Seelentanz gegen den Krieg Die „Odyssee“ von John Neumeier ist beim Hamburg Ballett eine elegante Abrechnung mit dem Krieg und seiner übersteigerten Männlichkeit

Die "Odyssee" von John Neumeier beim Hamburg Ballett ist topaktuell

Odysseus, überwältigend getanzt von Alexandr Trusch, ist der Mann aller Männer und zugleich ein moderner Kouros: in der „Odyssee“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Was da leise klirrt und scheppert, ist keineswegs ein Musikinstrument aus dem Orchestergraben. Es ist eine der Soldatenmarken von Odysseus, die er am Hals auf  dem nackten Oberkörper trägt, als wär‘s ein Macho-Kettchen. In John Neumeiers grandioser Version von der „Odyssee“, die nach dem antiken Epos von Homer entstand und 1995 in Athen uraufgeführt wurde, ist Odysseus ein ziemlich heutiger Zeitgenosse, der unfreiwillig in den Krieg zog und dadurch seine innere Ruhe verlor. Hin- und hergerissen zwischen schönen Frauen in der Fremde und dem Verlangen nach der Heimat Ithaka nebst Frau und Kind, weiß dieser Odysseus nicht, wie er sich gegen die immer wieder aufflammende brachiale Gewalt in seiner Umgebung – wo auch immer er sich gerade befindet – zur Wehr setzen soll. Alexandr Trusch in der Premierenbesetzung leidet so mitreißend und ästhetisch an der Zersetzung der Kultur durch Krieg, dass er zu einem tänzerischen Mahnmal für den Frieden avanciert.

Immer wieder hat Neumeiers Odysseus Flashbacks, kommt aus der Zwangsrolle des Militärs nicht heraus. Dabei sieht zu Beginn alles so friedlich aus: Odysseus als Zivilist, im weißen Sommeranzug mit Strohhut und gelassener Miene, radelt über die Bühne, sein Sohn Telemachos auf dem Kinderfahrrad hinterher.

Im Hintergrund gehen erhabene Wesen in Weiß, die keine Ärzte, sondern andere weiße Götter sind, auf die Galerie: Es ist der Pantheon der Antike.

Die Gottheiten, der Langeweile der Unsterblichkeit treu ergeben, bewegen sich wie in Zeitlupe. Sie sehen sich die irdischen Geschehnisse als Video-Liveschaltung auf einem Bildschirm an, während sie Götternektar aus Sektkelchen schlürfen. So könnte man auch Wagners „Ring“ interpretieren.

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Laura Cazzaniga als Geist von Odysseus‘ Mutter und Alexandr Trusch als Odysseus, so zu sehen in der „Odyssee“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Wenn später auf dem Bühnenmonitor nicht mehr nur Odysseus und sein Treiben, sondern auch aktuelle Kriegsbilder aus der Ukraine und aus Gaza zu sehen sind, wird deutlich, dass John Neumeier ein Choreograf der Gegenwart ist und kein Historiker, der seine eigenen Werke museumsreif pflegt.

Für die Figur des Odysseus, einst kreiert von Ivan Liska, fand Neumeier allerdings eine Pose, die auf hervorragend museale Kunst, nämlich auf antike Statuen referiert: Der so genannte Kouros zeigt stets einen meist nackten stehenden Jüngling, der den linken Fuß einen kleinen Schritt vorgestellt und die Hände neben dem Körper locker zu Fäusten geballt hat. Von dieser Position aus beginnt Odysseus all seine Soli, und mal hebt er aus dieser Haltung heraus beschwörend die Arme, mal wedelt er mit dem Arm, als wolle er damit voranrudern.

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Die in sich gefangene Energie, die Neumeier damit zum Ausdruck bringt, zeigt zugleich die Kraft und Mächtigkeit von Odysseus, aber auch seine Ohnmacht und Hilflosigkeit, sich gegen sein Schicksal, gegen den Krieg zu verwahren.

Und so frisst das Bild von übersteigerter Männlichkeit, das anscheinend zwangsläufig in den Krieg führt, die Seele des schönen Mannes, dem niemand – auch seine geliebten Frauen nicht – helfen kann.

