtlich – und wird in der nach ihr benannten Oper von Giacomo Puccini (Uraufführung posthum 1926), nicht erklärt. Eine so grausame Frau muss wohl ein Geheimnis haben. Aber welches? Die Inszenierung der Oper von Philipp Stölzl an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin lüftet dieses Rätsel keineswegs. Aber Stölzl nutzt, offenbar inspiriert von den überlebensgroßen Marionetten in Straßenzügen, einen cleveren Kunstkniff, um die Figur der Turandot deutlich als Fetisch ihrer Gesellschaft darzustellen: Er baut sie, zugleich als Bühnenbildner für sich selbst tätig, als monströs große Puppe an Strippen mitten auf die Bühne.

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Schön und grausam: Turandot, in der Inszenierung von Philipp Stölzl, verdoppelt und als riesenhafte Marionette, die das Volk anbeten muss, zentral sichtbar. Foto von der Staatsoper Unter den Linden: Matthias Baus

Schelme wollen in den maskenhaft weiß geschminkten Gesichtszügen mit tief liegenden, dunkel geschminkten Mandelaugen (Smokey Eyes) und einem akkurat aufgemalt wirkenden kleinen Mund (Puppenmündchen) eine gewisse Ähnlichkeit zu einer real existierenden Person erkennen. Wieviele Schönheits-OPs, Facelifts und Aufspritzungen und sowieso Make-up sind eigentlich nötig, um ein solches Antlitz ohne Doppelkinn und ohne Falte herbeizuzaubern?!

Hier geht es um die geschminkte Grausamkeit an sich: Die Monstermarionette mit der vornehmen Anmutung kontrolliert ihr Volk mit schlichten Blicken und Gesten so strikt und radikal, als sei sie ein unheimliches Instrument einer fernen Macht. Die Theatermarionette als Stellvertreterin einer politischen Kraft, die sich zugleich hinter der figuralen Maskerade versteckt.

Das ist eine grandiose Inszenierungsidee, auch wenn die Umsetzung nicht immer überzeugt, zumal die Riesenpuppe den Großteil der verkleinerten Bühne einnimmt und man zunächst nur ihre Haare und kein Gesicht erkennen kann.

Mit mehr Freiraum nach hinten und vorn wäre die Puppe immer noch dominant, würde die anderen Mitwirkenden aber besser einbeziehen.

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Turandot, die Glühbirne und die Menschen: So zu sehen in der Inszenierung von Philipp Stölzl in Berlin. Foto: Matthias Baus

Dafür aber ist das sinnige Bild einer zweiten, riesenhaft vergrößerten, schönen, aber bösartigen Turandot, die im Verlauf der Oper parallel zum scheinbaren Sieg der Liebe demontiert und auseinandergenommen wird, ästhetisch und inhaltlich ein doppelter Reingewinn.

So beherrscht die Titelfigur als gottheitsähnliche Fiktion die Szenerie.

Wenn sich Timur (René Pape), der mit dem historischen „Timur, dem Schrecklichen“ nichts zu tun hat, sein Sohn Calaf (Ivan Magrí) und die immer hilfreiche, liebliche Sklavenfreundin Liù (Olga Peretyatko) zu Füßen der heiligen Marionette treffen – alle drei in strahlendes Tennisweiß gehüllt – so kommen sie zugleich wie noble Geflüchtete im diktatorischen Prinzessinnenstaat zusammen. Und da ist noch nicht entschieden, wohin die Reise geht.

Der Anblick des monströsen, schönen Puppengesichts ändert dann alles: Calaf, absolut hervorragend von Ivan Magrí gesungen und verkörpert, verfällt der berühmten Liebe auf den ersten Blick und lässt sich nicht davon abbringen, trotz höchster Gefahr für Leib und Leben um Turandot zu werben. Er beklettert die Marionette, streichelt ihre hölzerne Hand und das maskenhafte Gesicht.

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Calaf streichelt die Maske der Marionette Turandot – so zu sehen in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Foto: Matthias Baus

Der Rock der Puppe ließ sich bereits lüften, und zum Vorschein kam eine Treppe, auf der zunächst stumm ein schöner junger Mann einer Schnitzarbeit nachging. Bis klar wurde: Auf dieser Treppe wird von Experten gefoltert und zu Tode gebracht.

