Schönheit, Schweiß und Sexualität Roberto Bolle tanzt „Boléro“ in der Mailänder Scala: im Abend „Balanchine / Kylián / Béjart“

Roberto Bolle tanzt "Boléro" von Béjart in Mailand

Er genießt das Tanzen und auch den Applaus: Superstar Roberto Bolle nach seinem phänomenalen „Boléro“ in der Mailänder Scala. Applaus-Foto: Franka Maria Selz

Er hat noch immer dieses unglaubliche Flair! Roberto Bolle, mit 44 Jahren in einem Alter, in dem die meisten Berufsballerinos kaum noch daran denken können, auf der Bühne tollkühne Sprünge zu vollführen, tanzt – mit der Megaballerina Marianela Nunez vom Royal Ballet als Gast – an der Mailänder Scala die Titelrolle in „Onegin“ von John Cranko. Und als sei das nicht genug, premierte er am Samstagabend als abschließendes Super-Highlight in dem fast unverdächtig edel klingenden Abend „Balanchine / Kylián / Béjart“: mit dem Solopart in  „Boléro“ von Maurice Béjart, jenem explosiv-erotischen Tanzstück zur Musik von Maurice Ravel, das von ihm 1961 für die damals  jugoslawische Tänzerin Duska Sifnios kreiert wurde,  und in dem seither Frauen wie Männer von Weltformat brillieren. Bolle muss sich nicht hinter Friedemann Vogel– der das Stück beim Stuttgarter Ballett aufführte – und auch nicht hinter Jorge Donn – der als Béjarts Liebling noch mit dem persönlichen Segen des Choreografen darin beeindruckte, verstecken.

Was Roberto Bolle anzubieten hat, gibt es bei keinem anderen Tänzer: Eine sinnliche, dennoch reife Festigkeit, dazu eine hochgradige Präzision und eine sich steigernde Leidenschaft – bis zum Ende, bei dem die Obsession den Tänzer diese Partie zu übermannen scheint.

Im Bühnendunkel bewegt sich zunächst nur die rechte Hand des Protagonisten, dann die linke, dann beide – und die sportliche Eleganz, mit der Roberto seine Handgelenke nach Schwanenart und dennoch im Flamencostil tanzen lässt, ist eine neue Interpretation.

Männer tanzen das Bolero-Solo meist weniger weich, weniger „melodiös“ als Frauen, dafür mit starker Betonung des Rhythmus und der kraftvollen Gesten.

So auch Roberto Bolle.

Wenn er plötzlich im blutroten Kreis steht, angestrahlt wie ein Exponat in einer Museumsgalerie, wird es mystisch heiß. Noch heißer. Die Luft scheint zu brennen!

Roberto Bolle tanzt "Boléro" von Béjart in Mailand

Roberto Bolle in Aktion, in „Boléro“ von Maurice Béjart, bildschön und stark im erotischen Ausdruck. Foto: Teatro alla Scala

Der nackte Oberkörper, die blanken Füße strahlen so viel Sexappeal aus, als wäre der Mann soeben aus einer Höhle gekommen, in der er sich jahrelang auf diesen Auftritt vorbereitet hat. So muss es sein, beim „Boléro“: Der Solist ist wie ein Außerirdischer, wie ein lebender Anachronismus und doch wie der erste Mensch.

Und natürlich geht es um Sexualität. Das ist nicht obszön und nicht aufdringlich inszeniert. Aber jeder, der die Musik von Ravel kennt (sie wurde 1921 für die Tänzerin Ida Rubinstein komponiert), kann sich dem Spiel von geblasener Melodie und hämmernden Rhythmen nicht entziehen – auch nicht seiner anheizend erotischen Wirkung.

Maurice Béjart – der geniale Franzose und Philosophensohn – hat das aufgegriffen und eine existenzialistisch anmutende Szenerie dazu erschaffen.

Und Bolle, der gebürtige Mailänder, der sowohl in der Modewelt – als Model – als auch im Ballett von seiner Heimatmetropole aus eine internationale Karriere zum Superstar hingelegt hat, zeigt jetzt, mit wieviel Kraft und Eleganz man dieses Stück als Mann von Welt tanzen kann.

Roberto Bolle tanzt "Boléro" von Béjart in Mailand

Roberto Bolle im Sprung auf der tischartigen Plattform in „Boléro“ von Maurice Béjart. Wow! Foto: Teatro alla Scala

Wie auf dem Präsentierteller tanzt der Solist mit allem Einsatz, den er aufbringen kann – und doch sind die Bewegungen zu Beginn denkbar einfach. Gerade darum wirken sie nur, wenn sich eine echte Bühnenpersönlichkeit ihnen in der Darstellung widmet.