Dabei versucht er, der alle zur Verführung reizt, den Anstand zu wahren. Nicht aus formal-moralischen Gründen, sondern weil es ihm ein Bedürfnis ist. Odysseus lebt mit natürlicher Kraft, mit naturgemäßen Empfindungen, das wird deutlich.

Das Meer, auch diese Naturgewalt ist hier weiblich, nimmt ihn denn auch auf wie einen, der in diesem Element zuhause ist.

Yun-Su Park als stilisierte hohe See in Person ist der heimliche Star der Aufführung:

Als Verkörperung des Meeres in einer blausamtenen Robe schreitet sie so majestätisch und in perfekt schräg gestellter Körperlinie über die Bühne – mal  mit, mal ohne weibliches Gefolge – dass man ihr automatisch huldigen möchte. Und dabei wirkt sie keine Sekunde arrogant.

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Alexandr Trusch als Odysseus, Yun-Su Park (links) und das Ensemble als Meer: John Neumeier schuf ein neues Naturverständnis in der „Odyssee“. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Kein Wunder, dass sich Odysseus ihr anvertraut. Aber er hat wohl auch keine andere Wahl: Seine Gefährten und er erleiden immer wieder Schiffbruch, werden in fremden Gefilden an Land gespült. Und überall erwartet ihn eine so machtvolle wie schöne Herzensfrau…

Doch bei keiner bleibt Odysseus dauerhaft.

Seine Gattin Penelope, die wie er clever und listenreich ist, muss er verlassen, um sich als Held zu beweisen. Charlotte Larzelere zeigt als Penelope den Kampf der alleinstehenden Mutter gegen ihre gierigen Freier, die durch eine Ehe mit ihr Odysseus als Herrscher der Insel Ithaka ersetzen wollen. Sie tanzt dies mit großer Entschiedenheit und auch Eleganz, was im Kontrast zu den verlotterten und verlogenen Freiern steht.

Es sind elf Freier und zwölf Götter bei Neumeier; Terpsichore, die Göttin des Tanzes, ist nicht dabei, aber ganz am Ende wird genau deren Schutzbereich obsiegen. Da tanzen dann die Götter mit den Menschen – eine utopische Nächstenliebe auf Zeit. Oder beginnt so doch der Weltfrieden?

Insgesamt ist die „Odyssee“ ein inniger Seelentanz gegen den Krieg. Und die schamanischen Kräfte des Tanzes berechtigen zu der Hoffnung, der Krieg möge jemals ganz aufhören.

Generell aber ist die Prognose düster.

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Charlotte Larzelere als ausdrucksstarke Penelope in der „Odyssee“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Penelope trägt denn auch stets Schwarz, denn Odysseus wurde gerüchteweise fast für tot erklärt. Nur das Weben eines Leichentuchs für den siechen, alten Schwiegervater Laertes rettet sie noch vor der erzwungenen Neuverheiratung: Penelope behauptet, sie würde sich einen zweiten Mann erwählen, sowie sie das Leichentuch vollendet habe. Nachts aber räufelt sie wieder alles auf, was sie tagsüber gewebt hat, um gerade eben nicht fertig zu werden. Diese List sichert ihr die Freiheit und auch die Treue zu ihrer Liebe Odysseus.

Neumeier hat den roten Faden, der das hier ebenfalls tiefrote Leichentuch komplettieren soll, zum tänzerischen Schicksalsfaden der Nornen erklärt.

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Ida Stempelmann und, unter dem roten Tuch, Charlotte Larzelere: In der „Odyssee“ sind sie Dienerin und Herrin. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Die Tänzerin Ida Stempelmann und fünf weitere junge Damen umgarnen Penelope nicht nur damit, sondern helfen ihr auch mit dem Geschnüre. Aber eine wird sie verraten, zumindest ist es in der altgriechischen Sage so.

Parallel läuft die Geschichte der Irrfahrten des Odysseus. Er pflügt durchs Meer – und landet bei einer Schönheit, die ihn schon sehnsüchtig erwartet.

