Kammertanz und ein neuer Engel Das Bach-Ballett „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin: als Kommentar zu Walter Benjamins Geschichtsphilosophie gesehen

Vielfältigkeit… ein gutes Thema für ein Bach-Ballett.

Bach und seine Muse: Michael Banzhaf und Polina Semionova in der Premierenbesetzung von „Vielfältigkeit…“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Fernando Marcos

Als Gegenstück zum großen Handlungsballett steht der Kammertanz. Nacho Duato ist ein Großmeister dieser Kunstform der Kleinigkeit: Nicht vier oder fünf Dutzend, sondern nur die Hälfte Tänzer sind nötig, um die ästhetische und inhaltliche Botschaft eines abendfüllenden Programms zu transportieren. Die Sehweise ist eine andere als aufs klassische Ballett – allerdings kann die eine Gattung die andere keineswegs ersetzen. Nacho Duatos Ballett über Johann Sebastian Bach – „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ betitelt – lässt sich als Musterbeispiel für den abendfüllenden Kammertanz anschauen. Aber es ist auch als tänzerischer Kommentar zur Essenz der geschichtsphilosophischen Thesen von Walter Benjamin zu deuten. Darin stehen Personen allegorisch für all das, was das Leben ausmacht.

Die junge Frau, die in Bachs emotionaler Welt die Hauptrolle spielt, ist in der „Vielfältigkeit…“ beinahe barbusig zu nennen: Nur ein hauchdünner schwarzer Tüllstoff umhüllt ihren Oberkörper. Ihr dunkel glänzender Rock dagegen ist barock gebauscht und knöchellang. Er verzeichnet vorn allerdings einen offenen Schlitz bis zur Hüfthöhe. So sieht man die schönen nackten Schenkel der zudem die Barfüßigkeit der Tänzerin. Ganz schön viel Haut ist zu sehen, aber auch ganz schön viel Kostüm – diese Raffinesse ist sprichwörtlich modern und wurde vom Choreografen Nacho Duato in Zusammenarbeit mit Ismael Aznar ersonnen.

Vielfältigkeit… ein gutes Thema für ein Bach-Ballett.

Der Musiker im Disput mit sich selbst, hinten auf der Bank… „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ bezeugen Nacho Duatos intensive Auseinandersetzung mit den Werken von Bach. Foto: Fernando Marcos

Bei der Berliner Premiere tanzte die brillante, unangefochtene Weltklasse-Ballerina Polina Semionova diese Partie. Natürlich sah sie bildschön aus in dem ungewöhnlichen Kostüm, das von einer kalkweißen Halbmaske fürs Gesicht ergänzt wird. Diese mondäne Frauenfigur ist eine mysteriöse Person: Zeitweise trägt sie zwar vollen Barockornat – mit Mieder – und erscheint dann als die geliebte Gattin des Komponisten Bach. Zumeist aber wirbelt sie im beschriebenen Fantasie-Kostüm als vieldeutiges Sinnbild der Muse des Künstlers Bach herum; sie verkörpert die Musik, die sein Leben war, ebenso wie einen persönlichen Engel, der ihn inspiriert, aber letztlich auch in den Tod geleitet. Mit dieser Bandbreite ist die Rolle so nuancenreich wie eine Hauptrolle im klassischen Ballett, wenn nicht sogar emotional noch vielgestaltiger. Sie wälzt sich auf dem Boden, lässt sich heben, spreizt und knickt dazu die eleganten Beine, ohne auch nur einen minimalen Verlust ihrer maximalen Anmut in noch so kompliziert-verzwickten Posen aufzuzeigen: eine ewiglich wirkende, zeitlose Ikone der urweiblichen Attraktion. Ohne dussliges Blondierungsdiktat der Industrie, wohlgemerkt.