Die Anwärter der Brautwerbung sterben hier unterm Damenrock qualvoll – statt die monströse Prinzessin in der Hochzeitsnacht zu beehren.

Die Folterknechte sind übrigens keine Marionetten, sie handeln scheinbar mit sadistischer Pflichterfüllung, wie sie in jedem Unrechtsstaat aufblüht.

Nun ist hier nur die Prinzessin auch eine Marionette, und weil sie mit Macht und Größe allen anderen überlegen ist, ist sie hier die beispiellose Herrscherin. Dass sie auch in personae als Sängerin auf der Bühne steht, macht sie fasslich: Die Fassade einer Politikerin ist eben etwas anderes, hat etwas Übermächtiges – und die wahre Person mag dagegen klein und kleiner wirken.

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Die Marionette und das Personal: „Turandot“ in der Inszenierung von Stölzl in Berlin. Foto: Matthias Baus

„Über das Marionettentheater“, so nannte Heinrich von Kleist seinen Essay, in dem es um die Anmut als Sujet einer Debatte geht. Kleist entscheidet sich – fälschlicherweise – dafür, dass entweder kein Bewusstsein vorhanden sein dürfe oder es eine göttliche Erleuchtung für Anmut geben müsse. Natürlich ist beides Unfug, denn sowohl Anmut als auch das Bewusstsein für Anmut erfordern außer Talent auch Arbeit, um sich auszuprägen.

Die natürliche Anmut des Dornausziehers, die Kleist vorgeblich mit einem frustrierten Tänzer beispielhaft diskutiert, illustriert lediglich das Talent, aber nicht das wiederholbare Arbeitsergebnis.

Man wünscht, Kleist hätte sich mal wirklich in einen Ballettsaal vorgetraut.

Dann hätte er mehr zur Anmut zu sagen gehabt. Der Unterschied zwischen Mensch und Maschinenvorläufer (Marionette) ist allerdings frappierend schön von ihm in seinem kleinen Aufsatz dargestellt. Sein eigentliches Thema ist also gar nicht die Grazie, sondern der Unterschied zwischen der lebendigen, wilden und unberechenbaren Kreatur und der von außen gesteuerten, toten Puppe, die leicht kontrollier- und berechenbar ist.

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Und während die immerwährende, manchmal auch von Neid gefärbte  Bewunderung von Tänzern, Sängern und Schauspielern der natürlichen Anmut von Kindern, Pflanzen und Tieren gilt – nicht nur der von Marionetten – drückt Kleist sich um die eigentliche Erkenntnis seiner Denkarbeit. Man kann ihn bei Bedarf also gut als Pionier der künstlichen Intelligenz (KI) missbrauchen, übersieht dabei aber, dass er die Anmut keinesfalls durch Verstand ersetzen wollte.

Um die Bewunderung der fast emotionslosen Monsterpuppe Turandot geht es  nun auch bei Stölzl. Puppentheater mal anders: Das Monströse herrscht, indem es sich anbeten lässt.

In graublauen Arbeiteranzügen, die ein bisschen an das neualte China von Mao erinnern, müssen die Chorsänger, getrieben von Sklaventreibern in Rot, im Kreis um die riesenhafte Marionette herumgehen – und mit dem Oberkörper immer wieder sie anbetende Verbeugungen vollführen.

Diese einfache Choreografie verströmt Beklemmung – und das Wissen um die Machtmechanismen, die auch heute noch wirksam sind.

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Drei Beamte (vorn links) und der Hofstaat von „Turandot“, zu sehen in der Staatsoper Unter den Linden. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Eine Schädelstätte des Geistes, wie Hegel sie verlangte, gibt es hier auch: Wenn die Prinzessin sich entfernt hat, wächst aus dem Schlund ihres Unterbaus ein Haufen aus Totenschädeln. Hübsch gruselig und fast ein Marina-Abramovic-Moment. Folterstaaten mögen sich nach außen unterscheiden, nach innen aber haben sie die Verachtung für den einzelnen Menschen gemein.

Auf den Schädeln nehmen die Puccini-Clowns Platz: drei hohe Beamte namens Ping, Pang und Pong, hier bewehrt mit Sonnenschirmen aus Plastik, die ein  psychedelisches Drehmuster tragen. Sie singen ihr Terzett – köstlich ernst und ironisch zugleich.

