Giselle im Krieg, Giselle im Frieden Tumult nach dem Rollendebüt der hervorragenden Haruka Sassa als „Giselle“ beim Staatsballett Berlin in der ehrenwerten Staatsoper Unter den Linden, wo heute Iana Salenko der Titel der Kammertänzerin verliehen wird

"Giselle" mit Tumult-Szenen

Immer wieder bezaubernd: Das ballet blanc in „Giselle“ von Patrice Bart beim Staatsballett Berlin. Leider nahmen gestern Abend nicht alle die positive Energie von der Bühne auf. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Normalerweise gilt ein deutsches Opernhaus als ein ruhiger Ort. Nur in Hannover, wo letztes Jahr der narzisstisch gekränkte Künstler Marco Goecke der Kritikerkollegin Wiebke Hüster von der FAZ bei einer Premiere den Kot seines Dackels ins Gesicht schmierte, musste man bislang vorsichtig sein. Doch jetzt steht fest: Auch in Berlin lösen sich die bisher geltenden Grenzen zwischen dem, was Gewalt ist und was nicht, einfach auf, zumal, wenn das Opfer der Presse zuzurechnen ist. Dabei war die Vorstellung von „Giselle“ am gestrigen Samstag fabelhaft. Es handelte sich um ein Debüt in der Titelpartie in der fachkundigen Inszenierung von Patrice Bart, die seit Jahren immer wieder ein Highlight im Spielplan vom Staatsballett Berlin (SBB) darstellt. Gestern also gab es eine neue Berliner Giselle: Die in den USA ausgebildete Japanerin Haruka Sassa, von Ballettintendant Christian Spuck als Erste Solistin nach Berlin verpflichtet, tanzte in der Staatsoper Unter den Linden erstmals diese „Giselle“ – und begeisterte mit makellosen kleinen und großen Sprüngen, die sie scheinbar in der Luft schweben ließen. Auch mit höchst anmutigen Ports de bras, mit schier unfasslich leicht ausgeführten Ronds de jambe en l’air im Sprung sowie dank mitreißender Mimik beeindruckte Sassa. Sie machte es einem nicht schwer, das Schicksal dieser so bedeutenden, über alle Maße  liebenden Ballettfigur Giselle zu erfassen. David Motta Soares war dazu ein bewegender, zuerst flirrend verführerischer, dann gebrochen reumütiger Liebhaber Albrecht an ihrer Seite. Das Corps de ballet vermochte es außerdem, wie stets in der Berliner „Giselle“, vollauf, in die romantischen Sphären des 19. Jahrhunderts zu entführen.

"Giselle" mit Tumult-Szenen

Haruka Sassa und David Motta Soares, gefeierte Stars vom Staatsballett Berlin, nach Sassas Debüt als „Giselle“. Foto vom Schussapplaus: Gisela Sonnenburg

So viel Glück, eine solche Vorstellung zu genießen! Dennoch entzündete sich unmittelbar nach der Vorstellung, und zwar während des Schlussapplauses, die offenbar aufgestaute Alltagswut einiger Senioren im Parkett, deren Herrschsucht unbegründet in Aggression und sogar in Schlägen sowie dann auch noch in vorübergehenden Handyraub mündete. Meine männliche Begleitung wurde von der alten Frau, die neben ihm saß, ohne jeden Grund mit der Faust im Gesicht getroffen – zum Glück nahm der Mann es gelassen. Aber die Streithähne ließen uns keine Ruhe: Weitere Übergriffe und Gepöbel peinigten uns. Hassten sie die Presse, als welche wir zu erkennen waren? Es war insofern eine Giselle im Krieg.

Ein Verfall der guten Sitten ist zu konstatieren. Womit hat Berlin das verdient? Wenn man Goeckes Auftritt letztes Jahr in Hannover bedenkt, stellt sich zudem die Frage: Werden gewalttätige Tumulte in Kulturstätten alltäglich? Oder war hier schlicht der Alkoholkonsum der Rentner schuld? Ist das etwa ein gelungener Auftakt zur Verleihung eines Ehrentitels an diesem Wochenende? Denn heute wird, direkt im Anschluss an die Nachmittagsvorstellung ab 16 Uhr von „Giselle“, die langjährige Berliner Primaballerina Iana Salenko in einem Festakt auf der Bühne der Staatsoper den Titel der Berliner Kammertänzerin erhalten. Bravo!