Auch die biegsame Elisa Carrillo Cabrera, die derzeit diese Partie tanzt, ist ein brünetter Frauentyp von eigenwilliger Schönheit. Die Mexikanerin, Erste Solistin beim Staatsballett Berlin, ist allerdings wilder, ungestümer, spontaner bei der Gestaltung dieser an sich nur verhalten expressiven Partie – und weniger ziseliert und durchgearbeitet im Ausdruck. Aber auch das ergibt einen dialektischen Sinn, es verleiht der Choreografie einen individuellen menschlichen Schmelz und eine gewisse feminine Erhabenheit.

Genau betrachtet, erinnert dieser Rollenpart ohnehin an eine mythisch-profane Gestalt: nicht an einen christlichen, jüdischen oder islamischen Engel, sondern an den berühmten Angelus Novus, den Neuen Engel, den der Philosoph Walter Benjamin (1892-1940) in seinem Todesjahr frei nach einem Aquarell von Paul Klee kreierte.

Vielfältigkeit… ein gutes Thema für ein Bach-Ballett.

Paul Klee malte sein Aquarell „Angelus novus“ (er schrieb das lateinische Adjektiv im Titel klein) 1920. Es faszinierte Walter Benjamin, der 1940 in Spanien starb.

Benjamin schrieb dazu: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt.“ Der Blick dieses Engels ist allerdings frontal auf uns, die Betrachter, gerichtet – so wie die Tänzerin zumeist ebenfalls ins Publikum tanzt. Was auch immer sie gerade anschaut, es ist nicht nur das, was es scheint, sondern auch das, was sie in ihrer Rolle darin sehen will: Vorrangig ist da der Komponist Bach, ganz hervorragend lebendig wirkend und dennoch minutiös durchgetaktet von Michael Banzhaf dargestellt.

Die Beziehung Bach-Muse drückt sich in den Pas de deux im Stück aus, aber auch in den Fantasien, die Bach entwirft und die die anderen Tänzer verkörpern. Das Ausgespanntsein der Flügel, das Benjamin bei seiner Engelsfantasie beschreibt, findet sich im souveränen, unaufgeregten Duktus der Choreografie von Nacho Duato wieder: Es geht nicht um Raketen, die ständig abgefeuert werden müssen, wie Salven der Sensation, sondern es geht um eine Beständigkeit und Ruhe auch im noch so bewegten Ausdruck. Ein Engel muss nicht dauern fliegen. Wichtig ist, dass er fliegen kann, dass er weiß, was Fliegen ist und wie ein Flug funktioniert. Dann darf er mit diesem Wissen auch mal still stehen – und nur schauen und erkennen. In Tanz übersetzt, heißt das: Ohne ständige Höhepunktraserei ein Auf und Ab zu exerzieren, einen gleichmäßig konstanten, dennoch harmonisch-schönen und ausdrucksstarken Bewegungsfluss zu pflegen. Diese Qualität ist etwas Neues in der Ballettkunst, die an sich ja zumeist das Kindisch-Hektische bevorzugt.

Worauf der Engel starrt, außer auf uns, ist zunächst unklar. Sein Ausdruck in den Augen hat aber etwas Schelmisches, etwas Dämonisches, sogar etwas Teuflisches. Aber es ist auch ein scharfer Blick, unvernebelt, unberauscht, offenbar auf Erkenntnis aus. Die engelhafte Muse in der „Vielfältigkeit…“ ist ebenfalls nicht nur als sanft oder gütig oder nachsichtig zu empfinden. Sie ist auch furios, autonom, mitunter sogar hinterlistig – und sie begegnet ihrem Genius, dem Komponisten Bach, den sie bestens kennt, niemals untertänig, sondern mindestens auf Augenhöhe. Wenn nicht sogar mit der Geste der Diva!