Was erhoffen, was befürchten die hohen Staatsdiener wirklich?

Auch auch diese Antwort bleibt aus. Puccini und Stölzl sind sich lediglich darin einig, dass sie diese Frage mit künstlerischen Mitteln immer wieder stellen werden. Und so wird den drei Beamten rasch die Bedeutung von typischen Ständevertretern, aber auch von wandelnden Rätseln verliehen.

Gyula Orendt, Andrés Morena García und Matthew Newlin tirilieren und brummen, changieren und meutern köstlich in den Partien dieser drei Minister, die sie im Originallibretto – nach dem Schauspiel von Carlo Gozzi – sind.

Mit Turandot, deren Name übrigens ursprünglich aus dem Persischen kommt, „Mädchen aus dem Turan“ heißt und „Turandocht“ ausgesprochen wird, gehen derweil seltsame Dinge vor sich. Auch sie wurde – heimlich, ganz heimlich – vom Odem der Liebe mehr als nur gestreift, und ihre Fassade als monströse Riesenpuppe bröckelt.

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Glückliche Stars und ein glücklicher Chor nach „Turandot“ in der Regie von Philipp Stölzl in Berlin. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Stück für Stück wird sie demontiert. Unter der weiß geschminkten Maske zeigt sich gar der riesenhafte Totenschädel, und ihre Holzbeine (ohne abgebundene Füße übrigens, wiewohl diese für adlige Damen im alten China Pflicht waren) lagern bald als malerische Kuschelfetische am Boden. Verehrer von Turandot begnügen sich nun mit den hölzernen Gliedmaßen, der Held Calaf streichelt später die abgenommene weiße Maske weiter, auch wenn sie nicht mehr als Gesicht fungiert.

Plötzlich hat die Puppe sechs Arme wie Shiva – aber dann auch keinen Kopf mehr. In ihrer geöffneten Brustpartie sah man aber schon zeitweise eine weiße Taube als fetischhaftes Friedenssymbol eingemeißelt. Kryptisch ist das und für kritische, aufgeschlossene Zeitgenossen dennoch sehr gut zu verstehen.

Aus der bösen Turandot wird also über die Maskerade und den Zerfall die wahre, gute Turandot? So könnte man denken. Aber warten wir es ab.

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Elena Pankratova und Ivan Magrí beim ersten Schlussapplaus nach „Turandot“ in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Erst mal zum Sängerischen Pikantes: Die Titelpartie sollte eigentlich mit Anna Netrebko besetzt sein. So war der Plan für die Premiere, die im letzten Sommer stattfand. Weil die Staatsoper Unter den Linden aber ihrer geliebten Superikone Netrebko mit bodenloser Unmenschlichkeit und nur aufgrund ihres russischen Nimbus alle Verträge kündigte, fehlt sie in Berlin.

An der Staatsoper Wien und an der Scala in Mailand tritt Anna Netrebko übrigens weiterhin regelmäßig auf. Wenn auch nicht als Turandot, so doch zum Beispiel als Aida in München.

Kein Zweifel: Der glasklare, dennoch gefühlsstarke Ton der Netrebko hätte die Aufführung mit einer weiteren Sensation gesegnet. Sie weiß, wie man Stärke und auch Härte menschlich darstellt, wie man zwischen Kühle und Hitzigkeit wechselt.

In Berlin singt nun an ihrer Stelle die ebenfalls aus Russland kommende Elena Pankratova. Sie hat damit keine dankbare Aufgabe, der Göttin der aktuellen Opernstimmen nachzufolgen – und sie kann es stimmlich auch nicht mit der Netrebko aufnehmen. Trotzdem ist es wohl Pankratovas Glück, dass Vladimir Putin ihre Stimme offenbar auch weit weniger genial findet als die von Netrebko.

Sonst hätte wohl auch Pankratova keinen Job mehr in Scholz‘ Deutschland.

Und so gibt Elena Pankratova als stilechter, stets pathosschwangerer, starker, aber nicht schillernder Mittelklassesopran ihr Bestes. Ihre Tendenz zum Schmettern ist allerdings eher old school als mitreißende Kunst, dafür erspart sie uns ein Übermaß an Vibrato.