Aber auch gestern gab es viele Gründe für Bravos, vor allem an die Tanzenden.

"Giselle" mit Tumult-Szenen

Eine große Liebe wurde glaubhaft verkörpert: Haruka Sassa als „Giselle“ mit David Motta Soares als Albrecht nach der Debüt-Vorstellung gestern Abend. Foto vom Schussapplaus: Gisela Sonnenburg

Während zu den von Marius Stravinsky etwas derb dirigierten Walzer-Klängen der Staatskapelle Berlin, von Adolphe Adam 1841 in Paris komponiert, frohgemut und auch hoch dramatisch getanzt wurde, entspann sich tänzerisch eine Liebesgeschichte, die noch viele Jahrhunderte überdauern wird.

Die Story von „Giselle“ ist dabei keineswegs nur märchenhaft, sondern sie hat einen knallharten sozialen Hintergrund. Sie erzählt von der Liebe einer jungen Frau aus einem Winzerdorf zu einem Mann, der sie belügt. Er – namens Albrecht – behauptet Giselle gegenüber, aus dem Nachbardorf zu stammen. Aber er ist in Wahrheit von Adel und bereits mit einer anderen Adligen verlobt.

Trotzdem ist er in Giselle verliebt. Und er hat einen Nebenbuhler: Hilarion (stark in der Gestik, weniger stark in der Mimik: Cohen Aitchison-Dugas) begehrt die schöne Giselle ebenfalls. Albrechts Knappe namens Wilfried (durchaus überzeugend: Matthew Knight) ahnt Unheil und warnt seinen Herrn – umsonst.

Beschwingt und beseelt von der Aussicht, Giselle bald zu sehen, entledigt sich Albrecht seines Umhangs und seines Schwerts. Beides sind Zeichen des Adels. Sie werden später von Hilarion gefunden, und ab da weiß der Wildhüter dann Bescheid: Sein Nebenbuhler ist Albrecht, der Herzog.

"Giselle" mit Tumult-Szenen

Hier nehmen die Darsteller des Hilarion, der Giselle, des Albrecht und der Myrtha (von links) den Applaus entgegen. Rechts steht das Damen-Corps noch in der Wili-Pose  Das Staatsballett Berlin nach „Giselle“ gestern Abend. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Zunächst aber scherzt und flirtet dieser in kessem Tanz mit seiner Giselle, und die Soli der beiden sind ebenso superbe wie ihre Pas de deux. Weil das Winzerfest gefeiert wird, tanzen auch die Bauern lustig auf. Der von Marius Petipa gen Ende des 19. Jahrhunderts in Russland eingebrachte „Bauern-Pas-de-deux“ wird sogar besonders hübsch von den Newcomern Marina Duarte und Giovanni Princic dargeboten. Vor allem Duarte strotzt nur so vor Tanzfreude, weiß Eleganz mit Folklorestolz zu verbinden. Man darf gespannt sein, wie sie sich tänzerisch entwickeln wird.

Doch Giselle muss bald erkennen, dass ihr Geliebter schon einer anderen gehört – und sie selbst aufgrund der sozialen Schranken keine Chance hat. Sie wird spektakulär wahnsinnig, tanzt mit offenen, zerzausten Haaren und stirbt vor aller Augen in Albrechts Armen. Ihre Mutter, sehr hellsichtig-sorgsam von Weronika Frodyma getanzt, trauert um sie, gemeinsam mit der ganzen Dorfgemeinschaft. Weil Giselle schon zuvor an Herzproblemen litt, hat ihre Mutter den frühen Tod der Tochter geahnt. Und auch das spezielle Schicksal verführter, sitzen gelassener und früh verstorbener Mädchen hat Berthe, also Giselles Mutter, erahnt.

"Giselle" mit Tumult-Szenen

Viel Applaus für die Künstler, auch für den Dirigenten Marius Stravinsky (mittig). Schlussapplaus-Foto aus der Staatsoper Unter den Linden: Gisela Sonnenburg

Nach der Pause geht es genau mit diesem Schicksalsstrang in Giselles Dasein weiter. Sie wurde nicht auf dem Friedhof begraben, sondern im Wald. Das deutet darauf hin, dass man nach ihrem Tod eine uneheliche Schwangerschaft bei ihr entdeckte. Denn außerhalb der Friedhofsmauern wurden nach altem christlichen Brauch damals nur Suizidopfer, Verbrecher, Henker und Prostituierte begraben – und die drei ersten Kategorien treffen auf Giselle mit Sicherheit nicht zu. Nun war sie auch keine Nutte, aber eben unehelich schwanger, und Mitte des 19. Jahrhunderts ging man dann automatisch von Prostitution aus.

