Der junge Mann ist bildschön und der alte Kerl, der ihn begehrt, stirbt daran. So knapp liest sich die Inhaltsangabe von „Tod in Venedig“ in einem Satz. Thomas Mann schrieb 1911 die gleichnamige Novelle über einen alternden Komponisten, der an seiner letzten großen Liebe zu Grunde geht. Er verheimlicht seine Neigung, seine Abwehrkräfte versagen, eine schwere Krankheit rafft ihn dahin. John Neumeier, gewissermaßen ballettöser Spezialist für menschliche Beziehungen, schuf 2003 sein abendfüllendes Ballett zu dem homoerotischen Stoff – und ersetzte darin den Komponisten durch einen Choreografen namens Aschenbach. Gestern stellte das Hamburg Ballett das aufregende Tanzstück mit einer neuen Besetzung der beiden Hauptrollen sowie zahlreicher Nebenrollen vor. Wie erwartet mit sehr großem Erfolg! Zu beglückwünschen sind nun nicht nur die Tänzerinnen und Tänzer – allen voran der aus Finnland kommende Atte Kilpinen als junger Tadzio und der Amerikaner Christopher Evans als alter Aschenbach – sondern auch all jene, die eines der raren Tickets ergattert hatten. Wann der „Tod in Venedig“ mit Musik von Bach und Wagner wieder auf dem Plan steht, ist derweil ungewiss. So muss die Erinnerung eine nicht ganz kurze Wegstrecke lang halten. Dafür wird das Hamburg Ballett im Dezember 20 laut Planung eine Uraufführung von seinem Chef John Neumeier zeigen („Beethoven-Projekt II“) sowie die Neumeier-Stücke „Ghost Light“ und „Weihnachtsoratorium I – VI“.
Für alle, die sich trotzdem jetzt am „Tod in Venedig“ ergötzen wollen, gibt es im Handel die DVD von 2005. Sie erschien bei Arthaus Musik – und lässt die Helden der Uraufführung, also Edvin Revazov als Tadzio und Lloyd Riggins als Gustav Aschenbach, die besten Rollen ihres Lebens tanzen. Am Piano begeistert auf der DVD die legendäre Élizabeth Cooper, die in der aktuellen Live-Performance von Sebastian Knauer ersetzt wird. Nun ist er kein wirklicher Ersatz für die kapriziöse Pariserin, aber er macht seinen Job sehr gut.
Lloyd Riggins, der Aschenbach der Uraufführung und mittlerweile Ballettmeister und Neumeiers Stellvertreter, war bei der jetzigen Einstudierung übrigens der führende Coach. Mit den Ergebnissen war er hochzufrieden – harte, aber inspirierte Probenarbeit rentiert sich im Ballett ja meistens.
Der in Hamburg noch neue Shooting Star Atte Kilpinen, der zunächst in „Ghost Light“ eine Hauptrolle spontan übernahm (und damit für den damals verletzten Alexandr Trusch einsprang), ist in die Rolle des naiv-verführerischen Bengels Tadzio nachgerade hineingeschlüpft. Er schaut und geht, springt und wirbelt mit jenem Schmelz über die Bühne, der geeignet ist, einen geneigten Beobachter süchtig nach seinem Anblick zu machen.
Man fühlt darum umso stärker mit Christopher Evans, der als Aschenbach eigentlich noch etwas zu jung ist. Aber durch sein starkes Schauspiel vermag es Evans, seine natürliche Jugendlichkeit durch kummervolle Elastizität zu ersetzen. Genau so, wie er sich bewegt, fühlt sich ein Mensch, der mit absichtsvollen Gründen deutlich jünger sein möchte, als er ist.
Die Tragik ist im Stück – wie so oft im Leben – dass die Betroffenen nicht offen miteinander sprechen.
Aschenbach vergeht vor Begehren, während der junge Mann, der fast noch der Kindheit zuzurechnen ist, davon kaum eine Ahnung hat.
Welche Verantwortlichkeit hier auch immer berührt wird – Aschenbach reißt sich zusammen, berührt Tadzio nur wie zufällig, und ob seine Obsession den Jüngeren belästigt oder nicht, wird nicht ganz klar, ist aber wahrscheinlich.
Tadzio wehrt sich allerdings nicht. Er findet den Alten vermutlich skurril, vielleicht auch interessant. Aber eine reale Liebesbeziehung ist hier undenkbar, schon weil Aschenbach sie sich versagen will.
Alpträume und künstlerische Impotenz plagen ihn. Die Gesellschaft, die ihn umgibt, ist geprägt von dekadenter Amüsierwut; Lüsternheit kriecht hier mitunter aus allen Bühnenfugen.
