Liebe, Kampf und Verzicht Über die fulminante Premiere mit „Hamlet 21“ und einem ernsten Thema bei John Neumeier und dem Hamburg Ballett

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Ein bewegendes Drama auch über Mutter und Sohn: „Hamlet 21“ von John Neumeier, hier mit Alexandr Trusch und Hélène Bouchet vom Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Was ist Freiheit? – Das ist eine der essenziellen Fragen, die John Neumeier mit seiner jüngsten Premiere „Hamlet 21“ zur Eröffnung der 46. Hamburger Ballett-Tage aufwirft. Obwohl der eigentlich vorgesehene Hauptdarsteller Edvin Revazov gesundheitsbedingt ausfiel (von dieser Stelle aus gute Besserung!), wurde diese sechste Uraufführung eines „Hamlet“-Balletts von Neumeier zu einem Triumph der klug und maliziös eingesetzten Körperlichkeit. Ballett-Theater im modernen Sinn: So tiefsinnig der literarisch-mythische Stoff an sich schon ist, so fruchtbar geriet Neumeiers erneute Auseinandersetzung nicht nur mit William Shakespeares allgemein bekanntem „Hamlet“, sondern auch mit der hierzulande weniger berühmten und aus dem Mittelalter überlieferten Sage um einen Prinzen namens „Amletus“. Primoballerino Alexandr Trusch tanzt den dänischen Titelhelden mit soviel Verve und Vitalität, mit Sprungkraft und Sensibilität, dass man das Stück spätestens am nächsten Tag unbedingt noch einmal sehen möchte. Mit hervorragenden weiteren Protagonisten – mit Anna Laudere als erst kindlich-fröhlicher, dann versponnen-wirrer Ophelia, mit Ivan Urbans Polonius als Pauker im Frack, mit Hélène Bouchet als unschuldig-schuldig werdender, zu leicht verführbarer Geruth, mit Florian Pohl und Félix Paquet als dubiosem Bruderpaar, mit Christopher Evans als Fortinbras sowie mit Nicolas Gläsmann als dynamischem Sprecher auf der Bühne – und eben auch mit einem fantastisch eingestimmten Ensemble hat das Neumeier’sche Universum einen neuen Superplaneten dazugewonnen. Die Musik kommt vom britischen Komposophen Michael Tippett, die Ausstattung vom expressionistischen Puristen Klaus Hellenstein. Die Thematik speist sich aus der Mitte der Menschheit, ist auch vom Corona-Zeitalter geprägt – mit Politik und Liebe, Kampf und Verzicht als begleitenden Gestirnen. „Hamlet 21“ ist zugleich eine Referenz und eine kritische Zuwendung an unser Bildungssystem, das Stück reflektiert Machtgier und Mordlust ebenso wie Alltag und Ausnahme. Es gibt hier viel zu lernen über die Menschheit – und am Ende sind Tugenden wie Mitleid und Mut entscheidend.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Eine Familiengeschichte, die sich gar nicht mal so dramatisch anlässt, aber tragisch endet: Alexandr Trusch als Hamlet, Hélène Bouchet als Geruth und Florian Pohl als Horvendel in „Hamlet 21“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Vorab, beim Einlass, leuchtet die Bühne in nachgerade typisch dänischem Licht: in Seeblau, mit einem Stich ins Violette, aber anders als so oft bei Neumeier – von dem neben der Choreografie und Inszenierung auch das Lichtkonzept stammt – ist diese Stimmung nicht nachtdunkel, sondern morgenhell. Es ist ein richtiges Puderblau, das einen hier einstimmt auf Vorgänge, die zunächst noch so oft auf Hoffnung zu deuten scheinen, um dann doch wie zwangsläufig ins Tragische führen.

Für den Stückanfang wird es dunkel – und als das Licht wieder angeht, finden wir die Szenerie bereits bespielt vor.

Dieser Beginn bezeichnet eine Rahmenhandlung, die in Neumeiers mittlerweile 45-jähriger Hamlet-Auseinandersetzung ganz neu ist:

Eine Schultafel und eine altertümliche Schulbank deuten ein Klassenzimmer an. Polonius ist hier eine strenge Spielart  von Professor Unrat, der die beiden Jungs – Hamlet und seinen Gefährten Horatio, der hier später als Sprecher mit Mikrofon fungiert – anbrüllt und diszipliniert.

Der Pauker im Frack schreibt auch die Stichworte an die Tafel: „to be or not to be“ („Sein oder Nichtsein“) und „HAMLET“. Das Drama als Lehrstoff fürs Leben.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

„Hamlet 21“ ganz heutig: Ivan Urban als Pauker Polonius, Alexandr Trusch als Prinz Hamlet, Nicolas Gläsmann als Gefährte Horatio. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Aber ins geordnete Schülerleben bricht ein Alptraum ein: zu schräg-dissonanten Klängen zappeln drei Kumpels herein, die skurriler und doch gewöhnlicher nicht sein könnten. Aleix Martínez, David Rodriguez und Illia Zakrevskyi sind die „Gaukler“; jene Schauspieltruppe, die am Ende des Stücks eine Schlüsselrolle spielen wird – spielen ist hier ganz wörtlich gemeint.