Das Stück spielt ja im Elsass, im Grenzgebiet von Deutschland und Frankreich. Der Komponist Adolphe Adam stammte von dort, kannte sich aus in den Gebräuchen und Melodien, die die Weinberge erfüllten. Man hört das Vergnügen an ländlichem Tanz, an ausgelassener Stimmung, an dem, was man heute „Party“ nennen würde und was doch etwas ganz anderes ist, wenn es im Ballett hoch stilisiert und ebenso ästhetisch daher kommt. Giselle im Frieden ist doch eine feine Sache!

"Giselle" mit Tumult-Szenen

Haruka Sassa mit ihrem Bühnen-Partner David Motta Soares nach ihrem „Giselle“-Debüt in Berlin. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Haruka Sassa verkörpert zudem eine mitreißend anmutige, von allen Seiten sehenswerte und begehrenswerte Giselle. Ihre Verliebtheit scheint schon lange vor ihrem Herztod fast zuviel für sie zu sein: Ein einziges großes Gefühl vermag dieses Persönchen zu zerstören, weil es auf Betrug basierte.

David Motta Soares tanzte nun schon einige Male den Berliner Albrecht, und er wächst in die Rolle immer stärker hinein. Die Entrücktheit im zweiten Akt, als er reumütig das Grab Giselles im Wald besucht, liegt ihm besonders. Edelmütig und hingebungsvoll tanzt er um sein Leben, als es ihm die Königin der Wilis, Myrtha – kühl und gnadenlos getanzt von Vera Segova – befiehlt.

Ohne die Liebe von Giselle wäre er dem Tode geweiht, wie Hilarion, der den Wilis, also den wilden weißen Geisterfrauen, nicht entkommen kann.

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Der Mythos der Wilis ist von Heinrich Heine überliefert, der sie im slawischen Raum ansiedelt. Junge Frauen, die verführt und verstoßen wurden und dann früh starben, versammeln sich demnach als Geister im Wald und in der freien Natur. Sie lauern im Trupp den Männern auf – und gerät einer von ihnen in ihre weiblichen Fänge, gibt es kein Erbarmen mehr. Egal, wer er ist, er wird in den Erschöpfungstod gehetzt, unter Myrthas Kommando – und dass eine Untote wie Giselle auf Rache am untreuen Liebsten verzichtet und ihn statt dessen retten will, ist selten.

Doch genau diesem Umstand verdanken wir einige der erlesensten Paartänze der Romantik und des Balletts überhaupt. Giselle als Geist wird von Albrecht erst nicht gesehen, aber gefühlt – und dann als Partnerin akzeptiert. Er hebt sie, dreht sie, führt sie mit jenem standhaften Sinn, den Albrecht im ersten Akt nur vortäuschte. Jetzt aber, bei Nacht im nebligen Wald, liebt er seine Giselle wirklich. Jede Sekunde kosten die beiden miteinander aus, wohl wissend, dass dieses überirdische Glück nicht lange dauern wird.

"Giselle" mit Tumult-Szenen

Noch eine große Verbeugung vorm Publikum, auf dass es sich bessere: nach „Giselle“ beim Staatsballett Berlin. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Der Corpstanz der Wilis berückt und verströmt allen Zauber, den ein ballet blanc, ein „weißes Ballett“, nur haben kann. Anders als in „Schwanensee“ oder „La Bayadère“ handelt es sich hier um romantische, nicht um klassische Ballerinen. Sie sind also noch empfindsamer im Ausdruck als jene, tragen kein Teller-Tutu, sondern locker um die Waden wehende weiße Tüllröcke, und sie hypnotisieren das Publikum beinahe mit ihrem synchron und harmonisch dargebotenem Gruppentanz.