Merkwürdige Gestalten bevölkern Aschenbachs Welt. So sind die „Wanderer“, die ursprünglich von Zwillingen getanzt wurden, kaum fassbare, sich stetig verändernde Mitläufercharaktere. Peter Schmidt und John Neumeier, die gemeinsam die Kostüme schufen, lebten hier ihre Vorstellungskräfte ungezügelt aus.
Marc Jubete und Félix Paquet zeigen in diesen Partien bravourös, wie crazy und doch hilfreich Menschen sind, die sich mal wie Partyschlampen, mal wie Rock-Musiker, mal wie Frisöre und Schönheitschirurgen und dann wieder wie sexy Jeansträger benehmen. Sie bestimmen zwar nicht die Geschicke von Aschenbach, aber sie sorgen dafür, dass seine Fantasien über sich selbst sich bewahrheiten oder zumindest konkretisieren.
Um die Liebe zu Tadzio mit ihnen zu teilen, ist jemand wie Aschenbach aber viel zu gehemmt. Und so träumt er gemeinsam mit seinen absurden Weggefährten von einer Orgie zu Wagner-Musik, ausgelöst von schönen, spärlich bekleideten Jungs am Lido.
Diesen Jungs beim Ballspielen zuzuschauen, ist ohnehin eine Lieblingsbeschäftigung von Aschenbach. Es ist Neumeiers großer Kunst zuzuschreiben, dass dieser Mann hier nie peinlich oder wie ein Spanner wirkt. Und als er den Ball einmal in den Händen hält, obwohl er eigentlich am Spiel nicht beteiligt ist, und ihn voll Anzüglichkeit an Tadzio weitergibt, wird offenbar, wie schräg der Blick des von seiner eigenen sexuellen Begierde Getriebenen auf die Welt geworden ist.
Seine „Konzepte“, brillant verkörpert von dem Ehepaar Silvia Azzoni und Alexandre Riabko (die diese Parts auch schon bei der Uraufführung tanzten), entgleiten ihm, und auch „La Barbarina“, seit 2003 famos im schlichten Trikot getanzt von Hélène Bouchet, oder auch die Fantasiegestalt von Friedrich dem Großen, über den Aschenbach ein Ballett zu kreieren plant, können dem emotional verkrachten Mann nicht mehr helfen.
Er dialogisiert mit seinen Erinnerungen an die Kindheit, und Louis Musin ist hier ein ebenso passender Cast für Aschenbach als Junge wie Anna Laudere gleich drei Rollen übernahm: den Part der Mutter von Aschenbach, den seiner Assistentin und den von Tadzios Mutter. Kreiert wurden diese drei Rollen übrigens von der heutigen Neumeier-Ballettmeisterin Laura Cazzaniga.
Das Flair von Venedig kulminiert in der gezeigten Gedankenwelt von Aschenbach zu einem chaotischen, erotisch aufgeladenen Überdruck. Aschenbach mutiert somit zu einem wandelnden Sensorium – schließlich steht die ganze gezeigte Gesellschaft hier unter einer absurd hohen Anspannung.
Dass die Totenträger in einer Szene mit Alltagsmasken einen didaktischen Gegenwartsbezug darstellen (wie auch ein Teil der Komparserie im klassisch-romantischen Corps beim Staatsballett Berlin), passt durchaus in diese kruden, wie von Blitzgedanken durchzogenen Universen aus Imagination.
Der junge Tadzio scheint von alledem aber nichts zu spüren. Das Erwachsenwerden fesselt seine Sinne. Er hält alles, was er sieht, für normal und den alten Mann Aschenbach, dem er scheinbar zufällig so oft begegnet, für einen gutmütigen entfernten Bekannten, der zufällig im selben Hotel in Venedig abstieg wie Tadzio mit seinen Eltern.
Oder verhält es sich doch anders? Genießt Tadzio unterschwellig die Aufmerksamkeit des Künstlers? Oder leidet er sogar unter dem beinahe pädophilen Begehren, das ihn betrifft?
Hier bleibt ein Mysterium ein Mysterium.
Das Ende jedoch ist so grausam wie es das Leben auch nicht selten auch ist: Nach einem atemberaubenden tänzerischen Miteinander rutscht Aschenbach sterbend an den schönen Beinen des Jünglings gen Boden. Und während er um seine letzten Atemzüge ringt, schaut Tadzio ungerührt mit einem aus seinen Fingern geformten Fernglas ins Publikum, also aufs Meer hinaus.
Venedig hat hiermit eine Legende mehr an den Hacken – und das Hamburg Ballett einen weiteren unvergessenen Ballettabend.
Adam Benito Müller / Gisela Sonnenburg