Hamlet jedenfalls erahnt bei ihrem Anblick tiefere Schichten der Wahrheit, auch wenn er sich ihnen anschließt und sich ihrem scheinbar mühelos-akrobatischen Bewegungsfluss überlässt. Es ist, als wolle er ein letztes Mal die Kindheit als Quelle für Zuversicht auch im größten Chaos bemühen. Aber war nicht gerade die Kindheit auch der Quell aller traumatischen Erfahrungen?

Vorn an der Rampe liegt wie ein magisches Zeichen die Krone, das Symbol für die Macht und den gesellschaftlichen Aufstieg, ausgerechnet von Polonius dorthin gelegt. Er ist ein bisschen mysteriös, dieser Polonius, der hier einerseits ein vorgestrig einpeitschender Lehrer ist, andererseits irgendwie immer Recht hat. Ivan Urban wird dieser Polarität vollauf gerecht.

Der Prolog ist an sich schon so intensiv wie ein Mini-Drama, und er beinhaltet jene Konfliktfelder, um die es auch später gehen wird und aus denen die Mordmotivik der Rache und des Krieges entstehen: Herabsetzung, Unterordnung, Wissensdrang, Spieltrieb, Neugier – und das Infragestellen des einfachen Mitmachens, Mitlaufens, Sichtreibenlassens.

Man könnte auch sagen, dass dieses Vorspiel ein kurzes Psychogramm von Neumeiers Hamlet ist: Er ist ein junger Mann, der sich nicht zufrieden gibt mit vorgefertigten Antworten, sondern der aus einem inneren Bedürfnis heraus nach der Wahrheit in seinem Umfeld forscht.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Der Prinz und die Gaukler: David Rodriguez, Alexandr Trusch, Aleix Martínez und Illia Zakrevskyi in „Hamlet 21“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Interessant ist hierzu der Programmheft-Beitrag „Ein unbekannter Hamlet“, zitiert nach Heiko Uecker („Der nordische Hamleth“, Frankfurt / Main 2005). Dieser Auszug aus dem mittelalterlichen Werk „Gesta Danorum“ des dänischen Geschichtsschreibers und Gelehrten Saxo Grammaticus beschreibt einen Hamlet – im Original „Amletus“, bei John Neumeier zu „Amleth“ transformiert – der ganz anders ist als der von Shakespeare mit dem Totenkopf.

Der Ur-Hamlet, wenn man so sagen darf, hat nämlich eine rasante Vorgeschichte. Eben die bildet den ersten Akt von Neumeiers „Hamlet 21“.

Bei Saxo handelt es sich beim Prinzen zudem um einen typischen Hochbegabten, der von seiner Umwelt verkannt und belächelt wird. Amletus flüchtet von daher nicht erst, als er ein Verbrechen aufdecken will, in die Rolle des Narren, sondern wächst sozusagen organisch schon jung in die Position des schmutzigen Außenseiters.

Was später durch Shakespeare ein geflügeltes Wort wurde – „Es ist was faul im Staate Dänemark“ – hat seinen Ursprung darin, dass sich der abnormale Prinz, der sich langweilt, mit fauligem Kot beschmiert, wohl auch, um zu schockieren und abzuschrecken. Dieses Buhlen um Aufmerksamkeit entspringt allerdings seiner zwangsläufig unterdrückten Fähigkeit, die Verhaltensmuster seiner Umgebung haarscharf zu analysieren.

Die Bosheit seiner eigenen Sippschaft ist dabei nicht ausgenommen; aber mit List und Tatkraft rettet sich Amleth, findet in der Ferne eine passende Gattin und einen weiteren Wirkungskreis, um letztlich einen beispiellosen Rachefeldzug in der Heimat durchzuziehen. Was für ein anderer Hamlet, und wieviel grausamer als bei Shakespeare nimmt er sich schließlich das Recht heraus, über Tod und Leben zu entscheiden.

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Kein Kampfballett, sondern ballettöser Kampf: Christopher Evans und das Ensemble vom Hamburg Ballett zeigen in „Hamlet 21“, wie das geht. Foto: Kiran West

Sein erstes Mordopfer lässt er übrigens mit Kot beschmiert und zerstückelt von den Schweinen fressen. Die weiteren lässt er qualvoll und mit den Vorhängen gefesselt, die seine Mutter genäht hat, verbrennen. Berichterstatter Saxus empfiehlt ihn um 1200 unverhohlen für die Bewunderung – schließlich hat der Rächer seines ermordeten Vaters hier nach der Moral der Wikinger (denen der Mythos entstammt) nur mutig und schlau gehandelt.

Von solchen strategisch-rachlüsternen Taten ist Shakespeares zaudernder, philosophisch durchwirkter Hamlet fast vier Jahrhunderte später wirklich weit entfernt.

Weil der erste Akt von Neumeiers „Hamlet 21“ sich aber vor allem nach Saxos Erzählung richtet, ist hier die Geschichte von Amleths Mutter Geruth (nicht „Gertrude“ wie bei Shakespeare) interessant. Bei Shakespeare ist es die Vorgeschichte, die wir auf der Bühne nicht sehen. Aber im Gewirke der Sagenkreise ist gerade die Geschichte der Geruth bedeutsam.