Kalypso, deren Name „die Verhüllerin“ bedeutet, wird von Olivia Betteridge getanzt. Sie ist eine bildhübsche Nymphe, die John Neumeier in Jeans und schwarzem Spaghetti-Hemdchen, dazu mit Sonnenbrille auf die Bühne stellt. In Spitzenschuhen zum lässigen Outfit verführt sie Odysseus und lagert sich mit ihm auf dem breiten hölzernen Steg, der in den Publikumssaal hinein gebaut ist und bis in die vierte Parkettreihe reicht.

Es wird Zeit, die außergewöhnliche Ausstattung zu würdigen: Yannis Kokkos schuf originelle, oft sehenswert bunte Kostüme von hohem modischen Wert, die im Kontrast zu den ebenfalls zu sehenden schlichten weißen Hemden und eben der einfachen Jeans von Kalypso stehen.

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Madoka Sugai und Alexandr Trusch als Kirke und Odysseus beim Hamburg Ballett: schön und nicht gerade keusch… Foto: Kiran West

Kirke, die Zauberin, die Odysseus als nächstes zu einem Liebesakt verführt, trägt hingegen eng anliegende Regenbogenfarben: Madoka Sugai tanzt die charmant-gewitzte Schönheit darin supersexy und mit nachgerade göttlicher Geschmeidigkeit.

Die Gefährten von Odysseus verwandelt sie übrigens in Schweine, was die Tänzer nur durch lautes Grunzen bereits plausibel machen können. Die Verwandelten erhalten im Reich der von Kopf bis Fuß erotisch gestimmten Kirke zur Entschädigung liebesbereite Partnerinnen.

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Alexandr Trusch als Odysseus und Eleanor Broughton als Nausikaa in der „Odyssee“ von John Neumeier. Berückend! Foto: Kiran West

Die dritte Verführerin ist ein unschuldiges Ding namens Nausikaa, deren reicher Vater sie glatt mit Odysseus vermählen würde. Sie erblickt den gestrandeten und schlafenden Odysseus nackt – und verknallt sich sofort in ihn.

Doch Odysseus lehnt alles ab: Die Unsterblichkeit, die ihm Kalypso verheißt, wenn er bei ihr bleibt; die Magie, die Kirke inne hat und mit ihm teilen will; und auch die Hand der süßen reichen Nausikaa, die von Eleanor Broughton mit blondem Pferdeschwanz und naiv-entzückendem Lächeln wirklich sehr toll dargestellt und getanzt wird. Was für eine innere Helligkeit strahlt sie beim Tanzen aus, was für eine Hingabe!

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Louis Musin als Telemachos in der „Odyssee“ von John Neumeier: ein Jungmann im Höhenflug. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Odysseus aber trägt Penelope, Telemachos und seine Heimat im Herzen – davon lässt er sich nicht abbringen. Allerdings gerät er zwischen seinen halben Liebesgeschichten immer wieder in kriegerisches Geschehen, steigert darin sogar seine Grausamkeit, tötet nicht nur gegnerische Soldaten, sondern bald auch zivile Opfer.

Die Grausamkeit des Krieges zeigt sich auch in einer Szene, die ein Lazarettbett, Krankenschwestern und Ärzte zeigt. Ihre Patienten sind verwundete Soldaten, die sich stöhnend am Boden wälzen.

Doch wie zum Hohn überreichen die Schwestern ihnen Blumen, das soll gute PR besorgen, und die Ärzte suchen sich in aller Ruhe ein Versuchskaninchen aus, wie man es in den USA unter  zurückgekehrten Vietnam-Veteranen gemacht hat. Die wurden dann mit Röntgenstrahlen in Experimenten, von denen sie nichts wussten (sie dachten, es handelt sich um Untersuchungen)  langsam, aber sicher zu Tode gebracht.

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Das Lazarettbett ist schon da… und Alexandr Trusch als Odysseus mit seinen Gefährten ist bereits in großer Not. Foto aus der „Odyssee“ vom Hamburg Ballett: Kiran West

Auf der Bühne wird der Proband mit einem Bildschirm überm Kopf und mit gleich zwei Tropfapparaturen ausgestattet. Die lukrativ arbeitende Medizin benutzt solchermaßen den Menschen, statt ihm zu dienen – diese Problematik ist hier zu erkennen.

Hysterisches Gelächter der Soldaten deutet ihren Wahn an: Als paradoxe Reaktion weinen sie nicht mehr, sondern kreischen vor Lachen. Ein in der Tat reales medizinisches Phänomen bei psychisch Versehrten.