Bolle hat ohne Zweifel das richtige dramatische Potenzial, um aus diesem einladenden Tanz der Leidenschaft zugleich das Psychogramm einer hingebungsvollen Attacke zu machen.

Einladend beugen sich seine Arme, seine Knie, sein Leib.

Immer fordernder wird dieser Körper, zugleich gebend und nehmend.

Um ihn sitzen andere Männer, wartend, dass seine Botschaft sie erreicht.

Roberto Bolle tanzt "Boléro" von Béjart in Mailand

Er gibt alles: Roberto Bolle mit dem Ensemble der Scala in Mailand in Béjarts „Boléro“. Foto: Teatro alla Scala

Dann kommen sie. Erst zwei, dann vier, dann immer mehr, schließlich alle. Das herrliche Corps de ballet umtanzt das runde Podest, auf dem dieser stierartige Mann – er könnte ein Fabelwesen aus einer antiken Sage sein – im Rhythmus wippend, dann und wann springend sein Orakel zelebriert.

Die Anderen halten ihm zuerst ebenfalls rhythmisch etwas entgegen, aber dann folgen sie ihm. Das Fabeltier wird zum Anführer, aber auch zum Opfer. Es gibt kein Entrinnen aus dieser Raserei. Für niemanden…

Roberto Bolle tanzt "Boléro" von Béjart in Mailand

Roberto Bolle mit den Herren vom Ballett der Mailänder Scala nach „Boléro“. Glanz und Glück in den Augen! Applaus-Foto: Franka Maria Selz

Am Ende tobt der Applaus, als sei es eine Uraufführung, die Scala erbebt, und Bolle, außer Atem, aber gefasst, genießt den Applaus.

Auch die Musik hat das Haus erfüllt, als wäre es ein erstes Mal.

Tatsächlich wurde die Scala in diesem Jahr im Sommer leicht saniert, und in manche der Logen wurden Spiegelwände eingesetzt (statt der rotplüschigen Seidentapeten), um die Akustik zu verbessern. Das sieht besonders festlich aus.

Und: Der Klang perlt!

Dirigent Felix Korobov, der sowieso Kult ist in Mailand, erhält aber nicht nur darum, sondern auch für die Leistung mit dem Orchester des Hauses einen Extra-Applaus.

Roberto Bolle tanzt "Boléro" von Béjart in Mailand

Roberto Bolle nach „Boléro“ in der Scala in Mailand – mit Dirigent Felix Korobov im Frack. Schlussapplaus-Foto: Franka Maria Selz

Der setzt sich am Bühneneingang fort, wo aufgebrezelte Italienerinnen im tumultartigen Gedrängel fast die Contenance verlieren. Aber Bolle ist zu allen freundlich, gibt Autogramme und verschenkt sein schönes Lächeln, als hätte die Welt ein Anrecht darauf.

Keine Spur von Arroganz oder Starallüre.

So lieben wir Weltstars!

Und auch das Ballett der Mailänder Scala hat viel Lob verdient.

Massimo Garon und Gabrielle Corrado führen in „Boléro“ ein erstklassig modern-sinnlich tanzendes Herrenensemble an, das weder der Gefahr unterliegt, zu steif zu tanzen noch zu sehr herumstampft, was das bei aller Deftigkeit schwebende Fluidum des Stücks auch untergraben könnte.

Das richtige Maß ist im Ballett oft wichtiger, als oftmals geglaubt.

Roberto Bolle tanzt "Boléro" von Béjart in Mailand

La Scala in Mailand – in manchen Logen blitzen große Spiegel an den Wänden statt samtiger Seide. Weil das der Akustik dient! Foto: Franka Maria Selz

Das mittlere Stück des Abends war denn auch der „Petite Mort“, der „kleine Tod“ von Jiri Kylián. 1991 für die Salzburger Festspiele kreiert, mischt das Stück die Metaphorik von Sexualität und Tod, von Eros und Thanatos. Nennt man doch den Orgasmus den kleinen Tod…

Zu lieblicher Mozart-Musik wird der Geschlechterkampf zwischen Mann und Frau mit barocken Requisiten ausgefochten, wortwörtlich.

Die Damen sind mit schwarzen Reifrockkostümen fast surreal erstarkt, die Herren haben Fechtdegen zur Hand, mit denen sie tanzen, balancieren, spielen – aber nicht wirklich töten.