Hélène Bouchet tanzt mit ihren überirdisch schönen Füßen und ihrem biegsamem Leib die Schöne aus edlem Geblüt, die zunächst zwei als Verbündete auftretenden Brüdern als Zeichen der Unterstützung tanzenderweise je ein schönes Schmuckband übergibt.

Unterstützung und Zuspruch sind dringend notwendig, denn die Brüder, beide als Statthalter im vom Vater geerbten Amt für Jütland (Dänemark) tätig, ziehen in den Krieg gegen die Norweger.

Mit mächtigen Sprüngen, mit wehenden Riesenflaggen, mit entschlossen-energischen Stampf- und Streckbewegungen kämpfen hier zwei Heere gegeneinander.

Faszinierenderweise schafft Neumeier es, und nicht zum ersten Mal, den Krieg weder verherrlichend noch als vernebelten Vorgang tänzerisch darzustellen. Er macht ihn vielmehr als Metapher für den Krieg des Lebens begreiflich.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Soldatentanz – ästhetisch und aufklärerisch, pazifistisch und ergreifend. So zu sehen in „Hamlet 21“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Um ein verwüstetes Schlachtfeld zu imaginieren, genügen zwei reglos mit angezogenen Knien am Boden liegende Jungs. Und um die Blindheit des Kampfgeistes zu zeigen, springen Fahnen tragende Soldaten begeistert im Halbkreis.

Jeweils zehn starke, aber auch vor Eleganz nur so strotzende Krieger bilden eine Truppe. Horatio im Pulli und Zivilhose tanzt dabei ohne weiteres bei den Dänen mit.

Christopher Evans in der Doppelrolle als König Koller von Norwegen und später als dessen Sohn Fortinbras ist aber der eigentliche, strahlende, fit trainierte, supergeschmeidige Siegertyp. Als Koller hat er Pech, wird von Horvendel, dem stärkeren Bruderpart, in der Schlacht erschlagen.

In rotgrünen Kostümen wirken die Norweger allerdings auch mitreißend sportiv – Neumeier verzichtet wohlweislich auf eine Parteinahme oder Dämonisierung.

Nur der Pauker Polonius stellt Weiß auf Schwarz an der Tafel fest, was diese fitten Tanzsoldaten sind: „Feinde“. Aus seiner Sicht in einem schier endlosen Machtspiel, das keine Rücksicht auf das Glück von Generationen nimmt. Siegerjustiz im Klassenzimmer.

Nicolas Gläsmann hat zudem die ehrenvolle Aufgabe, durch die Handlung zu führen. Mit dramatischer Stimme gelingt es ihm stets, eine Spannung aufzubauen.  Was man dann als Tanz sehen wird, beschreibt er kurz auf deutsch vorab mit Worten. Bertolt Brecht mit seiner Vorliebe für Verfremdung und Revue-Prinzipien auch bei tiefsinnigen Inhalten lässt grüßen!

Und so begreift man die Charaktere hier – die zudem oftmals phänotypisch für Machtmenschen stehen – umso besser.

Horvendel, als Militär mit technokratischem Einschlag sehr prägnant von Florian Pohl dargestellt, darf zum Lohn für seinen Sieg über Norwegen die schöne Geruth ehelichen und somit die Krone Dänemarks tragen.

Er wird König – und umfasst seine Braut wie eine wertvolle Beute: respektvoll, aber ohne Leidenschaft.

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Ein Paar der Macht wegen: Geruth alias Hélène Bouchet in den Armen von Horvendel alias Florian Pohl in „Hamlet 21“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Die Pas de deux von Horvendel und Geruth weisen sich durch diffizile Kommunikation aus, es ist ganz klar, wie herrschsüchtig der Mann und wie labil die Frau in einer solchen Konstellation sind.

Geruths Zuneigung gehörte ursprünglich Fenge, dem Bruder Horvendels. Und wenn die Brüder nebeneinander im Handstand stehen, wird ebenso klar wie bei ihren anderen Tänzen, wie verschieden sie sind: Fenge ist smart und geschmeidig, aber auch zierlich gegen den kraftvollen Hünen Horvendel, und er würde im Zweikampf wohl nicht bestehen. Aber Geruths Herz würde dennoch Fenge wählen, wäre sie nur frei dazu.

Freiheit gibt es woanders, nicht in diesem durchstrukturierten, von Hierarchien und Machtgelüsten bestimmten Jütland.

Geruth fügt sich mit disziplinierter Anmut in ihr Schicksal – und gebiert den Thronerben Hamlet mit einer liebevoll ausgeführten Pflicht. Horvendel, der auch mit überlangem Umhang den machtbewussten König zu tanzen vermag, lässt Mutter und Kind unter den Stoffmengen seiner Macht hervorrollen: eine majestätische, aber auch unmenschliche Geburt.

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Die Geburt von Hamlet aus dem Geist der Macht: Alexandr Trusch und Hélène Bouchet rollen unter dem Umhang von Florian Pohl hervor. So zu sehen in „Hamlet 21“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Alexandr Trusch tollt hier mit ursprünglich-kleinkindhaften Bewegungen über die Bühne, stets an der Mutter hängend. Später wird er im Schmerz über den Verlust des ermordeten Vaters auch mit ihr sprechen, „Mother! Mother! Mother!“ wird er brüllen, als habe man ihm das Herz bei lebendigem Leibe herausgerissen.

