Es ist Sommer! Und die Ballettfans in den großen Metropolen in Deutschland können sich derzeit nicht beklagen. Kaum dürfen die Vorhänge der Opernhäuser wieder hochgehen, floriert die Tanzkunst. Ob als Aufzeichnung oder als Live-Aufführung: Allen voran zeigt John Neumeier mit seinem Hamburg Ballett, was schon wieder möglich ist. Mit den Hamburger Ballett-Tagen wird am morgigen Sonntag der ganz reale, analoge Beginn des renommiertesten deutschen Ballett-Festivals zum 46. Mal erwartet (letztes Jahr musste es wegen der Corona-Pandemie ausfallen). Die Premiere „Hamlet 21“, außerdem „Ghost Light“, „Tod in Venedig“, das „Beethoven-Projekt“ I und II sowie die am 27. Juni 21 gleich zwei Mal gezeigte Nijinsky-Gala locken zu Live-Vorstellungen. Am 21. Juni 21 premiert zudem eine wirklich seit Jahrzehnten heiß ersehnte Verfilmung: Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“, in aktueller Besetzung mit Alexandr Trusch als sensationellem Puck. Die Filmpremiere im Opernhaus wird ergänzt vom Erscheinen der Aufzeichnung als DVD und Bluray. Ein Trost für alle, die kein Ticket ergattern oder sich noch nicht ins Opernhaus trauen, wo derzeit 700 Menschen pro Aufführung zuschauen dürfen.
In Berlin und Dresden gibt es derweil Gala-Programme mit dem jeweiligen Hausballett.
Das Semperoper Ballett in Dresden zeigt heute und morgen „A Collection of short Stories“ („Eine Sammlung kurzer Geschichten“): mit Highlights vom traditionellen „Schwanensee“ bis zum hochkarätig-exotischen „Faun(e)“ von David Dawson. Ende Juni werden diese Kleinode im Online-Stream zu sehen sein.
Zuvor zeigt das Staatsballett Berlin am 23. Juni 21 seine Gala „From Berlin with Love IV“, mit superschönen Sprüngen von Dinu Tamazlacaru in einem Blitzsolo der Klassik. Der zweite Teil des Abends wird allerdings von wummernder Synthi-Musik des Yuppie-Balletts „Half Life“ von Sharon Eyal und Gai Behar überschattet. Das mag nicht jeder 40 Minuten lang ertragen.
Ohne negativen Corona-Test geht es in Hamburg, Berlin und Dresden übrigens nicht ins große Haus, wohl aber in München. Dort lockt das Bayerische Staatsballett am 24. Juni 21 zur Premiere ins Prinzregententheater: mit frischen Werken von Nachwuchskünstlern wie der Britin Charlotte Edmonds. Der programmatische Titel „Heute ist Morgen“ legt nahe, dass man sich Gedanken über die Lage der Welt gemacht hat.
Dazwischen geht es einfach nochmal nach Dresden. Dort zelebriert – ab dem 19. Juni 21 – das „Semperoper Ballett open air“ seine Gala-Auszüge outdoor auf der Freilichtbühne der Palucca Hochschule für Tanz.
Weil beide Direktoren, Aaron S. Watkin vom Semperoper Ballett und Jason Beechey von der Hochschule (übrigens seit Studententagen miteinander befreundet), in diesem Jahr ihr 15-jähriges Dienstjubiläum in Dresden feiern, legen sie auf eine gemeinsame Präsentation besonderen Wert. So sei es: mit „A shared Vison“ wird das Programm am 30. Juni 21 um das Mitwirken der Hochschule ergänzt. Ob diese Version der Gala oder die aus dem Opernhaus als Stream kommt, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest.
In Dortmund kreuzt man derweil zielbewusst Online-Vergnügen und Outdoor-Tanz:
Schon am 19. Juni 21 gibt es einen Online-Stream mit einem Meisterstück von Xin Peng Wang, nämlich „Der Zauberberg“ nach dem bekannten Roman von Thomas Mann.
Mann als Ballett kommt also zusammen mit dem fulminanten „Tod in Venedig“ von John Neumeier gleich in zwei fantastischen Umsetzungen von Literatur in Tanz auf uns zu.
Wenn das nicht ein Triumph der Bildung und des Tiefsinns ist!
Ab dem 25. Juni 21 heißt es in Dortmund dann „Terrassentheater: Endlich!! Wieder!! Tanzen!!“: mit jeweils zwei Ausrufezeichen, mit dem Ballett Dortmund und mit dem NRW Juniorballett auf der Opernterrasse.
Die Schwaben setzen hingegen auf gleich vier in Stuttgart bewährte Namen aus der internationalen Choreografie. Am 19. Juni 21 öffnet das Stuttgarter Ballett seine Pforten für die gemischten „New Works“, also für neue Tänze von Christian Spuck, Marco Goecke, Edward Clug und William Forsythe. Toll für Freunde des zappeligen, hibbeligen, flippigen, aber oft herzlosen Tanzes der Gegenwart mit Akrobatik-Zulage. Aus der Ferne kann die Premiere kostenfrei online als Live-Stream begutachtet werden – eine Errungenschaft, die man auch nach der Epidemie nicht aufgeben sollte.
Zuviel Werbung von ballettfremden Firmen bzw. Autofabrikanten trüben das Vergnügen am Streaming allerdings, egal aus welcher Stadt und für welche Company die Zweckentfremdung der Tanzkunst kommt.
Man möchte nicht das Gefühl haben, die Staatskultur werde von Konzernen missbraucht. Die Ballettcompagnien in Wien und Stuttgart stehen hier vor allem im Kreuzfeuer des kritischen Blicks, und zwar von einem durchaus großen Teil des Publikums. Das sollte man bei aller Feierfreudigkeit bedenken.
Gisela Sonnenburg