Londoner Geburtstagsshow „Manon“ von Kenneth MacMillan wird 50 und Antoinette Sibley 85 Jahre alt – Fumi Kaneko und Vadim Muntagirov tanzten ihr zu Ehren beim Londoner Royal Ballet

"Manon" von Kenneth MacMillan wird 50

Beste Stimmung im Covent Garden nach knapp drei Stunden mit „Manon“ von Kenneth MacMillan. Foto: Franka Maria Selz

Nicht nur John Neumeier ist jetzt 85 Jahre alt, sondern auch Antoinette Sibley, die eine Muse des Choreografen Kenneth MacMillan und vor 50 Jahren auch die erste „Manon“ in MacMillans gleichnamigem Ballett war. Gestern Abend, an ihrem Jubiläumsgeburtstag, war sie als Ehrengast im Londoner Covent Garden wieder mit auf der Bühne: beim Schlussapplaus, zusammen mit den Stars und dem Ensemble vom Royal Ballet, das mit Fumi Kaneko in der Titelrolle eine fabelhafte Vorstellung mit „Manon“ abgeliefert hatte. Koen Kessels dirigierte mit viel Fingerspitzengefühl die opulente Musik von Jules Massenet, die 2011 von Martin Yates neu orchestriert wurde. Und mit Superstar Vadim Muntagirov als Des Grieux an ihrer Seite gab Fumi Kaneko eine bewunderungswürdige, seelenvolle Manon ab, die erst in ihrer Unschuld, dann in ihrer großen Liebe und schließlich in ihrem Überlebenskampf zu Tränen rührte.

Von ihrem ersten Erscheinen auf der Bühne als junges Mädchen, das ins Kloster geschickt werden soll, bis zu ihrem berühmten Schlafzimmer-Pas-deux mit dem Geliebten Des Grieux; von den wilden Szenen mit Kurtisanen und Freiern bis hin zum letzten Tanz kurz vorm Erschöpfungstod in den Sümpfen von Louisiana: Manon ist eine hoch erotische Figur, an der nicht jede Primaballerina nur Freude findet. Denn die Partie ist technisch anspruchsvoll und verlangt zugleich nach jener herzensgütigen Ausstrahlung, die im Ballett identitätsstiftend ist.

Auf in ein neues Ballettjahr!

In der Rolle der „Manon“ weltberühmt: die irische Primaballerina Melissa Hamilton, hier in ihrer Paraderolle beim Semperoper Ballett in Dresden 2015. Foto: Ian Whalen

Eine emotional zu kühle Manon wäre keine Manon, und eine nur auf Sexiness setzende Manon wäre ein Flittchen, keine bis in den Tod aufrecht Liebende. Dennoch ist die Hingabe an Freier für Geld und Geschmeide für Manon kein Dilemma, auch wenn sie später von einem Aufseher sexuell gedemütigt und schlimm genötigt wird. Sie leidet darunter sehr, auch wenn ihr Naturell ursprünglich lebenslustig und leichtlebig ist. Ihren selbst gewählten Lebenspartner aber liebt sie innig, über alle Unbill hinweg.

Diesen Spagat zu tanzen, erfordert eine ernsthafte, Körper, Geist und Seele gleichermaßen fordernde Beschäftigung mit der Rolle. Beim Royal Ballet beschäftigt man, damit das klappt, eine ganze Reihe von hervorragenden Coachs, die den Darstellerinnen der Manon dabei helfen, mit der Rolle eins zu werden. Eine von ihnen ist Leanne Benjamin, eine andere ist Alessandra Ferri (die kommende Ballettdirektorin vom Wiener Staatsballett) und eine weitere Zenaida Yanowsky.

Sie, allesamt ehemalige „Manon“-Tänzerinnen und Starballerinen dazu, geben ihr Wissen und ihre Erfahrung an die jüngeren Ballerinen weiter.

Lesen Sie hier, was nicht in BILD und SPIEGEL steht. Und spenden Sie bitte! Journalismus ist harte Arbeit, und das Ballett-Journal ist ein tapferes Projekt ohne regelmäßige Einnahmen.  Wir danken es Ihnen von Herzen und versprechen, weiterhin tüchtig zu sein!