Roberto Bolle tanzt "Boléro" von Béjart in Mailand

Auch hier gibt es ein veritables Herren-Corps, in der Choreografie „Petite Mort“ von Jiri Kylián, allerdings: eher verhalten und stark stilisiert. Foto: Teatro alla Scala

Die körperliche Liebe hat ihren akrobatisch-ästhetischen Stellenwert hier; man könnte fast von Porno der gehobenen Art sprechen.

Wirklich existenziell wird es denn auch nicht in diesem patriarchalen Reich der Sinne – aus heutiger Sicht vermisst man ein bisschen die möglichen Paarungen gleichgeschlechtlicher Liebe, aber Kylián war stets ein Verfechter (hier beinahe wörtlich) konventioneller Paarungen, also der immerhin modernen Mann-Frau-Beziehungen.

Viel wirbeliger und noch stärker im Impetus wirkte dagegen das Entrée-Stück des Abends, die „Symphony in C“ von George Balanchine zur Musik von Georges Bizet.

Dieses beliebte Stück, das sowohl Paartänze als auch Damen- und Herrenparts vom Feinsten anbietet, mündet in ein großes Finale mit dem Corps de ballet – es muss schnell, aber rhythmisch pointiert dargeboten werden.

Viele junge TänzerInnen haben, international gesehen, mit der Pointierung Probleme, weil sie immer nur gelernt haben, fließend und geschmeidig zu tanzen.

Roberto Bolle tanzt "Boléro" von Béjart in Mailand

Weltweit wird dieses Ballett getanzt und für seine festliche Atmosphäre geliebt: „Symphony in C“ von George Balanchine, hier zu sehen in einer Aufführung aus New York von der School of American Ballet. Foto: School of American Ballet

Hier aber, in der Mailänder Scala, erblüht das Stück zu neuer Lebendigkeit, und Martina Arduino mit Nicola del Freo, Nicoletta Manni (hier etwas gegen ihr dynamisches Ballerinenprofil eher lyrisch besetzt) mit Marco Agostino und vor allem Alessandra Vassallo (sehr toll!) mit Claudio Coviello (der seine Partnerin exzellent zu drehen weiß) verführen zu Leichtigkeit, gepaart mit technischer Virtuosität.

Es scheint uns erwähnenswert, an dieser Stelle zu betonen, dass es kein Makel ist, wenn die Dame etwas größer ist als der Herr, zumal, wenn sie auf Zehenspitzen tanzt. Hinter der Vorstellung, der Mann müsse immer größer sein, steckt die alte Idee der Vorherrschaft des Mannes über die Frau. Darum sollten Damen jetzt erst recht ein Stück größer sein dürfen. Und der optische Eindruck des Kleinen kann im übrigen auch bei Herren sehr sympathisch wirken.

Wir kennen etliche Paare, die – wie Vassallo und Coviello – auf der Ballettbühne fantastisch zusammen wirken, völlig unabhängig davon, wer nun, in Zentimetern gemessen, größer ist. Und wir möchten den Ballettdirektor an der Scala, Frédéric Olivieri, herzlich bedanken und beglückwünschen, hier richtigerweise mutig voranzugehen!

Auch aus New York City  kam dafür grünes Licht.

Patricia Neary, die große alte Dame von George Balanchines Gnaden, hatte die Einstudierung in Mailand  übernommen und somit einmal mehr internationale Meriten eingeheimst. Der Balanchine Trust in New York achtet ja streng darauf, dass die Toplinien und schnellen Detailschritte der Choreografie gewahrt bleiben.

Roberto Bolle tanzt "Boléro" von Béjart in Mailand

So zart sehen große ältere Damen aus: Patricia Neary aus New York City, die als Abgesandte vom Balanchine Trust die „Symphony in C“ mit dem Ballett der Mailänder Scala einstudierte. Foto vom Applaus: Franka Maria Selz

Dass das Stück, das der russisch-amerikanische Großmeister Balanchine unter dem Titel „Palais de Cristal1948 in Paris uraufführen ließ, sozusagen der „Oldie“ des Abends war, konnte denn auch höchstens im positiven Sinn moderner Klassik (bzw. Neoklassik) bemerkt werden.

Insgesamt rentierte sich derweil die Zusammenstellung dieser drei hochkarätigen Stücke, die von der kühl-distanzierten festlichen Stimmung des Balanchine-Meisterwerks über die doppelbödig-dubios-schummrige Atmosphäre des Kylián-Stücks bis zur mitreißenden Hitze des „Boléro“ reichte.

Was für ein Traum aus Schönheit, Schweiß und getanzter Sexualität!
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg

www.teatroallascala.org

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