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Zusammenhalt beim Schlussapplaus: Ivan Magrí, Elena Pankratova und Olga Peretyatko nach „Turandot“ in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Gefühl setzt sie sparsam ein, zunächst zu sparsam, denn auch die feindlich gesonnene Turandot sprüht nur so vor Gefühlen, die sie nur mühsam im Zaum halten kann: Herrschsucht und Sadismus sind nicht nur innerer Kälte geschuldet. Sie entsprechen in der Oper auch der Notwehr einer geschundenen Seele. Und sie sind leidenschaftliche Triebkräfte für die Rache.

Langsam findet Pankratova zu dieser Figur. Besonders am Ende steigert sie sich dann endlich: zu reich aufgefächerten Nuancen von Stimmungen. Hass, Trotz, Liebe, Entrückung mischen sich da. Dann ist Elena Pankratova zauberhaft!

Solange sie aber in der imaginären Uniform der ehefeindlichen Herrscherin singt (gekleidet in ein Kostüm, das aus einem US-amerikanischen Western-Saloon stammen könnte), bleibt Pankratova allerdings oft zu steif, um zu überzeugen.

Aber woran leidet diese Turandot denn nun eigentlich?

In der Inszenierung von Stölzl gibt sie am Ende zwar der Liebe nach und schützt Calaf, der ihr die Macht gab, ihn zu töten, textbuchgemäß vor dem sicheren Tod. Aber sie selbst nahm zuvor ein langsam wirkendes Gift und begeht somit lieber Suizid als Calaf zu heiraten.

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Roboter-Mädchen in Weiß mit Melone: Sie helfen bei der Inquisition in „Turandot“, um den Namen von Calaf herauszubekommen. So zu sehen in der Regie von Philipp Stölzl. Applaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Ist sie sexuell traumatisiert? So stark, dass sie jede eheliche intime Handlung vermeiden will, um den Preis anderer Menschenleben, aber auch des eigenen Lebens? Ist Turandot also ein bis in den Tod hinein rachsüchtiges Opfer?

Dieser Ansatz passt auf Turandot, mit und ohne Happy Ending.

Tatsächlich ist die Neuerung des Schlusses, wie Stölzl ihn inszeniert, dann auch noch schlüssig, zumal Turandot auch in ihrer letzten Duett-Arie heftig wiederholt, dass sie partout nicht heiraten will.

Der Grund für ihre Ehefeindlichkeit, von Anfang bis Ende der Oper von ihr immer wieder benannt: weil sie vorgeblich die Wiederholung eines schrecklichen Frauenschicksals in ihrer Ahnenreihe befürchtet. Diese hohe Frau wurde überfallen und vergewaltigt.

Tatsächlich bot die Ehe im 19. und frühen 20. Jahrhundert Frauen überhaupt keinen Schutz vor der Vergewaltigung durch den eigenen Gatten. Dieser Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe existierte einfach nicht, er wurde juristisch auch in Deutschland erst in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts eingeführt. So ganz dumm ist Turandots Befürchtung also nicht.

Dass sie sich aber so überstark mit Lou-Ling, ihrer geschändeten Ahnin, identifiziert, spricht für eigene sexuelle traumatische Erfahrungen. Wollen wir das Fass „sexueller Missbrauch in der Kindheit“ öffnen? Wer käme da als Täter in Frage? Einer der hohen Beamten? Ein auf der Bühne für uns nicht Anwesender? Oder gar der Vater von Turandot?

Er wird von Jan Jezek als Tenno in weißer Uniform mit dunkler Schärpe vorzüglich als Spielball der eigenen Tochter vorgestellt. In einer Szene ragt er anstelle eines Penis auf Beckenhöhe aus dem Rock der Monsterpuppe. War er ein Täter an ihr, bevor er Opfer ihres Machtdrangs wurde?

In seinem Text beklagt er die Grausamkeit seines Kindes. Aber vielleicht weiß er, woher diese rührt – und sagt es nur nicht.

Eine andere Möglichkeit, die „unweibliche“ Grausamkeit Turandots zu erklären, ist politisch motiviert. Soll sie dafür sorgen, dass ihre Dynastie ausstirbt? Ist sie korrupt und von Ausländern gegen ihr eigenes Volk gekauft worden? Soll sie langfristig die Macht über ihr Volk einem fremdem Staat übergeben? Wäre sie sonst schon entthront? Da wären eigene Kinder mit Ansprüchen auf den Thron und somit auch eine Eheschließung hinderlich.