Jetzt aber scheint die unheilige Familie noch eine Chance zu haben.

Bemerkenswert sind auch die drei Hofdamen Yaiza Coll, Charlotte Larzelere und Yun-Su Park, die mit Grazie und Balance, mit exzellenter Linienführung und starkem Ausdruck illustrieren, wie die Stimmung bei Hofe gerade ist.

Die vornehm-modischen Kostüme, die sie tragen, vom lebensfrohen Mädelslook in Orange bishin zum raffinierten Trauerkleid frei nach Dior – im schulterfreien Cocktail-Format mit A-linenförmig ausgestelltem Rock  – machen bereits Lust, hinzusehen. Und der Tanz, grazil und synchron, lässt dann auch nichts zu wünschen übrig.

Und da ist Ophelia! Sie, etwa im selben Alter wie Hamlet, hüpft mit Anmut und Würde als kindhaftes Pferdeschwanz-Girl einher. Ein Strauß mit Wiesenblumen ist ihre ganze Freude, und als Hamlet die Blumen ganz dufte findet, ist sie fast erschrocken über seine beginnend männliche Art, ihr zu begegnen.

Doch bald setzt sie ihm einen Blumenkranz auf und vertraut ihm in den Pas de deux zunehmend ihre Seele an.

Anna Laudere mit ihren unglaublichen Beinen lässt sich rückwärts in der Arabeske von Hamlet im Kreis führen, mit ihrem Spitzenschuh auf dem Boden wie schwebend und doch wie dort ganz natürlich wachsend.

Man muss sagen, dass sie und der etwas kleinere Trusch ein vorzügliches Bühnenpaar abgeben! Gerade von der Ausstrahlung her ergänzen sie sich in einer reizvollen Spannung: Er, der kraftvoll-anmutige Hypergeschmeidige, und sie, eine Königin der Eleganz.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Ein absolut beglückendes Bühnenpaar: Anna Laudere und Alexandr Trusch, hier als Ophelia und Hamlet in „Hamlet 21“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Schon in Neumeiers „Othello“ vor einigen Jahren fiel das auf, als er Cassius tanzte und sie Desdemona, was in einem furiosen Pas de deux gipfelte.

Unbedingt möchte man dieses Paar öfters gemeinsam tanzen sehen – zumal es politisch außerordentlich wichtig ist, dass das Publikum sich daran gewöhnt, dass auch die Frau auf den Mann sozusagen einfach mal herabsehen darf, weil sie nun mal größer gewachsen ist.

Wo kommen wir denn dahin, wenn wir darauf verzichten? – Längere Körpergröße als Zeichen von Männlichkeit und ein paar Zentimeter weniger als Kennzeichen für Weiblichkeit – dieses simple Denken dürfte in Zeiten der Ideale von Emanzipation und Gleichstellung wirklich überholt sein.

Und Trusch und Laudere beweisen aufs Schönste, wie edel und erotisch ein Paar wirkt, bei dem die Dame größer ist, der Mann aber dennoch ohne Komplexe oder Schwächen seinen Part voll erfüllt.

Hebungen und Drehungen, Schleifen und Halten – all das funktioniert so wonnevoll und leichthin bei den beiden, dass man sich kaum sattsehen kann und jedes Ende eines Pas de deux außerordentlich bedauert.

Die Kontrastszene ist aber auch wichtig: Fortinbras, noch ein Kind, trainiert in Norwegen mit den Kriegern, um seinen getöteten Vater zu rächen. Da braut sich was zusammen, mit Fitness und hohen Sprüngen! Und auch mit dem Gefühl der notwendigen Taten, seien sie berechtigt und richtig oder überzogen und verderblich.

Rache kann auf Rache folgen, ohne dass Gerechtigkeit entsteht. Das Prinzip der Einigung, das des Friedens, sieht nun mal anders aus.

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Verführung zum Ehebruch: Hélène Bouchet als Geruth kann Félix Paquet als Fenge in „Hamlet 21“ nicht widerstehen. Foto: Kiran West

Aber auch ein dritter Handlungsstrang ist bedeutend: Fenge, vereinnahmend-schön von Félix Paquet getanzt, den man wegen seiner Agilität auch „die Katze“ nennen darf, macht sich erfolgreich an Geruth, die Gattin seines Bruders, heran.

Man sieht, dass es dabei auch ihm um Rache geht, um ganz persönliche Rache, auch um ausgelebten Neid, denn sein Bruder hatte im Grunde nur Glück mit dem Sieg, der eigentlich auch ihm zugestanden hätte.

Und gehört ihm nicht ohnehin seit langem das Herz der prachtvollen Geruth?

Im Gestänge der Macht, symbolisiert von hochkant stehenden Gestellen, versucht diese noch, der Verführung durch ihn zu widerstehen – umsonst.

Heftige Leidenschaft prägt den Pas de deux der beiden, wild bäumen sich die Liebenden auf, und man sieht, wie beglückend es trotz mieser Umstände ist, endlich Liebe und Passion zu finden. Das fragwürdige Glück des Ehebruchs – es hat unter bestimmten Gegebenheiten eben nicht nur seine Gründe, sondern auch seine Berechtigung.