Paul Klees Angelus hat zwar einerseits etwas Kindliches, auch Schelmisch-Trotziges, andererseits aber auch eine Geste der Entschiedenheit, des Ablehnens, des Sich-Verwahrens. Für Walter Benjamin stand angesichts einer so schillernd „anderen“ Darstellung eines Engels fest: „Der Engel der Geschichte muss so aussehen.“ Ein „Engel der Geschichte“! – Den gab es vor Benjamin noch nicht. Der Philosoph zwingt hier in diesem Begriff einen Sakralmythologie (Engel) und Geisteswissenschaft (Geschichte) zusammen. Die Macht der Unsterblichkeit, die Engel in der Mythologie haben, verlagert sich zu einem Schutzpatron der historischen Abläufe. Das passt auch auf die Muse in „Vielfältigkeit…“: Sie beschützt Bach, bewahrt dabei aber eine gewisse Distanz. Am Ende, als er auf dem Totenbett liegt, wandelt sie nahezu ungerührt und dennoch wie prophetisch beseelt von hinten rechts nach vorn links über die Bühne – ein diagonaler Wandelschritt, der dem Tanzabend die Weihe eines Rituals verleiht.

Allerdings ist schon der Beginn der „Vielfältigkeit…“ von Ritualanklängen geprägt. Arshak Ghalumyan tänzelt hier, vom ersten Moment an ergreifend, in ebenfalls diagonaler Bewegung, und zwar ebenfalls von rechts hinten nach links vorn kommend, wenn auch von der hinteren Bühnenmitte, nicht von der Außenecke, ausgehend.

Vielfältigkeit… ein gutes Thema für ein Bach-Ballett.

Arshak Ghalumyan (vorn mit pinkfarben gefütterntem Gewand im Anschlag) tanzt geschmeidig wichtige Passagen in der „Vielfältigkeit…“ Foto: Fernando Marcos

Ghalumyan – der den gesamten Abend über eine herausgehobene Stellung im Ensemble inne hat – verkörpert den Menschen an sich, der sich der Welt stellen muss und vielfältige Erfahrungen macht. Als erstes trifft er auf einen hölzernen Hocker, der als Sinnbild fürs praktisch-musikalische Arbeiten eine Rolle spielt. Sein Gestus in diesem Part ist akrobatisch-künstlerisch, er spielt eine Art Adam, einen Urmenschen, der für Bach und in Bachs Fantasie eine Identifikationsfigur darstellt. Die tänzerische Leistung von Arshak Ghalumyan ist absolut herausragend: mal geschmeidig, mal kantig, aber immer voll Verve und Energie zuckt und zappelt er, pirouettiert und biegt er sich. Mal wird er vom Ensemble getragen und fast gegen seinen Willen wie in einer Prozession in der Horizontalen präsentiert, mal hebt er, zusammen mit dem vielseitigen, groß gewachsenen Rishat Yulbarisov den im Barockanzug dagegen fast irdisch wirkenden Michael Banzhaf als Bach. Ein faszinierendes Trio – und doch stellen sie im Grunde vor allem die Einheit einer Seele dar, hier auf erster Deutungsebene die Künstlerseele des Komponisten Bachs.

Vielfältigkeit… ein gutes Thema für ein Bach-Ballett.

Nacho Duato, Chefchoreograf und Ballettintendant vom Staatsballett Berlin: „Vielfältigkeit…“ ist ein geniales Ballett über Künstlertum, Leben, Lieben und Sterben. Foto: freie Bearbeitung

Dass sich hierin aber auch die Künstlerseele von Nacho Duato enthüllt, ist letztlich nur logisch: Der Schöpfer eines Werkes steckt mit seinem Esprit immer auch in den Details seiner Schöpfung. Hier sind es einander widersprechende und sich dennoch deutlich gegenseitig stützende Mächte und Kräfte, deren Widerspiel die Power der Psyche ausmachen. Duato findet dafür fabelhafte, mitreißende Posen und Figuren, die einladen, seine Körpersprache sprechen bzw. verstehen und denken zu lernen. Insofern ist gerade dieses Ballett für Duato-Einsteiger besonders geeignet – und auch bei der mehrmaligen Ansicht immer wieder intensiv, mit immer neuen Einzelheiten aufwartend, die sich als anregend und deutungsreich erweisen. 