Im Programmheft steht dazu denn auch: „Der Wahn, es gäbe seelische Heilung durch körperliche Rettung.“

Das Programmheft ist aber auch jeden Cent seiner 6 Euro Kosten wert. Gerade auch die Gespräche, die Neumeiers frühere Dramaturgin Angela Dauber führte, sind vorbildhaft einfühlsam und intellektuell aufschlussreich.

Zusätzlich empfehlen wir ausdrücklich die Einführung, die es angekündigt und unmittelbar vor manchen Vorstellungen im Foyerbistro im II. Rang in der Hamburgischen Staatsoper gibt. Die junge Dramaturgin Nathalia Schmidt leitet darin ganz vorzüglich und sehr gut nachvollziehbar zur Inszenierung hin.

Odysseus ist nun aber auch ein Thema, auf das man sich auch durch die gute alte Lektüre von Büchern – etwa über die antike Sagenwelt – vorbereiten kann. Denn in der Tat spielt die Auffassung, dass das Leben von Göttern beherrscht wird, die keine besonderen Tugenden haben, außer dass sie unsterblich sind, in der „Odyssee“ eine Rolle.

Das Bühnenbild ändert sich während all der Irrfahrten von Odysseus ins Höllental des Krieges und seinen anschließenden Liebesaufenthalten in Arkadien eins, zwei und drei übrigens kaum.

Da sieht man, was Tanz und Kostüme zusammen mit Licht vermögen: Sie ersetzen ein aufwändiges Bühnenbild, und so war es auch in der Antike, in der allerdings open air und tagsüber vor Publikum gespielt und getanzt wurde.

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Oben thronen die – hier unsichtbaren – Götter mit Videomonitor, unten tanzen der Krieg (Francesco Cortese, Alessandro Frola) und das Ensemble aus der „Odyssee“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Hier besteht die Spielfläche außer aus dem Steg ins Publikum aus einer rund ausgeleucheten Bühne mit senkrecht hängender, angeschnittener Kreisskulptur in der Luft – ähnlich wie im Neumeier-Ballett „Nijinsky“ – sowie aus der im Hintergrund stehenden,  mit blauen, stilisierten Meereswellen statt mit Mäandern verzierten Galerie für die Götter.

Darunter gibt es einige Portale, die sich öffnen können wie Türen – und dann ist der Blick frei auf einen Horizont in Regenbogenfarben. Diversity, allüberall, als Hoffnungsschimmer.

Zu den Göttern aber dringt kein Sterblicher empor, während Athene in einem hellen Leotard mit weißem Oberteil, das aus Schnüren zu bestehen scheint, herabsteigt, um Odysseus zu beschützen.

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Athene (Ida Praetorius) mischt sich ein, tanzt hier mit Telemachos (Louis Musin). So zu sehen in der „Odyssee“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Stark, schön und später auch in vielen weiteren wechselnden Outfits ist Ida Praetorius als Athene sehr bühnenpräsent.

Sie beschützt sowohl die Ehe von Odysseus und Penelope, womit sie Heras Aufgaben übernimmt, als auch das Überleben des Guten, nennen wir es mal so.

Und genau dieses Gute wird hier von allen Seiten bedroht:

Der Krieg ist allem immanent – und mit einem zwillingshaften Tänzerpaar auch als Personifikation während des ganzen Stücks vorhanden.

Das erinnert daran, dass auch in Friedenszeiten Krieg geführt werden kann, und zwar in der Wirtschaft. Ausschluss und Diskriminierung statt freiem und fairem Handel; rechtswidrige Absprachen statt offenem Wettbewerb; Monopolbildung statt Angebotsvielfalt – das passiert, wenn eine Gesellschaft falsch geführt wird. Jetzt wissen Sie, warum es immer weniger nette Cafés und immer mehr Fastfood-Ketten gibt. Weil der Krieg immer da ist, auch wenn es nicht so scheint.

John Neumeier macht das sichtbar: mit zwei skurril aneinander heftenden Tänzern.