Die emotionale Wärme und die hitzige Leidenschaft, die hier bei diesem nicht mehr unerfahrenen Paar brodeln, sind meisterhaft in Szene gesetzt.

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Hélène Bouchet als Geruth in den nicht nur liebevollen Armen von Félix Paquet als Fenge: Der Mörder seines Bruders strebt an die Macht. Foto aus „Hamlet 21“ von John Neumeier: Kiran West

Für die jungen Leute Hamlet und Ophelia dräut derweil der Abschied. Ihn zieht es nach Wittenberge, in die Universitätsstadt, was von Shakespeare übernommen ist, nicht von den Wikingern.

Eben noch ist der Tanz des jungen Liebespaares spielerisch und glücklich, da bricht die Ahnung von Tragik über die beiden herein. Hamlets gepackte Koffer werden in Zeitlupe hinausgetragen, während er sich noch der Illusion hingibt, man könne mal eben weggehen und doch würde alles so bleiben, wie es ist.

Es ist erschütternd zu sehen, wie traurig dieser Abschied nicht im sentimentalen, sondern im handlungsweisenden Sinne ist.

Und unendlich viel Mitleid erfasst einen, wenn man an das Gefüge der unerbittlichen Machtkämpfe denkt, die dieses Pärchen wie einen Käfig umgeben. Noch wissen sie nicht, wie rasch ihr Glück daran zerschellen wird.

Dieser Pas de deux zum Abschied von Hamlet und Ophelia ist berühmt. Er ist für Galas geeignet und für Ballett-Werkstätten, und er ist auch zentral in „The World of John Neumeier“, jener Jubiläums-Show, die Neumeier im Hinblick auf seinen 80. Geburtstag kreierte.

Vor allem aber ist er die nonchalante Überleitung zum zweiten Teil von „Hamlet 21“. Denn ab jetzt übernimmt die Shakespeare’sche Dramaturgie das Denken im Stück.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Die Stimmung bei Hofe ist noch stabil: Hélène Bouchet, Florian Pohl, Félix Paquet sowie Charlotte Larzelere, Yaiza Coll und Yun-Su Park mit dem Ensemble vom Hamburg Ballett in „Hamlet 21“. Foto: Kiran West

Die Musik und die Choreografie verbinden aber ohnehin beide Teile. Komponist Michael Tippett gilt als Philosoph unter den britischen Komponisten und ließ sich ausgerechnet von dem Dramatiker und Lyriker T. S. Eliot als selbstgewähltem künstlerischen Mentor besonders inspirieren. Dabei war er – im Gegensatz zu Eliot – zeitweise dem Kommunismus zugeneigt.  Vor allem aber war er homosexuell, was von 1905 bis 1998, also im Lebenszeitraum von Tippett gesellschaftlich wirklich nicht leicht war.

Seine Musik erzählt von seinen Kämpfen und seinem Ringen. Als Kriegsdienstverweigerer hatte er sich außerordentlich mit dem Krieg als Phänomen beschäftigt. Seine Musik, zumal seine Sinfonie Nr. 2 von 1958, die John Neumeier für den ersten Akt seines Hamlets verwendet, zeugt das mit starkem Impetus. Violinen dürfen da zwar Melodien singen, aber die Brüche in der Welt, die stets drohende Disharmonie und Atonalität gehen darüber nicht verlustig.

Umso süßer, manchmal auch bittersüß muten die frohgemuten Passagen in Tippetts Werken an.

Fast ist es schade, dass die Musik hier vom Band kommt. Aber dafür sehen wir eine Präzision der Tänzerinnen und Tänzer, die bei so schwieriger Musik mit Live-Begleitung wohl nur schwerlich zu erreichen wäre. Zumal ihre synthetische Verfremdungen mit dem klassischen Orchesterspiel auch nicht ohne weiteres zu vereinen sind.

Im übrigen quäkt diese Musik niemals nervend im Ohr, sie verfolgt einen nicht mit ihrer Penetranz und sie drängt sich auch nicht als gewollt modern auf. Sie hat nur schlicht Programmcharakter, was für Ballett außerordentlich wirksam ist.

In der Pause dürfen in zwei Foyer-Bars Getränke genossen werden – kaum zu fassen, dass man so etwas als Attraktion anpreisen muss. Aber in Corona-Zeiten ist es wichtig zu zeigen, wo Normalität herrscht.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Im ersten Teil sieht Vieles noch so fröhlich aus: Hélène Bouchet, Florian Pohl und Félix Paquet in „Hamlet 21“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Wer auf Nummer sicher gehen möchte, darf aber auch auf seinem Platz bleiben und die Ruhe im Zuschauersaal genießen. Das Programmheft ist allemal spannend genug – ebenso das just eben erschienene Jahrbuch vom Hamburg Ballett – um anregende Lektüre zu bieten.

Der zweite Akt bedeutet dann den Abstieg der hamleteischen Dynastie und den Aufstieg von Fortinbras.

Er beginnt mit der Rückkehr von Hamlet aus Wittenberge – allerdings aus traurigem Anlass. Sein Vater Horvendel verstarb, die Beerdigung steht an.