So auch an Melissa Hamilton, die bereits eine weltweit berühmte Manon ist und am 5. März 24 im Covent Garden an der Seite von Calvin Richardson als Manon auftreten wird. Dass sie in einigen zurückliegenden Vorstellungen eine der Kurtisanen in „Manon“ tanzte, mag für nachdenkliche Szenenapplaus und auch für neue Interpretationsansätze gesorgt haben. Denn es ist ja so: Wäre Manon keine exponierte Luxushure geworden, hätte sie vielleicht länger überlebt. Gestern Abend aber stellte sich diese Frage nicht.

"Manon" von Kenneth MacMillan wird 50

Fumi Kaneko beim Schlussapplaus nach „Manon“ im typischen Flucht-Outfit von Manon. Foto aus London: Franka Maria Selz

Die gestrige Manon hat ihre eigenen Qualitäten:

Fumi Kaneko, gebürtige Japanerin, gehört seit 2011 zum Royal Ballet, seit jenem Jahr also, als Martin Yates die Partitur überarbeitete und sie auch selbst auch auf Gastspielen bis in die USA und Russland dirigierte. Von den fröhlichen Rollen wie Swanhilda in „Coppélia“ arbeitete Kaneko sich über die Kitri in „Don Quixote“ langsam zu den tragischen Partien wie der Doppelrolle Odette / Odile in „Schwanensee“ und der Julia in „Romeo und Julia“ vor. Ihre anmutige Erscheinung erhellt jede Bühne. Und als Manon gleitet sie schicksalhaft von Szene zu Szene, rutscht unwillkürlich in die tragischen Verwicklungen, denen sie schließlich geopfert wird.

Ihr Bühnenpartner Vadim Muntagirov kam über ein Stipendium des Prix de Lausanneaus Russland nach London, und er avancierte nach seinem Abschluss sofort zum Starsolisten: erst beim English National Ballet, dann im Covent Garden. Anthony Dowell, der erste Des Grieux in „Manon“, arbeitete an mehreren Rollen mit ihm. Vadims tänzerischer Vortrag ist zweifellos elegant bis erhaben, seine Rollendarstellung zeigt viele Facetten und vermag besonders das Melancholische in die Schönheit hineinzutragen. Sanft-mysteriös ist sein loyal der Liebe ergebener Des Grieux, der es nicht fassen kann, dass er das große Glück immenser Verliebtheit mit ebenso heftigem Verlustschmerz bezahlen muss.

"Manon" von Kenneth MacMillan wird 50

Mit Blumen geehrt: Vadim Muntagirov als Des Grieux nach „Manon“ am 27.02.24 in London im Covent Garden. Foto: Franka Maria Selz

Und noch ein Ballerino fiel gestern Abend auf: Joseph Sissens als der Bruder von Manon, der mit seinem diabolischen Tanz als Betrunkener einen ausgelassenen Höhepunkt des Stücks markiert. Traumhafte Sprünge und eine vitale Ausstrahlung prädestinieren diesen Tänzer zum Star. Seit 2016 ist der in Cambridge geborene dunkelhäutige Brite Mitglied beim Royal Ballet, seit 2022 als First Soloist. Seine Rolle gestern, nur mit dem Nachnamen Lescaut benannt, illustriert Sissens schonungslos: Er zeigt sowohl Lescauts fürsorgliche Ader als auch die fiese Rücksichtslosigkeit eines Bruders, der seine hübsche Schwester bedenkenlos an Freier verkauft, aber schließlich auch selbst Opfer und erschossen wird.

Die junge, aus Armut zur Luxuskurtisane werdende Manon Lescaut und der ebenfalls lebensunerfahrene Chevalier Des Grieux, der eigentlich studieren soll, statt dessen aber mit seiner Herzensdame abtaucht und ihr sogar in die Strafkolonie folgt, in die sie als erwischte Nutte verbannt wird, bilden eines der großen Paare in der Ballettgeschichte. Sie sind Abenteurer, alle beide – und keine romantisch verbrämten Kleinbürger. Ihre Liebe ist unbedingt und gilt ihnen als Entschädigung für alles, was die Gesellschaft ihnen sonst versagt hat.

