Die Mathematik der Gefühle Stanton Welch und sein Houston Ballet waren auf den 41. Hamburger Ballett-Tagen zu Gast

Das Houston Ballet ist technisch auf höchstem Niveau, leidet aber zugleich darunter.

Das ist kein Pas de deux, sondern ein Pas de trois: Die Tänzerin liegt auf vier Schultern… so zu sehen in „Tapestry“ von Stanton Welch. Foto: Houston Ballet

Die Logik der Liebe lautet: Schön ist, was mir gefällt! Die subjektive Komponente ist da selbstredend am wichtigsten. Das Houston Ballet aus den USA, das als Gast von John Neumeier bei den 41. Hamburger Ballett-Tagen reüssierte, hat die Ausrede der subjektiven Empfindung allerdings nicht nötig. Hier greifen die objektiven Regeln der Gefühle und Maßstäbe – zuallererst die logischen Gesetzmäßigkeiten der Gefühle. Stanton Welch, gebürtiger Australier, schuf sich in Houston eine Compagnie, die auf seine choreografischen Bedürfnisse zugeschneidert ist. Das heißt: Klassische Technik in der neoklassischen Machart à la George Balanchine trifft auf zeitgenössisch-moderne Grundzüge und Details. Jiří Kylián und vor allem auch Nacho Duato stehen da sichtlich Pate – manches wirkt wie eine direkte Antwort auf diese beiden großen tänzerischen Handschriften der Gegenwart. Mit heftig vielen Zitaten!

„Tapestry“ („Wandteppich“) heißt das erste von den drei Stücken, die Welch in Hamburg zeigen ließ. Rotorange und Hellblau sind die ersten Paar-Kostüme: zu Musik von Wolfgang Amadeus Mozart wird vorzugsweise in Pas de deux und Pas de trois soft, aber mit vielen eingeflochtenen technischen Komplikationen getänzelt. Sanfte Hebungen, witzige Kombinationen, ein hohes technisches Niveau – das Stück zeugt von Originalität und Schönheitssinn.

Allerdings mixt Welch die Stile sowohl tänzerisch – als auch in der Relation zur Musik. Und wenn große Sprünge und andere Kunststücke der Virtuosität (wie aus „Le Corsaire“ oder „Schwanensee“) zur heiter-plätschernden Barockmusik von Wunderkind „Wolferl“ Mozart kommen, so verblassen die technischen Effekte allzu rasch zu bloßen Vorführnummern. Als müsste man beweisen, dass man das Schwierigste vom Schwierigen ganz locker vom Hocker reißt – und sich bei dieser Beweiserbringung auch noch supertoll fühlt. Das tänzerische Können der Truppe wird indes exzellent dokumentiert, zumal  mit diesem Hauch von Ironie, der sich da bei soviel technischem Gehuber wie nebenbei entwickelt. Motto: Alle Menschen sind Wunderkinder, zumindest alle Tänzer, oder?

Das Houston Ballet ist technisch auf höchstem Niveau, leidet aber zugleich darunter.

Exquisite, manchmal orientalisch angehauchte Erotik: in „Maninyas“ von Stanton Welch mit dem Houston Ballet. Foto: Houston Ballet

Mein Favorit an dem Abend war dennoch das mittlere der drei Stücke: In „Maninyas“ geht es, so der PR-Text, um „zwischenmenschliche Beziehungen“. Das tut es nun im Ballett immer und nachgerade zwangsläufig. Schließlich ist der Mensch hier sein eigenes Instrument! Aber in dem nach der Musik des australischen Komponisten Ross Edwards benannten Tanz geht es nicht etwa um Streit, Betrug oder Mord, wiewohl auch diese Dinge unter „zwischenmenschliche Beziehungen“ fallen. Vielmehr geht es bei Welch um die ureigenste Domäne des Tanzes: die Erotik.

Fünf Paare in fünf Farben – Violett, Rot, Blau, Grün und Braun – zelebrieren ausgereifte, schwebende Paartanztechniken. Am besten sind die Verführungsnummern, wenn sie eine berührende, daher auch melancholische Note erhalten. Da trägt ein Held seine Geliebte auf den Armen fort wie ein Kind, nachdem er sie mit Flips und Drehhebungen lange verwöhnt hat. Aber auch das Führen einer Frau, die auf Spitze steht und dabei eine Arabeske hält, hat Erotik. Stanton Welch ist ein solider Handwerker, der solche Delikatessen choreografisch auszureizen weiß.

„Velocity“ („Geschwindigkeit“) schließlich parodiert und nimmt ernst – und beides zur gleichen Zeit. Da „turnen“ Ballerinen in steifen Tellertutus vor einer konstruktivistischen Kulisse. Zack, zack, zack – später exerzieren sie Fouettés im Quintett und große Sprünge, synchron und formschön, als seien diese Highlights der Klassik lediglich Aufwärmübungen. Die Jungs als Geschwader voll sportiver Geschmeidigkeit und die Mädels als anmutige Brillanzheerschar beglücken, reißen mit – aber inhaltlich vermisst man dennoch eine Tiefe, die eben John Neumeier oder auch Nacho Duato und David Dawson oder auch George Balanchine, der hier in atemberaubendem Tempo parodiert wird, zu bieten haben.

Das Houston Ballet ist technisch auf höchstem Niveau, leidet aber zugleich darunter.

Ratzfatz geht das hier mit der Parodie der Klassik und Neoklassik: Ballerinen und Ballerinos wie aus dem Bilderbuch für tolle Technik hotten ab. In „Velocity“ von Stanton Welch. Foto: Houston Ballet

Am Ende tanzen 16 Tanzpaare das Hohelied einer der Rasanz nach ins Irrwitzige gesteigerten Klassik samt Folklore-Assoziationen – und die Musik von Michael Torke ist zwar neu, imitiert aber typisch klassisches Gehabe. Da sind die Triller und die Melodiebögen, da ist die Dramatik und die Pathetik. Da ist aber nicht der Sturm der Gefühle, der das Tüpfelchen auf dem „i“ noch ausmachen sollte. Und das ging mir bei jedem der drei Stücke so.

Vielleicht bin ich zu sehr an europäische Innerlichkeit gewöhnt. Vielleicht ist dieses „i“ bzw. „Ahhhh!“ hier vollständiger, als ich es wahrzunehmen vermochte. Aber wenn sich eine Frau im modernen Abendkleid auf der Bühne mit ihrem Rocksaum selbst schlägt (was hier an diesem Abend wie eine technische Spielerei zu sehen war), dann möchte ich eben wissen, warum. Bin ich da altmodisch? Oder nur konsequent?

Ein Besuch beim Houston Ballet lohnt dennoch ganz sicher: Kurzweil und der Genuss einer gewissen Mathematik der Gefühle sind sozusagen garantiert.
Gisela Sonnenburg

Mehr zum Programm der diesjährigen Ballett-Tage:

www.ballett-journal.de/semperoper-hamburg-ballett-festivals/

Mehr zu Stanton Welch in Berlin: 

 www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-ratmansky-welch/

Und Infos zu den Compagnien:

 www.hamburgballett.de

www.houstonballet.org 

 

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