Überraschenderweise soll noch am selben Tag die Hochzeit von Fenge mit Geruth stattfinden. Unter ihrem schwarzen Trauergewand aus Crepe-de-Chine prangt ein gelb-schwarz gemustertes Cocktailkleid.

Hamlet ist entsetzt.

Die Feierlichkeiten sind durchwoben von Ungereimtheiten. Fällt denn niemandem auf, dass hier etwas riecht? Was soll diese überstürzte Neuvermählung? War es nicht Mord, der Horvendel dahinraffte?

Hamlet besucht das Grab seines Vaters, und dieser Trauerbesuch wirkt wie ein Ausritt in ein fernes Nebelland.

Unter der schlichten lehnenlosen Bank, die das Grab symbolisiert, kriecht ein Geist hervor: Horvendel, Hamlets Vater, in seiner weißen Uniform. Er becirct den Sohn, er vereinnahmt ihn. Er lässt ihn nicht los. Er hält den Knöchel von Hamlet umklammert, er steht auf und suggeriert mit gespreizten Fingern Gedanken in Hamlets Kopf. Er fasst ihn an, er lenkt ihn in eine bestimmte Richtung – er macht ihn verrückt.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Der Geist von Horvendel verrückt Hamlet den Verstand: Alexandr Trusch als „Hamlet 21“ und Florian Pohl als Geist. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Das ist das Einzigartige von Neumeiers Hamlet-Rezeption: Der junge Däne wird nicht als philosophisch überlegenes Instrument des Schicksals gezeigt, sondern als verwirrtes, aus einer Notlage heraus handelndes, absolut verzweifeltes Opfer.

Dieser Männer-Pas-de-deux von Vater und Sohn ist angefüllt mit Griffen und Hebungen, die Anspielungen auf andere Mittelalter-Ballette von Neumeier enthalten – wie „Parzival – Episoden und Echo“ und die „Artus-Sage“, aber auch die Kurzballette „Einhorn“ und „Tristan“ kommen einem in den Sinn – und er gehört zum Besten, was die Ballettgeschichte je hervorbrachte.

Die komplizierten Regungen und konträren Interessenslagen hier kollidieren und verschmelzen zugleich.

Horvendel will den Sohn aufstacheln und antreiben, er will seine Rache und denkt nicht an das Wohl des Sohnes. Hamlet wiederum fühlt, dass er seine Identität, seine Existenz, sein Glück riskiert und sogar opfert, wenn er sich dem Willen des Vaters beugt, um dessen posthume Anerkennung zu ernten.

Die Bedeutung der Männerbünde an sich hat in solchen Konstellationen ihren Ursprung. Das ist wahre patriarchale Macht – sie geht sogar noch über jede Vernunft bezüglich der eigenen Nachkommenschaft weit hinaus.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Irre für die Wahrheit: Alexandr Trusch als „Hamlet 21“ erfährt vom Geist des Vaters (Florian Pohl) vom Mord durch Fenge. Foto: Kiran West

Dafür erhält der neugierige Hamlet die Wahrheit wie auf dem Silbertablett vom Geist serviert: Fenge war der Mörder von Horvendel. Um die schöne Geruth zu heiraten und damit die Krone Jütlands zu übernehmen, brachte er seinen Bruder um, von Neid und Hass und Gier erfüllt.

Ja, das schreit nach Rache. Aber muss ein Hamlet nicht auch an sich und Ophelia denken? An die Zukunft seines Volkes und an die Werte des Friedens?

Er ist – das ist drastisch zu sehen – in den Fängen seines toten Vaters. Sein Untergang wird unvermeidlich. Die Rachsucht wird zur Selbstverleugnung.

Hamlets Beziehungen zu den weiblichen Personen, die für ihn „die Welt“ bedeuten, leiden sofort unter seiner neuen Besessenheit.

Geruth kann und will ihm nicht folgen, als er sie beschimpft, ihr Vorwürfe macht, sie anklagend anbrüllt: „Mother! Mother! Mother!“ Wie ein gequältes Tier schreit Hamlet das schmerzvoll hinaus, noch in den Kulissen und auch als wiederkehrender Rasender.

Und dann erst die arme Ophelia! Sie ahnt nicht, was ihn bewegt, als er sie grob anfasst und sie sich an Stelle seiner Mutter gefügig machen will.

Liebe geht anders. Das müsste er wissen.

Polonius greift kurz ein – aber zu retten ist diese Beziehung nicht mehr.

Ophelia umtänzelt ihren Hamlet noch einmal, versucht, zur alten Vertrautheit zurückzufinden. Umsonst. Er ist für sie nicht mehr innerlich zu erreichen.

War das die große Liebe, auf die sie gewartet hat?

Die Stimmung bei Hofe kippt, wird schräg, skurril, alptraumhaft.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Anna Laudere als Ophelia in „Hamlet 21“ von John Neumeier vor dem Bild „Die große Welle vor Kanagawa“ – ein Tsunami als Sinnbild fürs Wahnsinnige. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Ophelia flüchtet in Wahnsinn, tanzt mit einem Reisigbündel wie mit einem Liebhaber oder einem Kind, wie mit einem gegenständlichen Lebenssinn – und hinter ihr wird „Die große Welle vor Kanagawa“, auf diesem berühmten japanischen Gemälde zu sehen, einfach zusammenschwappen und sie unter sich begraben.