Schließlich kann man spekulieren, ob dieses wilde Weib – die Oper schon ja im 20. Jahrhundert heraus – sexuell eher Frauen mag und darum mit der konventionellen Ehe mit einem Mann nichts anfangen kann.

Außerdem ist aber auch denkbar, dass Turandot eine hohe Meinung von ihrer sexuellen Freiheit hat und längst einen Liebhaber oder eine Liebhaberin hat, vielleicht sogar einen ganzen Harem.

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Glück und Applaus: Nach „Turandot“ in der Regie von Stölzl in Berlin. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Aber das wäre eine ganz andere Inszenierung, selbstredend. Und ob es der Diversity-Gemeinde wirklich gefallen würde, wenn eine lesbische Turandot sich am Ende doch in einen Macker verknallt, sei dahin gestellt.

Unabdingbarer Teil der Handlung ist die Sache mit den Rätseln.

Turandot, die Grausame, für deren Grausamkeit sich also weiterhin jeder selbst ein Motiv zurecht basteln darf, stellt jedem Freier drei Rätsel, die er lösen muss. Sonst wird er hingerichtet (im Original geköpft, bei Stölzl zu Tode gefoltert).

Nun sind die Fragen der Turandot nicht so raffiniert wie das Rätsel der Sphinx bei Sophokles, aber Calaf ist so schlau, dass er die drei Fragen richtig mit „Hoffnung, Blut, Turandot“ beantwortet. Was für Schlagworte. Und alle im Namen der Liebe? Es scheint so.

Turandot aber ist entsetzt. Sie hat nicht damit gerechnet, dass Calaf die Antworten herausfindet. Waren aus ihrer Sicht nun alle Opfer umsonst?

Unter ihnen sind nicht nur die getöteten Männer. Auch die heroische Sklavin Liù starb: Sie nahm sich selbst das Leben, weil sie befürchtete, den Folterknechten, die sie zwingen wollten, den Namen von Calaf zu verraten und somit sein Leben zu beenden, nicht standzuhalten.

Sie ist die eigentliche, typisch weibliche Heldin hier, sie entspricht in allem den Vorgaben weiblicher Güte und femininer Tapferkeit, verbunden mit dem Wunsch aller Männer, die Frauen mögen sich doch bitte für sie aufopfern.

Olga Peretyatko entführt mit ihrer zarten, ja filigranen, dennoch kräftigen Stimme in das Reich unendlich starker, tätiger Liebe, und das vom ersten bis zum letzten Ton. Wirklich: Brava!

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Olga Peretyatko freut sich über ihren großen Erfolg als Liù in „Turandot“ in der Regie von Philipp Stölzl in Berlin. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Liù liebt Calaf, und damit hat sie gleich zwei Mal die Arschkarte: erstens, weil sie nicht standesgemäß geboren wurde und zweitens, weil er eine andere liebt. Auch noch die grausame Prinzessin, die nun ihrer beider Leben bedroht.

Calaf aber gestattete Turandot großzügig eine Revanche: Wenn sie am nächsten Morgen seinen Namen wisse, könne sie über ihn verfügen und ihn hinrichten lassen. Falls nicht, solle sie ihn aber heiraten – die Liebesglut, in der er sie so gern sehen möchte, kann er dann schon entfachen, in dieser Hinsicht hat der tadellos mutige Held gar keine Selbstzweifel.

Und so werden jene bedrängt und gefoltert, die Calafs Namen kennen und preisgeben könnten. Ein Inquisitionstrupp, als weibliche Roboter-Compagnie in Weiß mit Melonenhut und Plastikbrüsten, hilft dabei.

Aber Liù bleibt stark. Und singt so schön – dass man ihr wünscht, sie würde eine zweite Chance in einem anderen Leben erhalten. Hier ist dieses tapfere Menschlein wunderbar gesungen und auch optisch der Rolle entsprechend von Olga Peretyatko dargestellt. Sie ist schön, singt mit jenem Schmelz, der nur großen Gesangskünstlerinnen zueigen ist – und sie erreicht mit ihrem lyrischen Ton alle Höhen und Tiefen der Liebe und des Verzichts. Brava!