http://ballett-journal.de/staatsballett-berlin-vielfaeltigkeit-benjamin/

Johann Sebastian Bach starb zwar eines natürlichen Todes, aber infolge einer Operation. Man könnte sagen, dass er ein Opfer von Arztpfusch wurde – mit 66 Jahren, was für den Barock nicht mehr jung war. Foto: freie Bearbeitung

„Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ So geht Walter Benjamins Beschreibung des „Engels der Geschichte“ weiter. In den so genannten geschichtsphilosophischen Thesen im Essay „Über den Begriff der Geschichte“ wirkt diese geschilderte Aussicht wie eine Halluzination, wie eine Vision des Kriegsendes, das 1940, als der Text entstand, noch in weiter Ferne lag.

Vielfältigkeit… ein gutes Thema für ein Bach-Ballett.

Walter Benjamin, der Philosoph, starb, weil er befürchtete, ein zweites Mal in die Hände der Nazis zu fallen. Er war zu stark traumatisiert, um noch an Rettung glauben zu können. Foto: freie Bearbeitung

Benjamin war als Jude von den Nazis verfolgt worden und lebte in Paris im Exil. Durch die Besetzung Frankreichs musste er um sein Leben fürchten – drei Monate Haft in einem Internierungslager hatte er bereits hinter sich. Benjamin und weitere Intellektuelle flüchteten von Paris aus Richtung Spanien. Sie überquerten die französischen Alpen und landeten in einem kleinen spanischen Dorf. Da der Philosoph, der unter seiner unfreien Situation litt und zudem seit langem unglücklich in eine verheiratete Moskauer Schauspielerin verliebt war, in jener Zeit zu verschiedenen Vertrauten Selbstmordabsichten geäußert hatte, wird sein Tod allgemein als Suizid akzeptiert. Einer Fluchtgefährtin diktierte er sogar noch einen an Theodor W. Adorno gerichteten Abschiedsbrief. Dennoch gibt es auch Spekulationen darüber, dass Benjamin einer gewissen, politisch motivierten Desinformation zum Opfer fiel und sein Leben nicht wirklich freiwillig beendete. Er war so stark von seiner Haft bei den Nazis traumatisiert, dass er ihnen keinesfalls ein zweites Mal in die Hände fallen wollte. Die Angst, von den Dorfbewohnern an die Deutschen ausgeliefert zu werden, war so groß, dass er sich deshalb umbrachte: Er glaubte einem Gerücht, die Nazis seien bereits in der Gegend.

Sein „Engelsentwurf“ gilt als Krönung seines gesamten Werks; in diesen wenigen Zeilen kulminiert Benjamins geschichtlich resümierende Perspektive, die vom Leser, also vom Rezipienten ein Aktivwerden und eine Betätigung in der (nächstgelegenen) Zukunft verlangt, die er der Vergangenheit selbstredend aber absprechen muss, wenn sein Gedankengebilde funktionieren soll.

Vielfältigkeit… ein gutes Thema für ein Bach-Ballett.

Tapfer kämpft das Staatsballett Berlin auch nach der Vorstellung: Mit einem Transparent mit der Aufschrift „WIR TANZEN SPITZE! HAUSTARIFVERTRAG JETZT!“ Gemeint sind verbesserte Arbeitsbedingungen, die ver.di bereit ist, für die Tänzerinnen und Tänzer auszuhandeln. Foto: Gisela Sonnenburg

Vulgo: Die Menschen müssen handeln, wenn sie Subjekt und nicht nur Objekt der Geschichte werden wollen. Das Staatsballett Berlin beherzigt diese Devise übrigens ohnehin mustergültig, so auch mit seiner Transparent-Aktion am Ende der Vorstellung, mit der es tapfer darauf aufmerksam macht, dass arbeitsrechtlich für die Tänzerinnen und Tänzer in Berlin noch Einiges zu verbessern ist, und zwar mit der Gewerkschaft ver.di, die hier in ebenfalls mustergültiger Weise den Künstlerinnen und Künstlern Schützenhilfe gewährt.