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Der Krieg, personifiziert durch ein Zwillingsbruderpaar: Francesco Cortese und Alessandro Frola in der „Odyssee“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Alessandro Frola und Francesco Cortese tanzen dieses dubiose Männerpaar, das stets und ständig und nur und ausschließlich miteinander beschäftigt ist. Sie sind dabei so eins mit ihren einander umschlingenden, einander umgreifenden, einander beengenden, gegeneinander ringenden und doch miteinander haftenden Körpern, dass sie fast wie ein Lebewesen anmuten. Ganz großes tänzerisches Kino!

Und auch Florian Pohl, der hoch gewachsene Muskelmann vom Hamburg Ballett, mit dem schon wegen seiner schönen Körpergröße die meisten Ballerinen auf diesem Erdball liebend gern mal einen Paartanz riskieren würden, ist eine Erwähnung unbedingt wert. Er tanzt eine Figur namens „Er“, die in die verschiedensten Rollenmuster eintaucht und mal zu den Freiern der Penelope gehört, mal zu den Gefährten von Odysseus. Er ist sozusagen der Jedermann hier.

Vor allem aber schlüpft er in einen riesenhaften Knäuel aus Vogelfedern und bildet damit ein monströses, kopfloses Fabelwesen, das eine fantasievolle Ausgabe des Riesen Polyphemos darstellt. Pohl trägt in dem Federwust eine gleißend helle Stirnlampe auf dem Oberkopf – und zunächst denkt man, Odysseus würde ihn symbolisch blenden, indem er dieses Licht löschen wird.

Doch es kommt anders, als man denkt. Der Kampftanz des Mannes aller Männer mit dem Federvieh geht unentschieden aus. Und der Sohn von Odysseus pflegt sogar friedliche Kommunikation mit dem exotischen Ungeheuer – bis eine Horde Soldaten auftaucht und das Monster roh abknallt.

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Florian Pohl als Kyklop Polyphemos in John Neumeiers Version: Das exotische Federvieh wird Opfer in der „Odyssee“. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Das ist der Krieg: Es wird vernichtet statt kooperiert. Es wird umgebracht, statt dass man in einen fairen Wettstreit tritt. Es wird geballert statt nachgedacht.

Und auch Odysseus ist von dieser Manie nicht frei. Der Krieg hat ihm seine Unschuld genommen, ihn zu einem ewigen Reisenden gemacht, der seine eigenen Handlungen nicht immer unter Kontrolle hat.

So bedroht er einmal seinen eigenen Sohn Telemachos von hinten mit der Pumpgun, weil er ihn nicht erkennt.

Telemachos ist hier indes unbedingt mehr als einen zweiten Blick wert.

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Louis Musin als Telemachos: Er verkörpert die Zukunft der Heimat von Odysseus. So zu sehen in der „Odyssee“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Louis Musin, der in dieser Saison schon mit seinem leidenschaftlichen Romeo als Shooting Star vom Hamburg Ballett auffiel, zeigt hervorragend und nachvollziehbar die Entwicklung vom jungen Burschen Telemachos zum kommenden Regenten. Vor allem nimmt er alle Erscheinungsformen an, die Neumeier sich für diese Partie ausdachte, und diese sind nicht eben wenig.

Wie in einem Puzzle entwickelt sich Telemachos Stück für Stück. Schnell und impulsiv ist er als Kind, wenn er radelt, hinfällt und sich von der Mama das Knie verpflastern lässt.

Fragend und ratlos ist er als Heranwachsender, der befürchten muss, seinen Vater nie wiederzusehen.

Mit dem mütterlichen Auftrag, er solle den Vater finden, der auf Irrfahrt in der unbekannten Ferne weilt – ähnlich, wie sich später in der mittelalterlichen Literatur die Ritter auf Aventuire begeben – hat Telemachos dann seine wichtige Aufgabe: Beschwingt hüpft er wie ein Handelsvertreter im Herrenanzug mit Köfferchen und Hut ausstaffiert über die Bühne.

Anhand einer Phantomzeichnung erkennt und identifiziert er den Vater – und es kommt zu einer getanzten Paarszene großer Nähe, die in dieser kriegslüsternen Welt fast absurd wirken muss.