Hamlet trauert um den Leichnam seiner Liebsten – hilflos und folgenlos. Er erkennt nicht, wie sehr er sich verrennt.

Er kennt nur noch das eine Ziel: Rache.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Alexandr Trusch als „Hamlet 21“ zeigt, wie Horvendel seinen Bruder ermordet hat. Ein Spiel im Spiel, fast rasant, so schnell geht es vorbei – und hat doch starke Folgen. Foto: Kiran West vom Hamburg Ballett

Da kommen ihm die drei Gaukler, die Statthalter aller Traumata, gerade recht.

Er engagiert sie. Und spielt selbst mit. Er stellt sich hin und führt vor, wie Horvendel von Fenge umgebracht wurde: mit dem Band von Geruth wird er erdrosselt, als er wehrlos schläft.

Fenge ist entlarvt. In einem wilden Tanz bringt Hamlet ihn um.

Und schon marschiert Fortinbras, mittlerweile ein junger Mann mit demselben Siegerhabitus wie einst sein Vater, herein. Perfektes Timing macht den Gewinner.

Die Truppe von Fortinbras hat ein leichtes Spiel in Jütland.

Und Hamlet kämpft nicht mal. Das hat historische Gründe in der dänischen Geschichte: Die Dänen neigten bisher nicht zur übermäßigen Gegenwehr, wenn sie besetzt wurden.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Alexandr Trusch als „Hamlet 21“ setzt Christopher Evans als Fortinbras bereitwillig die Krone auf. Wer ist nun wirklich frei? Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Als würde er damit Gerechtigkeit herstellen, setzt Hamlet dem strahlenden Fortinbras die Krone auf. Du, Gewinner, sollst nun herrschen!

Hamlet mag sich frei fühlen. Frei von Verantwortung. Aber auch frei von Glück. Frei von Zwängen. Aber auch frei von Macht. Er taumelt… und fällt hin.

Er erwacht im Klassenzimmer, wo sein Kumpel Horatio ihn gleich wieder schlafen schickt. „Good night! Sweet dreams, Prince!“ Gute Nacht und süße Träume, lieber Prinz!

Fast zynisch klingt das Geleit an den verlorenen Prinzen, der nurmehr in seinen Träumen eine Ophelia haben wird. Von einer Krone ganz zu schweigen.

Er hat – im Gegensatz zu Shakespeares Hamlet, der noch viel blindwütiger auf Rache sinnt und daran auch selbst stirbt – sein Leben gerettet. Aber hat er eine Zukunft?

Merke: Folge nicht dem falschen Weg, den der Patriarch dir weist. Gerechtigkeit ist nicht gleich Rache! Oder auch: Sei so gut und suche selbst nach zeitgemäßen Lösungen!

Das ist der historische Fortschritt zu Saxo und auch zu Shakespeare, den John Neumeier hier vollzieht. Er ermöglicht eine Deutung im Sinne des Vorankommens – und eben nicht nur im Sinne des Lamentos.

Zu danken ist übrigens auch dieser Kettenraucherin Margarethe II. von Dänemark. Die immer noch aktuelle dänische Monarchin, eine durchaus unkonventionelle Person mit viel Instinkt für Kunst und Mode, bestellte und bekam bereits 1985 bei John Neumeier ein abendfüllendes „Hamlet“-Ballett , das er dann „Amleth“ nannte und das in seiner Hamburger Version bereits mit den Bühnenkulissen und Kostümen von Klaus Hellenstein brillierte.

Beim Königlich Dänischen Ballett in Kopenhagen wurde mit „Amleth“ das frisch renovierte Opernhaus neu eröffnet. Neumeier hätte sich sonst vielleicht nie mit den Quellen des Stoffs aus dänischer Sicht beschäftigt. Saxo Grammaticus wird in der gesamtabendländischen Literaturgeschichte wahrscheinlich stark unterschätzt. Oder er steht schlicht im Schatten Shakespeares, dessen „Hamlet“ kurz nach 1600 entstand und eine beispiellose Karriere durch die christlich geprägte Geistesgeschichte vollzog.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Der Epilog findet wieder im Klassenzimmer statt: Alexandr Trusch, Nicolas Gläsmann und Ivan Urban am Ende von „Hamlet 21“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Die Sache mit dem Monolog „Sein oder Nichtsein“ mit dem Totenschädel in der Hand hat Neumeier aber ad acta gelegt. Sein Hamlet ist kein „sophisticated student“. Sondern ein an sich abenteuerlustiger, neugieriger junger Mann mit einem Gespür fürs Jenseitige.

In der Machtwelt von heute, Pardon, von damals hat er damit keine guten Aussichten, wie man sieht.

Als John Neumeier begann, Hamlet für die Ballettbühne zu denken, war kein Geringerer als der damalige Superstar Mikhail Baryshnikov der Ideenstifter. „Misha“ wollte unbedingt den Hamlet machen. Der hoffnungsvolle choreografische Jungstar Neumeier kam ihm da gerade recht.