Sowohl im Ballett „Vielfältigkeit…“ als auch in Walter Benjamins Beschreibung des „Engels der Geschichte“ spielt die Historie, die Kulturgeschichte, eine Rolle. So setzt sich Bach in seiner Musik mit den vorangegangenen musikalischen Fortschritten auseinander und entwickelt sie weiter, durch experimentelle ebenso wie durch nahezu mathematisch konstruierte Tonreihen. Nacho Duato hingegen zitiert Choreografen wie John Neumeier und Jiří Kylián, setzt sich aber auch in sehr eigenständiger Weise über diese hinweg. Denn Duatos Bewegungsfluss hat eine ganz eigene, keineswegs simple Ästhetik, die das Staatsballett Berlin, obwohl es diesen Stil erst seit einigen Monaten mit als Hauptaufgabe zu reproduzieren hat, in feinster Weise sichtbar macht.

Da bewegen sich die Körper mal wie eine organische Masse Mensch hin und her, bilden am Ende des ersten Teils „Vielfältigkeit“ sogar eine wandelnde Wand. Aber oft genug splittet sich aus dieser Menge auch ein einzelnes Wesen heraus, um sein Ringen um Lebenskraft und Lebensfreude auszudrücken. Besonders heitere Momente bieten stets die gemischten Paare bei Duato: Fröhlichkeit und Harmonie, Körperwitz und Zärtlichkeit, Gelassenheit und Innigkeit leben sie uns vor. Nur wenn man genau hinschaut, bemerkt man, dass diese Passagen auch technisch sehr anspruchsvoll sind, dass in rasant schnellen Tempi gehoben und abgesenkt, geglitten und retourniert wird. So elegant und vornehm tanzt das Staatsballett Berlin, dass man – anders als im oft aufs Staunen abzielenden klassischen Ballett – die hohen Schwierigkeitsgrade dieser Körperkunst oft gar nicht mitkriegt, wenn man nicht bewusst darauf achtet. Es steht nämlich der Ausdruck im Vordergrund: Der ist nie unterkühlt und roboterhaft, sondern stets gefühlvoll und anmutig.

Vielfältigkeit… ein gutes Thema für ein Bach-Ballett.

Bitte genussvoll die Augen schließen, dann aber hellwach sein: Miriam Wolff, ehrenamtliche ver.di-Helferin, informiert das Publikum mit Flugblättern vor der Vorstellung – und ver.di-Hündin Lotti hilft dabei nach Kräften. Foto: Gisela Sonnenburg

Insofern steht der Modernist Nacho Duato sogar in bester klassischer Tradition – auch wenn es vom Kammertanz zum großen Handlungsballett noch weitere Unterschiede gibt, die bislang hier nicht genannt wurden. Aufwändige Kostüm- und Kulissenwechsel entfallen beim Kammertanz typischerweise, und auch die Musik kommt öfter vom Tonband als beim Handlungsballett. Insgesamt handelt es sich zwar um keinen strengen Purismus, aber doch um die Konzentration auf das Wesentliche. Diese zieht sich wie ein roter Faden beim Kammertanz durch alle Elemente: Tanz, Tänzerzahl, Kostüme, Bühnenbild, auch Licht – das häufig insgesamt eher wenig Bühnenraum ausleuchtet und häufig viele dunkle Stellen oder eine fast düstere Stimmung belässt.