Marina Kanno – auch sie eine Japanerin und schon seit 2007 das Staatsballett Berlin bereichernd – ist als Wili-Novizin Zulmé besonders hervorzuheben. Es ist sagenhaft, welche Perfektion und Poesie sie in ihren Bewegungen als Wili zu vereinen weiß. Elegische Formen beherrscht sie ebenso vorzüglich wie exaltierte Posen, die sehr konzis getanzt werden müssen. Dabei zeigt sie passioniert auch jenen zarten Ausdruck von Weltschmerz und Sehnsucht, der im Ballett so oft sinnstiftend ist. Brava!

Es ist eigentlich kaum zu fassen, dass so viel Zauber auf der Bühne im Zuschauerraum nicht zur vollendeten Harmonie führt. Aber tatsächlich: Nachdem Albrecht es dank Giselles Unterstützung geschafft hat, bis zum Glockenschlag, der die Geisterstunde beendet, tanzend zu überleben – oft nah am endgültigen Zusammenbruch – zeigten sich im Publikum die beschriebenen Dissonanzen.

Dass die Aufseherinnen nicht durchblickten oder auch aus Bequemlichkeit für die Täter statt für die  Opfer Partei ergriffen, ist kein Ruhmeszeugnis für die Staatsoper Unter den Linden.

Wichtiger als die Kleiderordnung sollte es dort sein, Hooligans zur Ordnung zu rufen, auch wenn sie nicht aussehen wie jene im Fußballstadion, sondern aus altersstarrsinnigen Senioren bestehen.

"Giselle" beim Staatsballett Berlin

Applaus und teilweise stehende Ovationen auch vorm Vorhang: Iana Salenko und Daniil Simkin vor einigen Jahren nach „Giselle“ , die damals in der Deutschen Oper Berlin getanzt wurde. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Hoffen wir, dass künftig die Magie des klassischen Tanzes stärker auch auf diese Bereiche des Personals übergreift. Zum Beispiel heute am Nachmittag, wenn ab 16 Uhr die Primaballerina Iana Salenko die „Giselle“ tanzt.

Salenko ist schon seit vielen Jahren eine Hausnummer in dieser Rolle, seit 2014 tanzt sie sie praktisch nur von Pausen unterbrochen in Berlin. Auch die Zeit im Schiller Theater, als die Staatsoper dorthin während der Sanierung des großen Hauses ausgelagert war, hat sie Berlins Ballettfans mit ihrer Giselle-Interpretation, die betont rührselig ist, versüßt.

Oft tanzte sie die Partie mit Dinu Tamazlacaru als Albrecht, der mittlerweile aus dem SBBausgeschieden ist. Ihr Partner heute ist Kalle Wigle, der in Stockholm und an der Royal Ballet School in London ausgebildet wurde. Zu London hat Salenko, weil sie oft dort als Prima auftritt, eine besondere Beziehung, sie kennt, liebt und beherrscht den sehr verspielten klassischen Ballettstil in England.

Waltz und Öhman und ihr neues Programm

Was für ein Flair war das schon damals! Iana Salenko und Dinu Tamazlacaru nach einer „Giselle“-Vorstellung mit dem Staatsballett Berlin im Schiller Theater in Berlin. Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Heute wird sie im Anschluss an die Vorstellung feierlich auf der Bühne die Ehrung als Berliner Kammertänzerin entgegen nehmen, die man ihr wirklich auch schon vor zehn Jahren gegönnt hätte. Ihr Gatte Marian Walter, mittlerweile nicht mehr Teil vom SBB, hat den Titel als Kammertänzer vom Berliner Senat noch vor ihr bekommen; auch Polina Semionova, Berlins weiblicher Weltstar aus Russland, ist längst eine Berliner Kammertänzerin. Jetzt also auch Salenko, und das wird ihr Glück – das auch familiär mit drei wohl geratenen Söhnen ein großes ist – noch weiter mehren.

Da anzunehmen ist, dass die aggressive Rentnercombo von gestern Abend heute am Nachmittag eher nicht in der Staatsoper herumlungert, sei es uneingeschränkt empfohlen, in die Vorstellung mit La Salenko zu kommen.

Herzliche Glückwünsche auch vom Ballett-Journal an die zierliche Ballerina, die sich früher auch mal Ratschläge und interne Kritik von unserer Wenigkeit einholte. Für alle anderen gilt: Macht das Beste draus, meine Lieben, und freut euch mit der Sternentänzerin, die bald eine frisch gebackene Kammertänzerin sein wird!
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

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