Neumeier setzt die antike Sagenwelt keineswegs herab ins Groteske, ins Niedliche oder gar ins Bürgerlich-Rationale. Vielmehr nimmt er sie beim Wort. Tatsächlich ist für die Epen von Homer – vor der „Odyssee“ mit ihren Eroberungen spielt sich in der „Ilias“ der Trojanische Krieg ab – der Krieg der Vater aller Dinge, und das ist damals wie heute keineswegs positiv zu sehen.

750 vor Christus entstand die Schriftform der „Odyssee“: in reimlosen Hexametern ist es ein fast melodisches Werk. Zuvor wurde es rein mündlich überliefert.

Das Altgriechische – früher wussten das viele Gebildete in diesem Land – ist eine musikalische Sprache, und mit zahlreichen Diphtongen (also mit gesprochenen  Doppelvokalen) hat sie etwas Rufendes, Weiches.

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Der Krieg und der Wahnsinn: Alexandr Trusch und das Ensemble in der „Odyssee“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Die klaren Rhythmen Homers hingegen erinnern an die althochdeutsche und mittelhochdeutsche Dichtung, die ebenfalls rhythmisch betont fungierte und beim sängerisch gesprochenen Vortrag auch von Musikinstrumenten begleitet wurde.

In einer Szene gibt es denn auch einen Live-Gesang auf altgriechisch, und zwar in wechselnder Besetzung: mal singt Georgios Iatrou, mal Nicholas Mogg, und beide beherrschen die Kunst des geradlinigen modernen Gesangs mit Verve.

Es geht darin um den schier sinnlosen, destruktiven Trojanischen Krieg, und es ist so tragisch, dass kein Bericht aus einem Krieg einen anderen stoppen kann.

Ansonsten ist es aber gerade die Musik, die es einem in der „Odyssee“ nicht ganz leicht macht. Der Komponist George Couroupos versucht, typisch griechische Klänge zu erzeugen, wie auch John Neumeier antik-griechische Posen eingearbeitet hat.

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Odysseus kehrt als Bettler verkleidet nach Ithaka zurück. Erkennt ihn seine Gattin noch? Zu sehen in der „Odyssee“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Nur ist die musikalische Illustration des Librettos etwas zäh geraten. In den Momenten, da das Orchester und die Stimmen vom Tonband schweigen, ist man dankbar, weil in der Stille die Choreografie noch besser wirken kann.

Die Trompeten, die unter anderem Odysseus begleiten, sind oft bewusst quäkend und triumphierend eingesetzt, bleiben aber hinter ihrem vielfältigen Einsatz etwa in der Barockmusik weit zurück.

Xylophon und Triangel, Schlaghölzer und Zimbel, auch Bratsche und Cello kommen reichlich zum Einsatz. Man hat nur den Eindruck, dass sich die einzelnen Instrumente als Akteure atonaler Klangteppiche nicht ganz einig sind, wer das Orchester wann anführen soll.

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Der Krieg hat Odysseus die Sinne verrückt, er erkennt seinen Sohn Telemachos fast zu spät: Alexandr Trusch und Louis Musin in der „Odyssee“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Querflötenklänge gibt es dagegen liebliche, die wirklich eine zauberhafte Atmosphäre schaffen. Vor allem Nausikaa wird optimal bei ihrem Tanz von der passenden Musik begleitet.

Aber es ist insgesamt zu wenig, was Couroupos hier eingefallen ist. Ab und an hat er schöne Ideen, die er dann nicht weiter entwickelt, sondern nur wiederholt, sodass die Musik oftmals auf der Stelle tritt. Daran kann auch Markus Lehtinen als bemühter Dirigent nichts ändern.

Nur manchmal geht da etwas auch akustisch unter die Haut, etwa die wellenartigen Klangorkane, die einen Höhe- oder Schlusspunkt in der Handlung andeuten.

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Auch der letzte Pas de deux der Liebenden in der „Odyssee“ von John Neumeier ist geprägt vom Männerbild der Antike. Zu sehen beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Dann, wenn alle kompositorischen Leinen gelöst sind, hat man das Gefühl, am Mittelmeer zu sitzen und den lauen Wind vor blauem Himmel zu genießen, zusammen mit den Helden einer echt wilden Zeit. Die Farben des Bühnengeschehens und die akustischen Nuancen passen dann perfekt zusammen.