Neumeier wählte zunächst amerikanische Klassik als Musik, die „Connotations for orchestra“ von Aaron Copeland. 1976 premierte das Stück in New York City. Marcia Haydée holte es nach Stuttgart. Dort premierte eine geänderte Version, die die psychologischen Vorgänge vertiefte.

Dann kamen die Dänen, 1985. 1997 wurde daraus eine erste Hamburger Fassung.

2013 lernte Neumeiers „Hamlet“ erstmals sprechen: Als Teilstück im Reigen der „Shakespeare Dances“, die von dem unvergesslichen Carsten Jung wie von einem Conférencier sprechend begleitet wurden.

Und jetzt ist mit „Hamlet 21“ ein weiterer Meilenstein der Ballettgeschichte erreicht: Es handelt sich dank der Rahmenhandlung um feinstes Ballett-Theater, das verschiedene Strukturen der Geschichtsschreibung miteinander zu verbinden weiß.

Streit im Klassenzimmer

Telramund (Wolfgang Koch) am Boden, die verzankten Freundinnen Elsa (Ann Petersen) und Ortrud (Tanja Ariane Baumgartner) auf der Schulbank: So zu sehen und zu hören im bravourösen „Lohengrin“ von Peter Konwitschny in Hamburg. Foto: Arno Declair

Inspiriert sein könnte dieses Klassenzimmer-Szenario von der „Lohengrin“-Inszenierung von Peter Konwitschny, die etwa zu Weihnachten 2019 an der Hamburgischen Staatsoper unvergesslicherweise mit Klaus Florian „Lohengrin“ Vogt zu erleben war (was hier im Ballett-Journal genauestens nachzulesen ist).

Ob und wann sich John Neumeier erneut mit „Hamlet“ und Konsorten beschäftigen wird, bleibt abzuwarten. Zunächst verneigen wir uns dankbar für soviel Intellekt bei soviel Sinnlichkeit – und freuen uns auf die nächste Aufführung.

Als nächste DVDs wird allerdings „Ein Sommernachtstraum“ vom Hamburg Ballett  kommen – endlich, endlich, endlich! – und dann wohl das „Beethoven-Projekt II“, in logischer Ergänzung zum bereits auf silberne Scheiben gebannten „Beethoven-Projekt I“.

Aber vielleicht kommt irgendwann ein Neumeier-Shakespeare-Zyklus in einer DVD/BluRay-Collection – und dann wird man sich sonntags nie wieder langweilen.

Bis dahin gehören die schönsten Sonntage den besonderen Events beim Hamburg Ballett, mit dem John Neumeier angesichts des Lockdowns schier unglaubliche vierzehn Programme in Folge als Festival mit den 46. Hamburger Ballett-Tagen zu präsentieren weiß. Wow.

Absolut wow!

Also: Nicht zuviel davon verpassen! Und bitte nicht zu ängstlich sein: Man geht und sitzt mit soviel Abstand, Höflichkeit und Ruhe in der Hamburgischen Staatsoper, dass eine Infektion wissenschaftlich gesehen nicht wirklich möglich erscheint. Zumal ja alle, die Einlass erhalten, getestet, geimpft oder genesen sind.

Man sollte das Leben nicht vernachlässigen, nur weil es gefährlicher erscheint als es ist.

"Hamlet 21" von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Beziehungen mit Geistfaktor: Alexandr Trusch, Hélène Bouchet und Florian Pohl in „Hamlet 21“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Hier ist auch mal ein schönes polnisches Sprichwort angemessen: „Der Teufel ist nicht so schwarz, wie man ihn malt.“

Die Corona-Epidemie hat uns wirklich lange genug das Kulturleben versaut. Wir haben Monate der Abstinenz durchgehalten. Zu Recht – und zu Recht kann das belohnt werden.

Denn jetzt wird das Infektionsgeschehen auch dank der kostenlosen Tests allerorten endlich beherrschbar – und wenn man sich an die Schutzmaßnahmen hält und bitte auch die Hände immer erst brav mit Seife wäscht oder desinfiziert, bevor man sie zum Nasenmund-Bereich führt, sollte man die Kunst nicht länger mit Verachtung strafen.

Die Tänzerinnen und Tänzer haben es verdient, bejubelt zu werden – und John Neumeier gehört für seinen Mut, sein diesjähriges Festival mit einem so wichtigen, ernsthaften Thema zu beginnen, ein Extra-Preis verliehen.

Die von seiner Hamlet-Arbeit besonders berührten Dänen haben von seinem Talent viel verstanden und ihm just im Mai 2021 die Ehrenmedaille „Ingenio et arti“ verliehen. Man mag die Premiere von „Hamlet 21“ von daher auch als würdevolle Antwort auf diese Ehrung verstehen, unabhängig davon, dass sie ursprünglich schon für März 2020 geplant war.

Was hat Deutschland für ein Glück mit diesem Tanzschöpfer!

Wir wünschen allen, die es angeht, wunderbare Ballett-Tage in Hamburg – und dem Rest der Welt weniger Borniertheit und weniger Scheu vor den wirklich wichtigen Fragen.
Gisela Sonnenburg

"Giselle" died the last time with Staatsballett Berlin

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