Die Konzentration aufs Wesentliche zählt auch bei Benjamins visionär begabtem Geschichtsengel. Allerdings muss er zurück in die Vergangenheit schauen, um uns zu vermitteln, was wir aus der Geschichte zu lernen haben:

„Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.“ Walter Benjamin stellt sich seinen Geschichtsengel als heilsam vor… „Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann.“ Das also ist das Geheimnis seiner ausgespannten Flügel! Es ist nicht nur eine unbestimmte Lässigkeit, sondern eine erzwungene Ruhe, die er bewahren muss. Weil ein Sturm ihn fesselt und seinen Tatendrang behindert. Im Klartext: Der Engel kann aufgrund seiner paradiesischen Herkunft nicht handeln. Also müssen wir, die Menschen, die Sterblichen, es tun!

Wenn man Tänzerinnen wie Krasina Pavlova und Guiliana Bottino, Ilenia Montagnoli und Xenia Wiest, Iana Balova und Weronika Frodyma, Elena Pris und Cécile Kaltenbach sieht oder auch Tänzer wie Federico Spallitta und Kévin Pouzou, Alexander Shpak und Alexander Abdukarimov – dann weiß man, dass Menschen etwas tun können, egal, ob sie sich dazu göttlichen Beistand suchen oder ob nicht.

TÄNZER MIT PROFIL IN EINER WELT AUS CHAOS

Bei Benjamin heißt es aber zudem noch weiter: „Dieser Sturm treibt ihn (den Engel der Geschichte, Anm.) unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.“ Das ist ein typisch Benjamin’scher Satz: Der Sturm, der aus dem Paradiese weht, treibt den Hüter der Geschichte vorwärts. Aber dieser Zukunft kehrt der Engel (der übrigens ein Mann oder auch eine Frau sein kann) den Rücken. Weil er ja uns, seine Vergangenheit, die in Trümmern liegt, anschaut. Er sieht aus dem Bild heraus auf uns. Und unser Müll türmt sich vor ihm „zum Himmel“ – Benjamin hat, obwohl damals von globaler Umweltverschmutzung noch gar nicht die Rede war, hier visionär die Probleme der Menschheitszukunft impliziert.

Chaos – das ist, was von uns bleibt, wenn wir nicht eingreifen und den Weg der Geschichte in eine andere Richtung lenken. Die Trümmerhaufen, die Benjamin uns nennt, gleichen aber nicht nur den Tonnen Sondermüll, die man heute im Blick hat, sondern natürlich auch – ohne jeden Anachronismus – den Versatzstücken, die uns zu erkennen bleiben. Als Walter Benjamin den Text verfasste, wurden in Auschwitz bereits Millionen Menschen wie am Fließband zu Tode gequält. Bekannt waren damals jedoch nur Bruchstücke des Genozids und Holocausts.

Obwohl der Dichter Erich Mühsam bereits 1934 im KZ Oranienburg starb und täglich Menschen aus der Mitte der Zivilisation heraus deportiert und in KZs und deren Außenlager verschleppt wurden, war auch 1940 nicht einmal den aufklärerischen Kräften der Résistance im Einzelnen alles bekannt, was in Deutschland und in den von den Deutschen besetzten Gebieten vor sich ging. Seit 1939 tobte zudem der Zweite Weltkrieg – und die Trümmer, die Benjamin meint, haben auch damit zu tun.

Vielfältigkeit… ein gutes Thema für ein Bach-Ballett.

Ein Pas de trois mit Finessen: Kämpfen und Ringen, Spielen und Gewinnen sind Themen der Tänze von Nacho Duato in „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Fernando Marcos

Doch dann schockiert er seine Leser mit einem letzten Satz in diesem Sinnbild vom Engel der Geschichte: „Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ Es ist typisch für Benjamin und Teil der Faszination, die er auf Intellektuelle ausübt, dass er in einer einzigen Pointe vermeintlich jede Möglichkeit der Ausdeutung seines zuvor Gesagten zunichte macht. Allerdings mag diese schlussendliche Negation auch mit seinen Suizidgedanken zu tun gehabt haben. Denn wenn der Sturm vom Paradies, der den Engel am Handeln hindert, das ist, was uns als Fortschritt erscheint, dann ist die Hoffnung auf eine Änderung des Gegebenen wirklich sehr gering.