Ansonsten wiegt die spannende Choreografie alles wieder auf, was musikalisch unklar bleibt.

Der Charakter des Gesamtkunstwerks, das verschiedene Ebenen von Zeit und Raum zusammenfasst, lässt sich bei John Neumeier als Inspiration ablesen. Die einzelnen Charaktere bleiben auch dann sie selbst, wenn mehrere Handlungsebenen gleichzeitig ablaufen.

Und gen Ende erhält die ganze Geschichte noch einen tollen Kick.

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Telemachos, mit viel künstlerischer Kraft getanzt von Louis Musin, ist der Sohn von Odysseus in der „Odyssee“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Louis Musin als Telemachos ist ohnehin eine Offenbarung – und er beginnt das Finale mit einem überraschend lasziven Tanz, einem Freudentanz über die Rückführung von Odysseus: glücklich und erotisch erweckend.

Verständlich ist seine Freude: Sein Vater ist endlich daheim, die Mutter vor den Freiern – die sich feige verdrückten – gerettet, und der Krieg ist, so scheint es, endgültig vorbei. Also tanzt er, als Vertreter der Jugend, denn das Leben verspricht, eines der schönsten zu werden.

Aber tanzt er für seine Eltern? Nicht wirklich. Für sich? Nein, auch nicht. Für seine Gefährten? Ja, das kommt hin: weitere Jungs kommen zu ihm, alle in derselben eleganten hellgrauen Hose und hellem Hemd. Als Trio zelebrieren sie Offenheit, Friedlichkeit, sogar latente Homosexualität.

Weitere Jungs kommen dazu, alle im selben Outfit, und plötzlich stehen auch im Hintergrund in den offenen Portalen lauter solche Jungmänner und gucken zu.

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Gen Ende tanzen die Jungmänner einen lasziv-aggressiven Freudentanz: In der „Odyssee“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Die Tänze der jungen Männer steigern sich und werden, obwohl sie zunächst  teilweise an die Gruppentänze von Maurice Béjart erinnern, dann so aggressiv, dass sie rasch in Kriegsgeheul umschlagen könnten.

So wird die Verquickung der übersteigerten Männlichkeit mit der Kultur offenbar.

Erst die Mädchen, die hinzukommen, entschärfen die Situation. Sie bringen Sanftheit, Mäßigung, Harmonie. Und auch die Götter kommen hinzu, vermählen sich tänzerisch mit den Menschen, man tanzt gemeinsam, als gebe es kein Morgen und niemals Trennungen zwischen Mensch und Gottheit. Was für eine paradiesische Vorstellung!

Am Ende versammeln sich alle um Odysseus und Penelope herum auf dem Steg und sehen dem Meer bei seiner ebenmäßigen Bewegung zu.

Zu einem einzigen langen, sehr schön schwingenden Akkord schreitet Yun-Su Park von rechts nach links, an die Schlussszene des Neumeier-Balletts „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ erinnernd. Das Meer, so verheißt uns die Szene hier, ist die Ewigkeit.

Die "Odyssee" von John Neumeier beim Hamburg Ballett ist topaktuell

Zu Beginn schreitet sie von links nach rechts, am Ende von rechts nach links: Yun-Su Park als das Meer in der „Odyssee“ von John Neumeier – faszinierend. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Die Tänzer sitzen nah beieinander, schauen wie gebannt, als es dunkel wird, auf dieses Meer – und nur Odysseus dreht sich mit wild-sehnsüchtigem Blick um, schaut Richtung Publikum: Er wittert neue Abenteuer.

Damit zeigt sich nochmals die metaphorische Bedeutung dieser Odyssee: als stete Reise eines Künstlers, der lebenslang von Werk zu Werk driften muss. Insofern ist John Neumeier ein weiteres fulminantes Selbstportrait gelungen.

Die lange anhaltenden stehenden Ovationen des Publikums für ihn nach der Premiere und auch nach der gestrigen zweiten Vorstellung verstehen sich da schon von selbst.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

2024 ist es aktuell wie kein anderes Ballett: das 1995 entstandene Anti-Kriegsballett „Odyssee“ von John Neumeier. Die Menschheit scheint unbelehrbar. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

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