Nur einen Tag vor ihrem 84. Geburtstag ging die zarte, zähe, wunderbar filigrane, dennoch so energische Lynn Seymour von dieser Welt. Geboren am 8. März 1939 im kanadischen Wainwright (Alberta), legte sie als Muse der Choreografen Kenneth MacMillan und Frederick Ashton in London eine fabelhafte Ballerinenkarriere hin. Nicht nur die romantisch-klassischen Partien, sondern vor allem die damals neue klassische Moderne wurde ihr Kennzeichen. Ob als „Anastasia“ oder in „Mayerling“, ob in „Romeo und Julia“ – ihrem ersten Riesenerfolg – oder in „A Month in the Country“, ob in „Deux Pigeons“ oder in „Five Brahms Waltzes in the Style of Isadora Duncan“: Ihre entschieden ausdrucksstarken Bewegungen, vereint mit mädchenhafter Grazie und Eleganz sowie mit einem außergewöhnlichen, auch unkonventionellen Pathos von Leidenschaft, faszinierten. Mit 49 Jahren tanzte Lynn noch die Tatjana in „Onegin“ von John Cranko, und auf Galas sowie in Film- und Fernseharbeiten trat sie, auch nach ihrem offiziellen Bühnenabschied 1981, immer mal wieder spektakulär in Erscheinung. Später choreografierte sie selbst, coachte und wirkte international als Ballettdirektorin – so von 1978 bis 1980 beim Bayerischen Staatsballett in München – und sie verdiente sich auch Meriten in der Nachwuchsförderung. In drei Ehen gebar sie drei Kinder, denen jetzt unser Mitgefühl gehört. Sie wuchsen mit dem Wunder der Tanzkunst der Seymour auf:
Lynn Seymour war eine der fulminanten und unverwechselbaren Ballerinen des letzten Jahrhunderts.
Geboren mit dem deutsch-kanadischen Nachnamen Springbett, erfüllte Lynn schon früh Choreografenträume: mit ihrem erotisch-eleganten Flair und auch ihrem absoluten Willen, zum künstlerischen Erfolg einer Sache beizutragen.
Ashton trug dazu bei, dass sie, die bis dahin nur in Vancouver in Kanada in Ballett unterrichtet wurde, 1953 in die Royal Ballet School in London aufgenommen wurde. Marcia Haydée, die spätere Stuttgarter Cranko-Ikone, war dort eine ihrer Klassenkameradinnen.
1956 startete sie ins Berufsleben Ballett. 1959 wurde sie Solistin beim Royal Ballet – und somit auf der Spurgeraden zur Starballerina im Covent Garden.
1964 bejubelte man sie als Julia in Kenneth MacMillans Version von „Romeo und Julia“ mit der Musik von Sergei Prokoffiew – und über MacMillan kam Lynn Seymour nach Berlin, wo sie an der Deutschen Oper bis 1969 brillierte.
Ein Höhepunkt in der Mauerstadt: Ihre Kreation der Anna Anderson in „Anastasia“ von MacMillan. Das Psychogramm einer schillernden weiblichen Persönlichkeit, mit historischen Legenden spielend, ist bis heute unvergessen. Natalia Osipova feierte zuletzt Triumphe mit dem Stück, allerdings in London, nicht in Berlin.
Mitte der Siebziger Jahre, 1975, war sie eine der Attraktionen in Hamburg bei John Neumeier: als Gast der ersten Ausgabe seiner „Nijinsky-Gala“. Sie tanzte mit Mikhail Baryshnikov, der aus New York angereist war, das Mikhail-Fokine-Stück „Le Spectre de la Rose“ und sie tanzte einen der Brahms-Walzer, die Ashton für sie und in Erinnerung an Isadora Duncan choreografiert hatte.
Ob als Isadora, als „Giselle“, als Mary Vetsera oder als Anna „Anastasia“ Anderson: Immer bewahrte sich Lynn Seymour etwas Feenhaftes, ja Spirituelles in ihrem Tanz. Sie war eine Königin der Anmut.
Sie war von daher auch eine perfekte Besetzung für die Titelpartie in „La Sylphide“ und verlieh wie nebenbei den modernsten Rollen ihrer Zeit den Nimbus des Erhaben-Ätherischen.
Gerade diese Mischung machte sie als Künstlerin in ihrem Ausdruck so verständlich. Man sah ihr nicht nur zu, wenn sie tanzte, man hörte sozusagen auch, was ihre Rolle zu sagen – also zu tanzen – hatte. Da war nichts beliebig, nichts austauschbar: Seymour spielte, wenn sie tanzte.
Das wollte die Welt haben. Immer wieder.
In New York wie in Paris tanzte Seymour bejubelt als Gast, an der Seine auch mit Rudolf Nurejew als Bühnenpartner. Und Rudi folgte ihr, tanzte mit ihr in London „La Bayadère“. Ein sagenhafter Erfolg.
Ihrer Münchner Zeit folgte mit einigem Abstand später noch einmal eine kurze Zeit als Ballettdirektorin: in Athen, von 2006 bis 2007. Die Verantwortung für ein ganzes staatliches Ballett zu tragen, forderte sie, bot ihr aber nicht immer alle Erfüllung.
Ihre letzte, von ihr in einer Brasserie in London geplante Geburtstagsfeier konnte nun nicht mehr stattfinden. Aber für die Welt des Balletts ist Lynn Seymour schon lange unsterblich geworden. Farewell, Queen Lynn!
Gisela Sonnenburg