Als Rettung für alle, die leben wollen, benennt Benjamin allerdings keine eindeutige Gleichung, laut der dieser Paradiesessturm der Fortschritt sei. Sondern er erscheint uns als solcher – und das ist ein großer Unterschied. Halten wir womöglich etwas für Fortschritt, das uns faktisch mehr behindert als uns voran zu bringen? Benjamin als Religions- und Zivilisationskritiker. Zudem stehen die Flügeln möglicherweise auch weniger für Handlung als vielmehr für Flucht. Da dem Engel der Geschichte aber die Flucht verwehrt ist (was auch seinen Schrecken in seinem Gesicht zusätzlich erklären würde), muss er handeln bzw. uns handeln lassen – und dadurch dem Fortschritt dienen.

Im zweiten Teil der „Vielfältigkeit…“ rauscht von Beginn an die Orgel – in nachgerade orgiastisch-paradiesischem Ausmaß. Dieser zweite Teil ist wie folgt benannt: „Formen von Stille und Leere“. Mit der Stille und der Leere ist aber keineswegs ein totes, steriles Vakuum gemeint. Sondern Einkehr und erneute Reduktion auf das Wesentliche – letztlich sogar der natürliche Tod. Bach beging keinen Suizid, sondern verstarb im Alter von 66 Jahren ein halbes Jahr nach einer Augenoperation, die misslungen war und deren Nachbehandlung einen allgemeinen körperlichen Verfall einläutete. Nun ist 66 Jahre im Barockzeitalter ein relativ hohes, relativ seltenes Menschenalter gewesen – dennoch könnte man Bach, den existierenden Dokumenten nach, als Opfer von Arztpfusch bezeichnen.

Vielfältigkeit… ein gutes Thema für ein Bach-Ballett.

Bach kann auf seinem Cello spielen – amüsant und ästhetisch in Nacho Duatos „Vielfältigkeit…“ Foto: Fernando Marcos

Im Ballett von Nacho Duato hat Bach vor seinem Tod genügend Zeit, mit seiner Muse, seiner Frau und seinen Fantasiegestalten das zu tun, was er für richtig hielt. Er konnte ein Orchester aus Körpern dirigieren, er konnte einen einzelnen Mädchenkörper wie ein Cello bespielen, er konnte allein und mit seinen „Geistern“ disputieren und sich ausleben.

Am Ende überleben seine Fantasien, also die Tänzerinnen und Tänzer, die für seine Musik stehen. Sie wandeln eine mit einem Schlängelpfad, der bergauf geht, versehene Konstruktion am Bühnengrund empor – und die Hauptmuse Bachs durchschreitet zeitgleich vor ihnen die Bühne mit der Weihe einer Göttin.

Das Leben des Komponisten Bach hat sich in seinem Werk erfüllt – und wir haben mannigfaltige Aufgaben zu erfüllen, um seinen Interpretationen gerecht zu werden und jene Werte umzusetzen, für die sie stehen. Das verdeutlicht der Kammertanzabend „Vielfältigkeit…“ mit sinnenhafter Kraft. Insofern ist Nacho Duato für diesen Kammertanz zu danken, wie überhaupt für seinen Einfall, zu Bachs Werken diese Künstlervita zu entwerfen – sie weist weit über sich hinaus. Und als Merkmal für Kammertanz kann man fortan getrost notieren: Intensität.
Gisela Sonnenburg

Wieder am 6., 22. und 29. Juni 2015 in der Komischen Oper, Berlin

Es gibt für diese Vorstellungen noch Karten. Das Hingehen lohnt sich unbedingt, auch mehrfach – man entdeckt jedes Mal neue Details! 

Noch mehr zum Stück lesen Sie bitte hier:

www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-vielfaeltigkeit/

www.staatsballett-berlin.de

 

 

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