Die Tapferkeit von Liù beeindruckt denn auch sogar die Prinzessin. Und nährt zugleich deren schleichende Depression. Es ist überraschend, wie sehr Philipp Stölzl mit seiner Interpretation der Turandot als Selbstmörderin ins Schwarze trifft. Er lässt sie ja nicht als Verliererin oder gar aus Schwäche sterben. Sondern aus eigentümlicher Stärke heraus: Turandot setzt ihre eigenen Werte über das Liebesglück, das ihr der lächelnde Held verspricht.

Und so begreift er auch erst spät, was mit ihr geschieht. Sie stirbt. Qualvoll. Mutig. Illusionslos. Sie ist sich sicher, dass diese Beziehung nicht funktioniert hätte. Nicht unter den gesellschaftlichen Vorzeichen der konventionellen Ehe.

Ist Turandot nun pervers? Dann hätte Stölzl keine Schuld daran. Pervers ist sie bereits zu Beginn des Stücks, als sie wehrlose Heiratswillige umbringen lässt. Es ist dieselbe Perversion, die sonst – gerade auch im Märchen – von den Patriarchen ausgeht, die Untertanen oder auch heiratswillige Fremde gern mal eben abschlachten lassen.

Dass eine solche Perversion zum Fetisch, ja zum Gottesabbild wird, wenn sie, verkörpert von der Monstermarionette, angebetet und verehrt wird – das ist der Skandal, der unserer Gesellschaft inne wohnt und den Stölzl für uns zwecks Erkenntnisgewinn inszeniert.

Dafür sei ihm herzlichst gedankt.

Dank geht auch an den mal wieder hervorragenden Staatsopernchor, den hier Martin Wright schulte.

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Chor und Chorleiter Martin Wright beim Schlussapplaus nach „Turandot“ in Berlin in der Staatsoper Unter den Linden. Foto: Gisela Sonnenburg

Dank auch an den unbedingt taktsicheren, auch schwungvollen Dirigenten Maxime Pascal und die zuverlässig großartige Staatskapelle Berlin.

Ivan Magrí schließlich dürfte uns in Sachen Tenorrollen noch sehr viel Glück bereiten. Der junge Spanier hat bereits in lyrischen und auch tragischen Partien von Verdi, Donizetti und Puccini international reüssiert – und man hofft darauf, ihn verstärkt auch in Berlin bejubeln zu dürfen. So klar und dennoch emotionsstark, so sinnlich und dennoch voller Esprit vermögen nur sehr wenige Sänger ihr Organ einzusetzen. Bravo!

Ich erlaube mir zu fragen: Wäre er nicht auch als Wagners Lohengrin oder Siegfried eine tolle Überraschung?

Das Schlussduett von Calaf und Turandot hat in Stölzls Inszenierung jedenfalls eine nachgerade Wagnerianische Qualität. Die Bühne leert sich dafür, die beiden Titanen – sie sind Liebende und Kontrahenten zugleich – sind allein. Unter sich. Dieser Moment hat eine szenische Köstlichkeit, die sich alsbald stimmlich fortsetzt.

"Turandot" von Puccini, von Philipp Stölzl inszeniert

Der Umarmung auf der Bühne folgt die Umarmung beim ersten Schlussapplaus vorm Vorhang in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin nach „Turandot“ in der Inszenierung von Christoph Stölzl: Elena Pankratova und Ivan Magrí. Foto: Gisela Sonnenburg

Elena Pankratova läuft zur Hochform auf, öffnet sich endlich auch für sensible Zwischentöne. Und Ivan Magrí beschwört seine Liebe als Calaf fast autistisch, so sehr ist er mit Tunnelblick auf die Inbesitznahme dieser Frau fixiert. Erst spät bemerkt er, dass sie sich vor Schmerzen windet, dass diese Schmerzen von Gift rühren.

So gibt es eine Umarmung, einen kurzen Liebesakt, bevor das Drama den Helden allein lassen wird. Ihn erwartet das Schicksal des Überlebenden.

Ergreifend und anrührend ist dieses Opernende – und Philipp Stölzl ist ein neuer Höhepunkt seiner Karriere als vielseitiger Regisseur gelungen.
Gisela Sonnenburg

staatsoper-berlin.de

 

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