"Manon" von Kenneth MacMillan wird 50

Ein Paar mit besonderem Flair: Fumi Kaneko und Vadim Muntagirov beim Schlussapplaus nach „Manon“ beim Royal Ballet London. Foto: Franka Maria Selz

Für den Tanz ist dieses Pärchen wie maßgeschneidert, und Kenneth MacMillan, einer von zwei großen Meister der Choreografie in Großbritannien (der zweite ist Frederick Ashton), vermochte es wiederum dafür wie maßgeschneidert die Schritte zu finden. Nicht umsonst wurde das Ballett eine Legende, und die wirbelnden Pas de deux darin, durchsetzt von elegant-leidenschaftlichen Posen, gehören mit zum Allerfeinsten der Ballettgeschichte.

Am 7. März 1974 fegte „Manon“ in der prunkvollen Ausstattung von Nicholas Georgiadiserstmals über die Bühne – und war auf Anhieb ein Erfolg. Fast drei Stunden lang erlebt man cineastische Welten, musikalisch ebenso wie auf der Bühne. Die Kostüme und das Bühnenbild wagte noch kein Ballettchef je zu verändern, zu gut passen sie zur Geschichte und zu berühmt wurden die verschiedenen Protagonisten bereits in diesen Outfits.

Luxus und Lebensfreude als Ausbruch aus der bürgerlichen Welt, was schließlich über den sozialen Abstieg bis in den Tod führt: mit dieser Biografie tanzt sich Manon jedes Mal erneut in die Herzen der Zuschauer.

"Manon" von Kenneth MacMillan wird 50

Noch einmal, weil es so schön ist: Fumi Kaneko und Vadim Muntagirov beim Applaus vorm Vorhang im Covent Garden in London. Foto: Franka Maria Selz

Die Liebe zwischen Manon und Des Grieux, der ihr treu folgt und sie auf ihren  letzten Atemzügen begleitet, wurde damit maßgeblich nicht nur in der Literatur – der französische Schriftsteller Abbé Prévost erfand sie in seinem Roman – sondern eben auch im abendländischen Tanz. Das war gestern Abend wieder zu genießen, und das Stück wirkt nach wie vor so frisch wie am ersten Tag.

Dass Antoinette Sibley, die erste Manon auf der Ballettbühne, gestern anwesend war, was Ballettchef Kevin O’Hare auch vorab ankündigte, machte die Vorstellung nochmals zu einer besonderen. Sibley begann – wie Fumi Kaneko – einst ihre Karriere beim Royal Ballet als eine der Freundinnen und dann als Swanhilda in „Coppélia“. Ninette de Valois, die große Talententdeckerin, die auch John Neumeier in London förderte, gab Sibley 1959 die erste Hauptrolle, eben die der Swanhilda. Schließlich arbeitete die ehrwürdige Tamara Karsawina, der einstige Star der Ballets Russes von Serge Diaghilev, mit Antoinette Sibley an deren Technik.

Frederick Ashton entdeckte dann, dass Sibleys weiblich-lyrisches Flair phänomenal gut zum männlich-lyrischen Anthony Dowell passte. 1964 reüssierten sie denn auch in der Uraufführung von Ashtons Shakespeare-Vertanzung „The Dream“. Zehn Jahre später nutzte auch Kenneth MacMillan die fantastische Wirkung dieses Paares für seine „Manon“, wobei dieses Stück in diesem Jahr runde fünfzig Jahre alt wird.

"Manon" von Kenneth MacMillan wird 50

Herzlicher Applaus für die Grande Dame Antoinette Sibley, die erste „Manon“ im Ballett, hier mit  Joseph Sissens, der virtuos den Lescaut tanzt. Foto aus London: Franka Maria Selz

Sibley aber stand, mittlerweile eine reizende ältere Dame, für den Applaus am Schluss gestern nochmals mit auf der Bühne, punktgenau an ihrem 85. Geburtstag, am Arm von Joseph Sissens.

Zu dieser Jubiläumsvorstellung für Antoinette Sibley passt, dass auch unsere Mitarbeiterin Franka Maria Selz gestern Geburtstag hatte:

HAPPY BIRTHDAY FOR MANON, ANTOINETTE AND FRANKA MARIA! 

Und wer es schafft, sich noch eine der kommenden Vorstellungen in London anzusehen, macht gewiss nichts falsch.
Gisela Sonnenburg / Franka Maria Selz

Tickets für die Vorstellungen bis zum 8. März 24 in London:

https://www.roh.org.uk/tickets-and-events/manon-by-kenneth-macmillan-details

ballett journal